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Total verstrahlt

Während einige deutsche Soldaten in Mazedonien Waffen einsammeln, kämpfen andere um Entschädigung für die gesundheitlichen Folgen des Wehrdienstes.

Von Gerhard Piper

Nicht nur in Mazedonien, auch zu Hause sind die Soldaten der Bundeswehr zahlreichen Gefahren ausgesetzt. Seit Anfang des Jahres reißen die Meldungen über gesundheitsgefährdende Zustände in der deutschen Armee nicht ab. Erst gab es Berichte über die Verwendung von Uranmunition, dann über Krebserkrankungen durch die Röntgenstrahlen der Radaranlagen sowie Asbestfunde an Bord von Kriegsschiffen, und nun erregt die radioaktive Strahlenbelastung durch Flugabwehrraketen das öffentliche Interesse. Die Risiken in den Streitkräften sind so zahlreich, dass für manche Erkrankung gleich mehrere Ursachen in Frage kommen. Die gesundheitlichen Schäden sind so gravierend, dass viele Soldaten nicht nur an einer Krankheit leiden, sondern an einem Dutzend gleichzeitig.

Wie das ARD-Magazin »Report« in seiner Sendung am 6. August berichtete, sollen Bundeswehrsoldaten jahrelang radioaktiv verseucht worden sein, weil sie Wartungsarbeiten an Flugabwehrraketen vom Typ Nike-Hercules durchführten. Sie waren von 1958 bis 1986 in der Bundesrepublik Deutschland stationiert. Von Bremen bis zum Bodensee zog sich ein so genannter »Nike-Gürtel«, der aus insgesamt 71 Stellungen der Bundeswehr und der alliierten Streitkräfte bestand. Die Bundesluftwaffe verfügte über sechs Bataillone mit jeweils 36 Raketen.

Die Raketenspitze der zwölf Meter hohen Nike-Hercules bestand entweder aus einem konventionellen Splittergefechtskopf T-45 oder aus einem Atomsprengkopf W-31 mit einer Sprengkraft von maximal 40.000 Tonnen TNT, dem Dreifachen der Hiroshima-Bombe. Franz Sauer, der ehemalige Strahlenschutzbeauftragte der Bundeswehr, erklärte in der ARD-Sendung, er habe 1980 bei der Flugabwehrbatterie in Holzwickede heimlich Messungen durchgeführt und dabei erhöhte Strahlenpegel festgestellt. Weil solche Untersuchungen verboten waren, habe ihn ein Militärgericht für seine unsoldatische Eigeninitiative zu 21 Tagen Haft auf Bewährung verurteilt.

Nach der Darstellung von »Report« hätten sich die deutschen Soldaten bei Wartungsarbeiten täglich bis zu sechs Stunden in der Halle aufgehalten, in der die Nike-Hercules mit ihren radioaktiven Atomsprengköpfen lagerten. Demgegenüber sei es den Soldaten der US-Bewachungseinheit nur erlaubt gewesen, sich eine Stunde pro Tag dort aufzuhalten. Die Amerikaner hätten diese Vorschrift zum Schutz ihrer Gesundheit streng eingehalten. Allerdings sind Zweifel an diesem Bericht angebracht. Es wäre ein schwerer Verstoß gegen die Bewachungsvorschriften der US-Army gewesen, fremde Soldaten an ihren Raketen arbeiteten zu lassen.

Möglicherweise stammen die Krebserkrankungen der deutschen Soldaten nicht von den radioaktiven Raketensprengköpfen, sondern sind ein Resultat der Strahlung von Radaranlagen, etwa vom Luftraumüberwachungsradar Typ Hipar. Diese Anlagen aus den fünfziger Jahren setzten sich aus allerlei Röhren zusammen, die radioaktive Substanzen enthielten: Kobalt 60, Urandioxid, Radium. Wenn solch ein Bauteil zerplatzte, wurden Spuren der radioaktiven Elemente freigesetzt und möglicherweise vom Wartungspersonal eingeatmet.

Wenn heutzutage ein Soldat der Flugabwehrtruppe erkrankt, kann er selbst am wenigsten wissen, ob dies auf eine Verseuchung mit nuklearen Substanzen zurückzuführen ist oder ob es andere Ursachen hat. Denn nicht nur zerplatzende Röhren, schon der Normalbetrieb der Radargeräte stellt wegen der Emission von Röntgenstrahlen für die Soldaten ein hohes Gesundheitsrisiko dar.

Obwohl das Verteidigungsministerium hierüber bereits seit 1958 informiert war, wurden keine Warnungen an die Soldaten weitergegeben, sodass viele ahnungslose Radartechniker von ihrem Militärgerät ständig »geröntgt« wurden. Die Dosis betrug bis zu 100 Sievert, das ist das 20 000fache der für die Zivilbevölkerung zulässigen Menge. Zwar wurden mittlerweile Schutzmaßnahmen ergriffen, aber aus physikalischen Gründen kann bei Radaranlagen die Emission von Röntgenstrahlen nie völlig unterbunden werden.

Nach Schätzungen haben insgesamt 20 000 Radarmechaniker an den Flugabwehrraketen Nike-Hercules und Hawk, dem Kampfflugzeug Starfighter und dem Flugplatzradar ASR-BI gearbeitet, sodass nach der medizinischen Statistik 1 000 ehemalige Soldaten mit einer Erkrankung rechnen müssen: Blut-, Haut-, Hoden-, Knochen- oder Lymphdrüsenkrebs. Einige Soldaten haben Krankheitssymptome, die selbst Medizinern kaum bekannt sind und die als »Thermoregulationsstörung« bezeichnet werden. Bei Sommertemperaturen frieren die Patienten vor Hitze, im Winter schwitzen sie vor Kälte.

Gegen die Veteranen, die auf die eine oder andere Art zu Wehrdienstversehrten wurden, führt die Bundeswehr seit Jahren einen Kleinkrieg. Nach der deutschen Rechtslage müssen die Betroffenen selbst nachweisen, dass ihre Erkrankung auf den Militärdienst zurückzuführen ist.

Das ist in der Praxis unmöglich, da die Bundeswehr nicht einmal so genannte Dosimeter einsetzte, um die Strahlenabsorbtion bei einzelnen Bundeswehrsoldaten zu messen. Folglich werden viele Wehrdienstopfer als Hypochonder abgetan und gehen leer aus. Dabei beträgt die monatliche Grundrente bei hundertprozentiger Erwerbsunfähigkeit nur 1.156 Mark; für einen amputierten Arm erhält man monatlich 404 Mark.

Im Fall der Soldaten, die wahrscheinlich von Röntgenstrahlen geschädigt wurden, gibt es nun einen juristischen Vorstoß. Seit Juni 2001 fordern die Berliner Rechtsanwälte Reiner Geulen und Remo Klinger Schadensersatz von der Bundeswehr wegen »schuldhafter Verletzung der Fürsorgepflicht«. Sie vertreten 540 Soldaten, darunter 458 Krebspatienten, von denen 141 bereits verstorben sind. Sie fordern mindestens 250.000 Mark für eine Krebserkrankung, 450.000 Mark für die Hinterbliebenen verstorbener Mandaten und 400 000 Mark für genetische Schäden, denn zu den Opfern der Bundeswehr zählen mittlerweile nicht nur Soldaten, sondern auch ihre Kinder. Die Gesamtsumme beläuft sich auf 60 Millionen Mark. Zwar versprach Verteidigungsminister Rudolf Scharping allen Betroffenen, Witwen und Waisen zunächst großzügige Abfindungen, gezahlt aber wurde bisher nichts.

Mit freundlicher Genehmigung des Autors aus: Jungle World, 5. September 2001

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