Militärjustiz: Ein zentraler politischer Konflikt in der Geschichte der Bundesrepublik
Von Rolf Surmann
Vortrag von Rolf Surmann bei der Mitgliederversammlung der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz. *
Aktuelle Lage
Nach der Bundestagswahl 2009 vereinbarten CDU/CSU und FDP in ihrem
Koalitionsvertrag, eine „zentrale Zuständigkeit für die Verfolgung der Straftaten der
Soldaten . . . im Ausland“ zu schaffen. Schon wenige Monate später wurde ein
Referentenentwurf vorgelegt, über dessen Einzelheiten seitdem diskutiert wird. Es
kann davon ausgegangen werden, dass diese „Zuständigkeit“ noch in der laufenden
Legislaturperiode institutionalisiert wird.
Seit der Beteiligung Deutschlands am Jugoslawienkrieg und nachfolgenden
sogenannten Auslandseinsätzen ist die veränderte Aufgabenstellung der Bundeswehr
nach dem Ende des „Kalten Kriegs“ auch in praktischer Hinsicht deutlich geworden.
Verschiedene Vorkommnisse bei den militärischen Interventionen im Ausland waren
der Anlass zur Einleitung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen. In Somalia wurde
zum Beispiel 1994 ein Somali beim Überwinden des Zauns eines Bundeswehrlagers
von einem Bundeswehrsoldaten erschossen. 1997 starben in Bosnien-Herzegowina
zwei Soldaten in einem Transportpanzer durch einen Feuerstoß, der kurz vor der
gemeinsamen Patrouille von einem dahinter stehenden Spähpanzer abgegeben
worden war. 2006 wiederum gingen Fotos von Bundeswehrsoldaten durch die Presse,
die mit menschlichen Knochen posierten.
Um in solchen Fällen zügig handeln zu können, war zwischen dem
Heeresführungskommando und der Staatsanwaltschaft Koblenz die Vereinbarung
getroffen worden, dass diese Fälle im Rahmen einer „Eilzuständigkeitslösung“
zunächst an die Staatsanwaltschaft Koblenz gehen sollten, die im Eilverfahren
entsprechend dem Wohnsitz des Beschuldigten die zuständige – zivile -
Staatsanwaltschaft zu ermitteln hat, um dann das Verfahren an diese abgeben zu
können. Die Festlegung im Koalitionsvertrag ist als Kritik an dieser Regelung zu betrachten.
Aktuell wird über unterschiedliche Modelle diskutiert, die nach Meinung der Kritiker
durch eine Zentralisierung der Verfahren eine schnellere Bearbeitung und mehr
Fachkompetenz sicherstellen sollen. Laut Referentenentwurf sollen Tötungsdelikte
nach dem 2002 eingeführten Völkerstrafgesetzbuch von der Bundesanwaltschaft in
Karlsruhe bearbeitet werden, die anderen Fälle nicht mehr vom zuständigen Gericht
am Wohnort der Beschuldigten, sondern zentral von einem dauerhaft zuständigen
Zivilgericht. Über den Standort selbst ist noch keine Entscheidung gefallen.
Ursprünglich war Potsdam vorgesehen, weil dort das Einsatzführungskommando der
Bundeswehr seinen Sitz hat. Im jetzigen Entwurf ist jedoch von Leipzig die Rede, wo
das Bundesverwaltungsgericht mit zwei Wehrsenaten angesiedelt ist. Außerdem hat
der saarländische Ministerpräsident Peter Müller einen Entwurf in den Bundesrat
eingebracht, der auf die Bearbeitung aller Verfahren in Karlsruhe abzielt.
Einige Fachorganisationen wie der Deutsche Anwaltsverein haben sich prinzipiell
gegen diese Pläne ausgesprochen. Sie begründen ihre Ablehnung mit dem Hinweis,
dass den Gerichten immer schon Fachkenntnisse für unterschiedlichste Verfahren
abgefordert würden – als Beispiel hierfür werden oft die Verfahren mit medizinischem
Hintergrund angeführt -, eine Sonderregelung für Soldaten sei deshalb nicht erforderlich und auch nicht nachvollziehbar. Hier handelt es sich also um das bekannte
grundsätzliche Plädoyer für ein zivilrechtliches Verfahren. In der Regel wird die
Begründung der Regierung für die Neuorganisation der militärischen Strafverfolgung
jedoch akzeptiert und Zufriedenheit darüber geäußert, dass es lediglich um eine
spezialisierte Tätigkeit normaler Richter und Staatsanwälte gehe. Als Parallele wird
gerne auf die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften etwa bei
Steuerangelegenheiten verwiesen. Eine solche Argumentation muss nicht unbedingt
auf die Befürwortung einer militärischen Sonderjustiz hinauslaufen, doch wird in der
intendierten institutionellen und personellen Neuordnung zumindest die qualitative
Dimension der Veränderung in Abrede gestellt. Insgesamt hat sich bisher keine
Diskussion entwickelt, die insbesondere größere Teile der Gesellschaft einbezogen
hätte. Sie ist bisher im wesentlichen eine technokratisch geprägte Spezialistendebatte
geblieben. Dies ist umso erstaunlicher, als die Auseinandersetzung über Militärjustiz
beinahe die gesamte Geschichte der Bundesrepublik durchzieht und großes
öffentliches Aufsehen erregt hat. Ein Rückblick auf diese Debatte ist über diese
formalen Unterschiede hinaus aufschlußreich für die Beurteilung der aktuellen
Meinungsdivergenzen.
Erste Phase: Ambivalente Restauration
Mit den Plänen für eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft und dann mit der
Gründung der Bundeswehr kamen Überlegungen auf, eine zentrale Militärjustiz
einzurichten. Sie führten 1956 zu einer Ergänzung des Grundgesetzes durch den
Artikel 96 a. Die vorbereitenden Diskussionen fanden im Ausschuss für Verteidigung
und im federführenden Ausschuss für Rechtswesen statt. Das Konzept der Regierung
wird an einem Redebeitrag des ersten Bundesverteidigungsministers deutlich. Theodor
Blank erklärte 1955 im Bundestag: „(…) die Wehrstrafgerichtsbarkeit wird zunächst
durch die ordentlichen Strafgerichte auszuüben sein (…) Es kann dahingestellt bleiben,
ob man sich zu einer eigenen Militärgerichtsbarkeit des Bundes, für die mancherlei
Gründe sprechen, später entschließen wird. Dazu müsste das Grundgesetz ergänzt
werden. Auch in diesem Fall würde eine Militärgerichtsbarkeit mit Eingliederung in
militärische Stäbe, in der einem militärischen Gerichtsherrn maßgebender Einfluss
zustand, nicht wiederkehren. Vielmehr würden unabhängige zivile Berufsrichter in den
Gerichten vorsitzen.“
Hier wird zweierlei deutlich. Zunächst muss konstatiert werden, daß man wie selbstverständlich
von einer Wiedereinführung der Militärjustiz ausging. Doch sollte die
simple Neueinführung der alten Militärjustiz explizit vermieden werden. Vermutlich
wäre dies auch gesellschaftlich nicht durchsetzbar gewesen. Ähnlich wie bei der
Gründung der Bundeswehr war man durch die Berücksichtigung gewisser
Reformkonzepte – Stichwort: Bürger in Uniform – darauf bedacht, sich vom alten
militärischen Komplex abzugrenzen. Außerdem zog man in Erwägung, sie nicht
dauerhaft einzurichten, sondern nur auf Kriegszeiten beschränkt.
Im Verteidigungsausschuss, der zusammen mit dem federführenden Rechtsausschuss
die Plenumsentscheidung vorbereitete, wurde vor allem über drei Fragen
kontrovers diskutiert, wobei traditionelle Positionen schon eindeutiger zum Tragen
kamen. Zum einen kritisierten Abgeordnete aus den Reihen von CDU und CSU die
Beschränkung auf eine fakultative Regelung und Erwägungen, diese Justiz auf Kriegszeiten
einzugrenzen. Sie müsse rechtzeitig eingeübt werden, um im Kriegsfall
richterliches Unvermögen und vielleicht sogar ein Rechtschaos zu vermeiden, trugen
sie als Einwand vor. Auch gab es CDU/CSU-Abgeordnete, die zivile Richter ablehnten
und nach dem Vorbild des traditionellen Gerichtsherrn zumindest eine Militärgerichtsbarkeit
mit Richtern forderten, deren zentrales Merkmal Truppenerfahrung und entsprechende militärische Verbundenheit sei. Folgerichtig kam es auch zu Differenzen
über die Frage, ob die Militärjustiz dem Verteidigungs- oder dem Justizministerium
unterstellt sein solle. Eine Mittelposition nahm der Vertreter des Bundesverteidigungsministeriums
Dr. Barth mit der Feststellung ein, „daß das, was wir unter dem
Staatsbürger in Uniform verstehen und woran wir auch bisher mit aller Zähigkeit
festgehalten haben, am besten und am sichersten in die Wirklichkeit umgesetzt wird,
wenn wir Gerichte haben, die zwar völlig unabhängig sind, sich aber infolge ihrer Nähe
zu den Streitkräften in deren neuen Geist so einfühlen können, daß ihnen die Grundsätze
des inneren Gefüges in Fleisch und Blut übergehen“. Sein zentrales Anliegen ist
also das „Einfühlungsvermögen“ der Gerichte, das durch – wie er formulierte – ihre
„Nähe zu den Streitkräften“ erreicht werden sollte, wobei ihm deren formaler Status
sekundär erscheint. Erstaunlich ist an dieser Formulierung, daß er damit schon den
50er Jahren den Grundgedanken der heutigen Bestrebungen vorwegnimmt.
Allgemein ablehnend verhielt sich die SPD-Opposition. So sprach sich der spätere
Bundeskanzler Helmut Schmidt gegen die Option auf eine Militärjustiz mit der
Begründung aus, wenn man die Gerichte jetzt nicht dringend brauche, sei es falsch,
sie für die Zukunft prinzipiell zu ermöglichen, weil dann mit ihrem Aufbau vermutlich
unverzüglich begonnen werde. Allerdings lehnte er ihre Einrichtung für den
Verteidigungsfall nicht ab, wies aber darauf hin, dass die deutschen Militärgerichte in
einem schlechten Ruf stünden und in der Bevölkerung große Skepsis ihnen gegenüber
herrsche. Der Abgeordnete Carlo Schmid betonte, die unterschiedliche Behandlung
von Bürger und Soldat vor Gericht sei eine „negative Privilegierung“ und ein Abrücken
vom Leitbild des Soldaten als „Bürger in Uniform“. Fritz Erler weitete dieses Argument
schließlich zu einer Warnung vor der Abtrennung des Militärs vom allgemeinen Recht
und letztlich vor dem Entstehen eines „Staates im Staat“ aus. Damit schlug er einen
Bogen, der letztlich bis zum Erfurter Programm seiner Partei aus dem Jahre 1891und
zu Debatten im Preußischen Abgeordnetenhaus reichte, in denen die Sozialdemokraten
in der Militärgerichtsbarkeit einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz
sahen und deshalb deren Abschaffung forderten. In der Position der SPD
mischten sich also grundsätzliche und pragmatische Argumente.
Nachdem im Rechtsausschuss insbesondere über die zeitlich unbegrenzte
Einrichtung einer Militärjustiz diskutiert worden war, kam es nach der über den
Bundesrat eingebrachten „Niedersachsenklausel“ zu einem Kompromiss. Der
beschlossene Artikel 96 a GG ermöglicht – knapp formuliert – die fakultative
Zulassung von Wehrstrafgerichten des Bundes für die Streitkräfte im Verteidigungsfall,
zudem für dessen Angehörige im Auslandseinsatz und an Bord von Kriegsschiffen. Die
nähere Ausgestaltung soll durch ein Bundesgesetz geregelt werden. Für diesen Fall
formulierte man die Vorgaben, dass die Gerichte dem Bundesjustizministerium
zugeordnet werden, ihre hauptamtlichen Richter die Befähigung zum Richteramt
haben müssen und als Oberes Bundesgericht der Bundesgerichtshof fungiert. Damit
war selbst unter den Bedingungen des „Kalten Krieges“ auf die sofortige Einführung
einer Militärjustiz verzichtet worden. Die Beschränkung des unmittelbaren
militärischen Einflusses sollte zudem Distanz zu den bisherigen Formen deutscher Militärjustiz, speziell der NS-Militärjustiz zum Ausdruck bringen. Doch die tatsächliche
Entwicklung war eine andere.
Schon bald nach der Grundgesetzänderung begann das Bundesjustizministerium mit
Vorarbeiten für die Einrichtung von Militärgerichten. Sie wurden später durch eine
Wehrstrafkommission systematisiert, die in der Zeit von 1963 bis 1966 erste geheime
Entwürfe erstellte. Verstärkt ab 1975 rekrutierte das Bundesjustizministerium mit
Unterstützung der Länderjustizministerien das erforderliche Personal. Durch eine
Nebensächlichkeit aufgedeckt, gerieten die Vorbereitungen unter dem Stichwort „Schubladengesetze“ in der ersten Hälfte der 1980er Jahre zu einem politischen
Skandal, weil ohne Unterrichtung des Parlaments und ohne gesetzliche Grundlage
über Jahre hinweg die neue Militärjustiz konzipiert und eingeübt worden war. Als
Grund hierfür vermutete man, dass die Exekutive für ihr Vorhaben keine
parlamentarische Mehrheit sah und den geschaffenen Apparat im sogenannten
Verteidigungsfall durch ein Notparlament legalisieren lassen wollte.
Aber auch das Konzept erregte Empörung. So war nach den durch den Amtsrichter
Ulrich Vultejus veröffentlichten Entwürfen nicht nur die Anbindung der Wehrgerichte
an militärische Kommandoebenen geplant, sondern die Richter sollten auch an
Kampfhandlungen teilnehmen, also den Kombattantenstatus erhalten. Dabei
unterstanden sie der umfassenden Befehlsgewalt ihrer militärischen Vorgesetzten. Der
militärische Befehlshaber hatte außerdem jederzeit die Möglichkeit, die Gerichtsakten
einzusehen, die Anklage zu erzwingen oder die Nachprüfung von Urteilen durch das
Oberwehrgericht zu beantragen. Insofern ähnelten seine Möglichkeiten der
Einflussnahme denen des alten Gerichtsherrn. Auch der Rechtsweg wurde verkürzt. So
sollte der Bundesgerichtshof als Oberstes Gericht nur beschränkte
Entscheidungsmöglichkeiten haben und lediglich in Ausnahmefällen angerufen werden
können. Das Recht auf Verteidigung wurde ebenfalls erheblich beschnitten. So konnte
jemand, der „aufgrund bestimmter Tatsachen“ nicht zur Verfügung steht, nicht als
Verteidiger benannt werden. Durch die Verkürzung der Ladefrist bis auf zwölf Stunden
bekam dieser Punkt besondere Brisanz. Bezüglich des Strafmaßes wies Vultejus auf
Verschärfungen des Wehrstrafgesetzes von 1957 hin, die vor allem in der Einführung
neuer Strafbestimmungen, der Verschärfung des Strafmaßes und in neuen
Strafvollzugsmöglichkeiten wie Strafbataillon-ähnlichen Verbänden zum Ausdruck
kamen.
An der Konzipierung dieser Militärjustiz wirkten in starkem Ausmaß Personen mit, die
bereits in der Zeit des Nationalsozialismus federführend waren. Hierzu gehört auch
ihre Mitarbeit an der führenden Fachzeitschrift „Neue Zeitschrift für Wehrrecht“, die in
der Nachfolge der „Zeitschrift für Wehrrecht“ steht. Ihr Verhältnis zur
vorausgegangenen „Zeitschrift für Wehrrecht“ und damit zur NS-Militärjustiz
bestimmten sie durch den Hinweis, mit dem Adjektiv „neu“ wolle man „keine höhere
Wertung im Vergleich zu der früheren Zeitschrift zum Ausdruck bringen oder als Ziel
bezeichnen“. Insofern ist deren Denkweise nicht nur Ausdruck allgemeiner
ideologischer Kontinuitäten in der Rechtspolitik, sondern sie steht auch für das
Rechtsverständnis, mit dem Justizpolitik auf militärischem Gebiet konkret betrieben
wurde. Joachim Perels hat bei seiner Untersuchung zum Verhältnis von Verfassung
und politischer Realentwicklung für diese Zeit eine signifikante Diskrepanz konstatiert.
Für die ersten Versuche, eine neue Militärjustiz zu schaffen, muß ein ähnliches
Auseinanderklaffen von grundsätzlichen Distanzierungsversuchen zur NS-Zeit und
faktischer Kontinuität in der Praxis festgestellt werden. Interessanterweise endete
diese Politik nicht mit dem Beginn der sozial-liberalen Koalition 1969, auch nicht nach
dem Filbinger-Skandal. In den 1970er Jahren begann nach den konzeptionellen
Vorarbeiten sogar die verstärkte personelle Rekrutierung für die neue Militärjustiz.
Erst Bundesjustizminister Schmude stellte nach dem Eklat um die
„Schubladengesetze“ 1982 die militärrichterlichen Übungen ein. SPD und Grüne
sprachen sich in dieser Zeit grundsätzlich gegen eine neue Militärjustiz aus. Mit der
Begründung, die Einrichtung von Wehrstrafgerichten sei auch in längerfristiger
Perspektive nicht zu erwarten, strich der Haushaltsausschuss des Bundestags den
Punkt Wehrstrafgerichtsbarkeit für das Haushaltsjahr 1999 schließlich vollständig aus
seinem Plan.
Rettungsversuch mit ideologischem Paradigmenwechsel
Doch zuvor gab es noch einen aufschlussreichen Versuch, das Projekt zu retten. Er
führte zu einem ideologischen Paradigmenwechsel, der für die Beurteilung der
heutigen Bestrebungen aufschlußreich ist.
Der Skandal um die „Schubladengesetze“ hatte nicht nur die Legalisierung der
Militärjustiz erheblich erschwert, sondern auch zu Auflösungserscheinungen des
bereits geschaffenen Militärjustizapparats geführt. 240 der zirka 900 herangezogenen
Richter waren zum Beispiel aus ihrem Amt ausgeschieden. Hans A. Engelhard, FDPJustizminister
in der unter dem Vorzeichen der „geistig-moralischen Wende“
angetretenen Kohl-Regierung, sah es deshalb 1985 als seine Aufgabe an, dem
„gegenwärtigen Abbröckelungszustand“ ein Ende zu setzen. Er wollte die „Schubladengesetze“
vom Bundestag genehmigen lassen. Seine Begründung ging angesichts der
neuen Führungskonzeption von der bemerkenswerten Annahme aus, dass ohne
Militärjustiz die Kommandeure im Fall von Gehorsamsverweigerung in Form von
Selbstjustiz gegen die Soldaten vorgehen würden. „Der Rechtsstaat kann auch in
einem Verteidigungsfall nicht die Gefahr hinnehmen, dass die Truppe in besonderen
Notlagen, wenn unverzügliche rechtsstaatliche Sanktionen nicht zur Verfügung stehen,
zu rechtswidriger Selbstjustiz greift und dass die Vorgesetzten Befehle mit der Waffe
durchsetzen.“ Mit diesem (scheinbar) naiven Rückgriff auf die Militärjustiz als
zivilisierende Institution ignorierte er nicht nur die blutige Geschichte dieser Justiz,
sondern dekuvrierte auch das Leitbild vom „Bürger in Uniform“.
Zur Vorbereitung einer einheitlichen politischen Willensbildung und der
entsprechenden politischen Beschlussfassung wollte er eine fünfzehnköpfige
Kommission einsetzen, die aus Bundes- und Landespolitikern, Ex-Militärs, Völker-,
Strafprozess- sowie Völkerrechtlern bestehen sollte. Mit ihr verband er die Hoffnung,
die öffentliche Diskussion zwar nicht beenden, doch „versachlichen“ zu können. Am
23. April 1986 stimmte der Bundessicherheitsrat diesem Vorhaben zu.
Doch war der Plan zum Scheitern verurteilt. Zwar hatte man mit dem ehemaligen
Bundesinnenminister Hermann Höcherl einen Vorsitzenden gefunden, aber schon die
Besetzung des Co-Vorsitzes – u.a. hatte der ehemalige Verteidigungsminister Georg
Leber das Amt abgelehnt - gelang nicht. Insbesondere die SPD-regierten
Bundesländer verweigerten ebenfalls die Mitarbeit in dieser Kommission. Hierbei
spielte auch der Aspekt eine Rolle, dass in Zeiten der Friedensbewegung und einer
überaus großen Ablehnungsquote unter den Soldaten die Gehorsamserzwingung qua
Einrichtung einer Militärjustiz nicht opportun erschien. So formulierte zum Beispiel der
damalige Bremer Justizsenator Volker Kröning nach einer Durchdeklination der die
„Schubladengesetze“ prägenden undemokratischen Bestimmungen seine Kritik an den
vorliegenden Plänen als Kritik an den aggressiven Vorstellungen eines
„Bewegungskriegs“, wie sie der deutschen Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg
zugrunde gelegen hätten. „Wenn endlich von diesem Kriegsbild abgegangen wird,
unter einer wirklich defensiven, vertrauensbildenden Verteidigungsstruktur, die wir in
Ost und West aufbauen müssen, reicht die ordentliche Gerichtsbarkeit auch für die
Bundeswehr im Verteidigungsfall aus.“ In einem Schreiben an den
Bundesjustizminister teilte er 1987 folglich mit, „dass Bremen sich an einer solchen
Kommission nicht beteiligt“.
Allerdings hatte Engelhard in der Zwischenzeit seine Argumentation verändert.
Angesichts des politischen und allgemein gesellschaftlichen Widerstands gegen sein
Vorhaben war er zu einer neuen Begrifflichkeit übergegangen. Fortan solle es bei den
Aufgaben der Militärjustiz nicht mehr um die Sicherung von Disziplin und die
Vermeidung militärischer Selbstjustiz, sondern um Schutzrechte gehen. In einem
internen Schreiben an die Landesjustizminister mit dem Titel „Probleme der
Strafgerichtsbarkeit über Soldaten in einem Verteidigungsfall“ hieß es, es gehe „nicht
in erster Linie um militärische Hintergründe wie die Disziplin der Truppe“,
„maßgeblich“ seien vielmehr „die Gesichtspunkte des Schutzes des Soldaten und der
Zivilbevölkerung sowie die Verpflichtung zur Einhaltung des Kriegsvölkerrechts“.
Engelhards Formulierungswechsel markierte also eine gewisse Distanzierung von den
Denkmustern der NS-Militärjustiz und den Vorstellungen ihrer Apologeten in den
frühen Jahren der Bundesrepublik, vom Filbinger-Syndrom also. Mit der verbalen
Schwerpunktverlagerung von Disziplineinforderung auf Schutzrechte entwickelte er ein
Legitimationsmuster, das erst in der aktuellen Situation zentrale Bedeutung bekommt.
Die Kommission ist nicht einmal zu ihrer konstituierenden Sitzung
zusammengetreten.
Schlussfolgerungen für die aktuelle Diskussion
Die Geschichte der Bundesrepublik ist also nicht nur von sehr unterschiedlichen
Diskussionen über die erneute Einrichtung einer Militärjustiz geprägt, sondern auch
von der Diskrepanz zwischen postulierter Norm und juristischer Praxis. Unter den
eingangs genannten Ausgangsbedingungen wird heute erneut versucht, eine zentrale
Strafjustiz für Soldaten im Einsatz außerhalb des deutschen Territoriums aufzubauen.
Dabei überrascht zunächst die Intensität der Forderung nach Einrichtung einer neuen
Militärjustiz. Denn von lediglich zirka 150 Vorfällen seit den 1990er Jahren [1] ist die
Rede, die in den letzten Jahren juristisches Eingreifen veranlasst haben sollen. Sieht
man sich dann die eingangs genannten viel diskutierten Beispiele an, so drängt sich
nicht der Eindruck auf, dass ihre Bearbeitung die Schaffung neuer juristischer
Einrichtungen erforderlich macht. Vielmehr wären Zweifel an der Güte der allgemeinen
Justiz angebracht, wenn ihr die sachgerechte Bearbeitung dieser Delikte nicht
zugetraut würde. Umgekehrt hat der wohl mit Abstand wichtigste Fall – die
Bombardierung zweier Tanklastzüge bei Kundus mit der Konsequenz von vermutlich
über hundert ziviler Toten – wegen vielfältiger militärischer und
verteidigungspolitischer Informationsverweigerungen und Beurteilungsschwankungen
sowie der abschließenden Niederschlagung des Verfahrens den Eindruck entstehen
lassen, dass es hier an zivilen Aufklärungsmöglichkeiten mangelte.
Allerdings legitimiert sich der Vorstoß für neue juristische Regelungen im militärischen
Bereich auch nicht in erster Linie durch eine Kritik an den bisherigen Entscheidungen
der Justiz. Hervorgehobener Gesichtspunkt ist vielmehr die Rechtssicherheit des
Soldaten. Sie wird vor allem durch die Vorschaltung einer Zwischeninstanz zur
Ermittlung des eigentlichen Verhandlungsorts für gefährdet gehalten. Dies führe zu
einer zeitlichen Verzögerung, die dem Soldaten nicht zugemutet werden könne und
ihn unnötig psychisch belaste.
Im Konkreten treten im Referentenentwurf dann andere Aspekte hervor. Es sollten die
Voraussetzungen für eine „effektive und zügige Strafverfolgung“ geschaffen werden,
heißt es. Hierfür seien „Einheiten mit besonderem Fachwissen“, das insbesondere
militärische Abläufe und Strukturen, Erfahrungen bei speziellen Ermittlungen mit
Auslandsbezug sowie dienstrechtliche Besonderheiten betreffe, erforderlich. Die alten
militärjuristischen Zentralbegriffe wie schnelle Strafverfolgung (zur Aufrechterhaltung
der Disziplin) und besonderes Fachwissen hinsichtlich militärischer Belange
(Einfühlungsvermögen) prägen hier also bemerkenswert offen die Grundkonzeption.
Zusammen mit dem engelhardschen Ton bezüglich der Rechtssicherheit und der
Belastung der Soldaten ergibt sich so ein öffentlichkeitswirksamer Verquickungsversuch von militärischen und individuellen Interessen.
Doch wird damit die eigentliche Belastungssituation der Soldaten in der aktuellen
Lage nicht ernsthaft berücksichtigt. Denn was ein juristisches Problem zu sein scheint,
ist aktuell tatsächlich vor allem ein politisches. Exemplarisch steht hierfür die
krampfhafte Vermeidung des Wortes „Krieg“ für den Militäreinsatz der Bundeswehr in
Afghanistan. Der Grund hierfür ist klar: Die Gewöhnung der Öffentlichkeit an deutsche
Kriegsführung ist noch nicht abgeschlossen. Am Anfang stand der bekannte
Paradigmenwechsel, der Kriegseinsätze jenseits der Verteidigungssituation durch die
Berufung auf Auschwitz als moralisches Ausnahmerecht rechtfertigte. Angesichts der
zunehmenden Bundeswehreinsätze „out of area“ müssen die Verantwortlichen jetzt in
einer zweiten Phase die vorgebliche Ausnahmesituation als Teil der gesellschaftlichen
Normalität legitimieren, was zum Beispiel in Bezug auf Afghanistan die Neuformulierung
der alten Einsatzdoktrin als bewaffneter Schutz für Entwicklungs- und
Emanzipationsprojekte im Sinne eines Kriegs- oder kriegsähnlichen Einsatzes
bedeuten würde. Dies ist jedoch bisher vermieden worden.
Als Konsequenz ergibt sich für den Soldaten eine Diskrepanz zwischen dem
Einsatzbefehl und den Einsatzbedingungen. Es fehlt der einem Kriegseinsatz
entsprechende Handlungsspielraum. Hieraus folgt eine weitgehende Individualisierung
der Verantwortung für militärische Entscheidungen. Wenn jetzt „Krieg“ genannt
würde, was im wesentlichen Krieg ist, wäre das juristische Problem für die Soldaten
entschärft, während umgekehrt die Zivilbevölkerung im proportionalen Maß rechtloser
würde. Ihr Leben wäre noch gefährdeter als bisher schon. Doch ist die Vermutung
falsch, Soldaten seien angesichts der politischen und juristischen
Neuformulierungsbestrebungen die Gewinner. Für die Bundeswehrangehörigen hat die
aktuelle Entwicklung auch eine Kehrseite. Denn damit werden sie in Rechtsverhältnisse
eingepasst, in denen sie für die individuelle Verantwortungsentlastung mit der
verschärften juristischen Einbindung in die Erfordernisse der Kriegsführung zahlen.
Doch auch über die Unabhängigkeit der Juristen in der neuen Konstellation gibt es
problematische Vorstellungen. Dies muss für den Fall der Bundesanwaltschaft nicht
näher ausgeführt werden. Sie setzt sich bekanntlich aus Juristen zusammen, die vom
Bundesjustizministerium direkt ernannt werden und durch eine besondere
Loyalitätsbeziehung geprägt sind. Die Möglichkeiten einer Einwirkung auf
Staatsanwälte, für die ja das Unabhängigkeitsprivileg der Richter ohnehin nicht gilt,
erweitern sich dadurch, dass es sich bei ihnen künftig um einen fest umrissenen
Personenkreis handeln wird und nicht um durch das Zufallsprinzip „Wohnort“
Bestimmte. Aber selbst die richterliche Unabhängigkeit ist in Militärangelegenheiten
nicht garantiert. So gilt für die Leipziger Wehrdienstsenate die Vorschrift, dass das
zuständige Präsidium des Bundesverwaltungsgerichts nur solche Richter ernennen
darf, die zuvor vom Bundesjustizministerium bestimmt wurden, wobei das
Bundesverteidigungsministerium ein Mitspracherecht hat.
Durch die vorgesehene Zentralisierung der Verfahren wird also nicht nur das
gewünschte Personal in Position gebracht, sondern auch die Möglichkeit der
politischen Einflussnahme gestärkt. Eine solche Ausgangssituation ist – wie die
Geschichte der Militärjustiz bis hin zur Diskrepanz zwischen Grundgesetzartikel und
tatsächlichem Handeln in den 1960er und 1970er Jahren gezeigt hat – offen für
weitere Veränderungen, seien sie einem allgemeinen „Zwang der Verhältnisse“ oder
einer konkreten „militärischen Lage“ geschuldet. Der vorgesehene zivile Status der
Richter ist hiergegen kein hinreichender Schutz. Denn wie der zitierte Dr. Barth schon
postulierte, werden den Richtern infolge ihrer Nähe zu den Streitkräften „die
Grundsätze des inneren Gefüges (der Streitkräfte, d.V.) in Fleisch und Blut übergehen“
und damit ihr Funktionieren im Rahmen der militärischen Anforderungen gewährleistet sein. In welchem Ausmaß sich hiermit eine „Slippery-Slope“-Situation ergibt, haben
die Schubladengesetze gezeigt, die bei den gleichen grundgesetzlichen Vorgaben wie
heute nicht nur in der „Zeit der Restauration“ entstanden, sondern auch die Jahre der
sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt und Helmut Schmidt überdauerten.
Diese Konstanz der Zielsetzung über Jahrzehnte bundesrepublikanischer Geschichte
hinweg führt zu dem Schluss, dass es nicht gelungen ist, eine grundsätzliche Distanz
zu Formen militärischer Sonderjustiz zu schaffen. Doch reicht die Bedeutung der
anstehenden Entscheidung über den juristischen Bereich hinaus. Denn die Anfänge
der Abtrennung der militärischen von der allgemeinen Rechtssprechung finden in einer
Zeit statt, in der die Bundeswehr grundsätzlich umstrukturiert und durch den
Rückgriff auf Berufssoldaten zunehmend der öffentlichen Wahrnehmung und Kontrolle
entzogen wird. Hier eröffnet sich also erneut ein Ausgangspunkt für die Frage nach
dem grundsätzlichen Verhältnis von Militär und Gesellschaft wie sie einst die
Sozialdemokratie bereits im preußischen Landtag aufwarf.
Konsequenzen
Was folgt hieraus für unser weiteres Handeln?
Die Bundesvereinigung kann auf eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte
zurückgreifen. 1997 gab es den ersten Bundestagsbeschluß zur Rehabilitierung von
Opfern der NS-Militärjustiz. 1998 folgte das weiterreichende 1. NS-Unrechtsaufhebungsgesetz,
2002 dann dessen Überarbeitung, die mit der juristischen
Einzelfallprüfung insbesondere der Urteile von Wehrmachtdeserteuren brach. 2009
wurden die 2002 ausdrücklich nicht berücksichtigten Kriegsverräter vom Bundestag
rehabilitiert. An der Abfolge der Einzelentscheidungen zeigt sich schon, dass es sich
hierbei nicht um einen geradlinigen politischen Prozess handelt. Es war immer ein
Ringen im Detail und um graduelle Fortschritte. Entsprechend unterschiedlich fielen
die einzelnen Entscheidungen auch aus. 1997 wurde z.B. der grundsätzliche Vorbehalt
formuliert, Verurteilungen seien weiterhin rechtsgültig, wenn die entsprechende Tat
auch heute noch unter Strafe stehe. Hierin zeigt sich wenig Distanz zu den rechtlichen
Grundlagen und der Urteilsfindung der NS-Militärjustiz. Selbst 1998 wurde für
bestimmte Straftaten wie Fahnenflucht eine grundsätzliche Rehabilitierung verweigert
und die Einzelfallprüfung vorgeschrieben. Zur pauschalen Rehabilitierung musste die
SPD erst durch einen politischen Trick der damaligen PDS-Fraktion gedrängt werden.
Sie machte sich einen alten SPD-Antrag zur Rehabilitierung der Deserteure aus
Oppositionszeiten zu eigen und brachte ihn in den Bundestag ein. Um einen
Gesichtsverlust zu vermieden, legte die damalige rot-grüne Koalition eine eigene neue
Version vor, die jedoch u.a. die sogenannten Kriegsverräter explizit von einer
Rehabilitierung ausschloss. CDU und CSU stimmten selbst dieser Variante nicht zu.
Zuletzt wurde der daraufhin von der Linksfraktion eingebrachte Antrag auf
Rehabilitierung der „Kriegsverräter“ von der Mehrheit im Bundestag so umgearbeitet,
dass ein Recht auf Widerstand gegen den nazistischen Vernichtungskrieg hieraus nicht
abgeleitet werden kann. Das schlägt den Bogen zu den Anfängen der Bundesrepublik,
als militärische Kreise selbst den 20. Juni als „Vaterlandsverrat“ titulierten und das
Recht auf Widerstand gegen den nazistischen Vernichtungskrieg in Abrede stellten.
Die Beschlusslage des Bundestags muss also als uneinheitlich und unter
verschiedenen Gesichtspunkten als unzulänglich bezeichnet werden. Hinzu kommt,
daß er sich bisher ausschließlich mit eindeutig politisch-moralisch geprägten
Straftatbeständen befasst hat. „Konventionelle“ Straftaten sind bisher nicht explizit
thematisiert worden, obwohl sie bereits Ende der 1950er Jahre auf großes
gesellschaftliches Interesse stießen. Als Beispiel sei auf den Staudte-Film „Rosen für
den Staatsanwalt“ verwiesen, in dem ein Markthändler in einer Kleinstadt einen mittlerweile beruflich wieder arrivierten Richter erkennt, der ihn als Militärrichter
wegen der Entwendung von Schokolade zum Tode verurteilt hatte. Auch solche Urteile
sind zweifellos von der NS-Ideologie geprägt und als Unrechtsurteile zu betrachten,
von dem grundsätzlichen Unvermögen der NS-Militärjustiz, rechtsstaatliche Urteile zu
fällen, ganz zu schweigen. Eine solche Feststellung des Bundestags steht aber aus.
Deshalb ergibt sich z.B. ein bemerkenswerter Gegensatz zu seiner Beschlussfassung
bezüglich der DDR-Justiz. Hier hat er nicht gezögert, speziell die Waldheim-Urteile
pauschal als Unrechtsurteile zu bezeichnen, weil sie rechtsstaatlichen Maßstäben nicht
genügten, obwohl diese zum großen Teil gegen explizite NS-Verbrecher
ausgesprochen wurden. Es scheint deshalb sinnvoll zu sein, eine abschließende
grundsätzliche Beschlussfassung des Bundestags anzustreben, die einerseits
Widersprüche und Unklarheiten seiner bisherigen Beschlussfassung bezüglich der
Opfer der NS-Militärjustiz beseitigt, andererseits alle Urteile der NS-Militärjustiz wegen
deren grundsätzlichem Unrechtscharakter aufhebt. Damit dürfte auch die Sensibilität
gegenüber der Einführung neuer Formen von Militärjustiz gestärkt und die intendierte
Beschlussfassung erschwert werden. Dies sollte mit der klaren Aussage verbunden
werden, daß es gegenüber dem von Deutschland geführten Vernichtungskrieg
selbstverständlich ein Widerstandsrecht gibt. Damit könnte auch ein Ansatzpunkt
geschaffen werden, um den verschärften Kriegsvorbereitungen, wie sie sich in der
aktuellen Umstrukturierung der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee zeigen,
entgegenzutreten. Für die Bundesvereinigung wäre es also sinnvoll, nicht nur die
Kritik an der NS-Militärjustiz weiterzuentwickeln, sondern auch von den erzielten
Ergebnissen ausgehend – aktuell etwa durch eine Stellungnahme gegen die
Einrichtung neuer Formen von Militärjustiz - verstärkt in die gesellschaftliche
Diskussion zu intervenieren.
Vermerkt sei noch, daß die entschädigungspolitischen Probleme weiterhin ungelöst
sind.
An der Integration antimilitaristischer und pazifistischer Inhalte in die Alltagskultur
konnte die Bundesvereinigung ebenfalls erfolgreich mitwirken. Erwähnt seien nur die
vielerorts entstandenen Deserteursdenkmale, der bemerkenswerte Erfolg der
Ausstellung „Was damals Recht war“ mit ihrem jeweiligen ortspezifischen Begleitprogramm
oder die Zusammenfassung des bisherigen Forschungsstands in dem
Sammelband „Mit reinem Gewissen“ sowie ähnliche Publikationen. Doch kann auch auf
diesem Gebiet noch etliches mehr getan werden. Beispielhaft sei auf die Möglichkeit
verwiesen, die regionale Aufmerksamkeit für die Militärjustiz-Ausstellung zu nutzen,
um Anstöße für die Schaffung neuer Deserteursdenkmale zu geben. Auch müsste über
die Schaffung eines zentralen Erinnerungsorts in Berlin nachgedacht werden, der die
Möglichkeit eröffnet, sich jenseits von speziellen Interessen und besonderen
Vorkenntnissen mit den Verbrechen der NS-Militärjustiz und der Problematik
militärischer Sonderjustiz generell auseinanderzusetzen.
Unakzeptabel ist weiterhin die erinnerungspolitische Situation in Sachsen, speziell in
Torgau als dem historisch bedingten zentralen Erinnerungsort für die Opfer der NSMilitärjustiz.*
Solange dort noch die Möglichkeit besteht, Einfluss zu nehmen, sollte
dies zweifellos getan werden. Doch weist die Situation dort auf eine weiterreichende
Aufgabe hin. Gemeint sind die zunehmenden Versuche einer geschichtspolitischen
Revision. Zwar scheint es aktuell so zu sein, daß der ursprüngliche „sächsische
Sonderweg“ in der alten Form nicht weiterverfolgt werden kann, doch in letzter Zeit
zeichnet sich die Möglichkeit ab, daß man sich hier geschichtspolitischen Revisionsbestrebungen
anschließen könnte, die insbesondere über das Europaparlament initiiert
werden. Solchen Bestrebungen sollte die Bundesvereinigung nicht zuletzt wegen ihrer
bisherigen Erfahrung in Sachsen unbedingt entgegentreten und in diesem Sinn auch
mit anderen Organisationen und Vereinigungen zusammenarbeiten. Die Dokumentation
der Erfahrungen, die sie in den letzten Jahren mit der sächsischen
Erinnerungspolitik gemacht hat, kann hierzu ein erster Schritt sein.
Das bisher Skizzierte ist lediglich ein erster Aufriss. Insgesamt ist das Thema zu
umfassend, um hier detailliert vorgetragen zu werden. Wir sollten die Diskussion
nutzen, um über Schwerpunkte wie Details eingehend zu beraten.
[1] Lt. Presserichten unter Berufung auf BMVg- und BMJ-Quellen wurden 2011 genau 26 einschlägige „Ermittlungsverfahren“
durchgeführt, „so viele, wie in den Jahren 2002 bis 2006 zusammen“. (Weser-Kurier (Bremen) vom 31.01.2011, Seite 2)
* Diesem Vortrag liegt der Aufsatz des Autors „Neue Militärjustiz? Überlegungen zu ihrer Wiedereinführung in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 2010“ zugrunde, erschienen in: Joachim Perels/Wolfram Wette (Hg.): Mit reinem Gewissen. Wehrmachtrichter in der Bundesrepublik und ihre Opfer, Berlin 2011.
* Im Detail siehe hierzu: Rolf Surmann, Ausstellung „Spuren des Unrechts“ in Torgau und die Zurücksetzung der Opfergruppe der NS-Militärjustiz-Verfolgten, in: Gedenkstättenrundbrief 154, S. 13-21.
Vortrag bei der Mitgliederversammlung der Bundesvereinigung Opfer der
NS-Militärjustiz e.V. am 14. Dezember 2011 im Lidice-Haus Bremen.
Veröffentlicht auf der Website: www.bv-opfer-ns-militaerjustiz.de
Dokumentiert:
Entwurf eines Gesetzes für einen Gerichtsstand bei besonderer Auslandsverwendung der Bundeswehr
Zur Kritik siehe:
Es drohen "große Gefahren für den Rechtsstaat"
Die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz warnt vor der Einführung einer Sonderjustiz für Bundeswehrangehörige
Pressemitteilung des Bundesjustizministeriums:
Kempten wird Gerichtsstand für Straftaten von Soldaten im Ausland
28.03.2012
Zu dem heute vom Bundeskabinett beschlossenen Entwurf eines „Gesetzes für einen Gerichtsstand bei besonderer Auslandsverwendung der Bundeswehr“ erklärt Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger:
Bei den jetzt bundesweit zuständigen Richtern und Staatsanwälten wird Erfahrung gebündelt. In Zukunft werden bei Straftaten von Soldaten nur noch die Juristen entscheiden, die sich mit den speziellen Abläufen von Auslandseinsätzen und Auslandsermittlungen auskennen. Durch die neue Regelung werden langwierige Zuständigkeitsprobleme beendet.
Kempten ist hervorragend geeignet, die in den neuen Gerichtsstand gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Dort sitzt schon heute die bayerische Schwerpunktstaatsanwaltschaft, die bislang aber nur bayernweit zuständig ist für Straftaten, die Soldaten im Auslandseinsatz zur Last gelegt werden. Die bayerischen Spezialisten werden ihre Erfahrungen bundesweit einbringen.
Zum Hintergrund:
Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr unterliegen auch bei besonderer Auslandsverwendung (§ 62 Absatz 1 des Soldatengesetzes) dem deutschen Strafrecht, das gemäß § 1a Absatz 2 des Wehrstrafgesetzes für Straftaten gilt, die von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr während eines dienstlichen Aufenthalts oder in Beziehung auf den Dienst im Ausland begangen werden.
Für entsprechende Sachverhalte besteht derzeit kein besonderer Gerichtsstand. Dies führte bisher dazu, dass nach den allgemeinen Gerichtsstandsregelungen der Strafprozessordnung Gerichte und Staatsanwaltschaften an verschiedenen Orten für solche Verfahren zuständig sein können. Das kann zu Zuständigkeitsproblemen führen mit der Folge, dass sich Verfahren verzögern. Mit dem neuen besonderen Gerichtsstand wird diesen Problemen begegnet.
Die Kenntnisse der militärischen Abläufe und Strukturen, der rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen der Auslandsverwendung, die für die Bearbeitung der Verfahren notwendig sind, können durch einen besonderen Gerichtsstand und eine zentral zuständige Staatsanwaltschaft eher gewährleistet werden. Diese Spezialkenntnisse tragen zudem zu einer zügigen Bearbeitung bei.
Der vorliegende Gesetzentwurf begründet deshalb für Kempten einen besonderen Gerichtsstand für Straftaten, die von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in besonderer Auslandsverwendung begangen wurden, jedoch keine Wehrstrafgerichtsbarkeit. Hieraus leitet sich auch die örtliche Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft Kempten aus § 143 Absatz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes ab.
Grund für die örtliche Wahl des Gerichtsstandes Kempten ist, dass die Staatsanwaltschaft Kempten bereits jetzt als Schwerpunktstaatsanwaltschaft für den Bereich des Freistaates Bayern für die Verfolgung solcher Straftaten zuständig ist. Bei der Justiz in Kempten sind die erforderlichen Erfahrungen bereits vorhanden. Diese Erfahrungen werden bei der nun vorgesehenen Ausdehnung der örtlichen Zuständigkeit auf das gesamte Bundesgebiet von Nutzen sein.
Quelle: Website des BMJ; www.bmj.de
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