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Der Transformator

Wie Peter Struck die Armee verkleinert und zugleich zur globalen Interventionstruppe umbaut

Von Jürgen Rose*

"Die Bundeswehr hat nicht den Auftrag, stationiert zu sein. Sie soll effektiv sein. Und dafür muss sie modern sein."
Vier-Sterne-General a. D. Klaus Reinhardt

Keineswegs unerwartet setzte in vielen Garnisonsstädten das Heulen und Zähneklappern ein, als der Verteidigungsminister zu Wochenbeginn seine "Liste der Grausamkeiten" verkündete. Unter dem Druck leerer Kasse hat in der Ära Peter Struck die zunächst im Schneckentempo vorangetriebene Bundeswehrreform erheblich an Dynamik gewonnen. Deren Beginn hatte sein Vorgänger im Amt, Rudolf Scharping, persönlicher Eitelkeiten wegen jahrelang verzögert - zum nachhaltigen Schaden der Institution und vor allem zu Lasten der betroffenen Menschen, wie sich heute zeigt. Dass indes das Notwendige, das jetzt geschieht, nicht notwendig deckungsgleich ist mit dem Richtigen, mag pars pro toto der Erhalt des anachronistischen und geradezu schreiend ungerechten Wehrpflichtsystems illustrieren. Gerade an diesem Punkt manifestiert sich das stupende Beharrungsvermögen eines auf Bestandswahrung programmierten Militärapparates.

Nichtsdestoweniger stellen die nun avisierten Standortschließungen einen weiteren Meilenstein im Reformprozess der Bundeswehr dar. Peter Struck folgt mit seiner Entscheidung weitgehend einem Vorschlag der von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker geleiteten "Kommission Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr". Die hatte bereits 2000 empfohlen, "eine Halbierung der Standorte und Liegenschaften anzustreben". Parallel zur Reduzierung der Infrastruktur schrumpft auch die Zahl der Soldaten - nach derzeitiger Planung auf 250.000 bis 2010.

Eine Armee für alle Fälle

Was nicht schrumpft, sondern was ganz im Gegenteil bis an die von Verfassung und Völkerecht gezogenen Grenzen - und darüber hinaus wie mehrmals geschehen - ausgeweitet wird, ist die Mission, welche die Bundeswehr zu erfüllen hat. Gab der weltkriegsgeprägte, christlich konservative Richard von Weizsäcker als Amtsinhaber noch zu Protokoll, das Letzte, worauf die Welt warte, sei der Tritt deutscher Soldatenstiefel, rechnet es sich das Duo Schröder-Fischer erklärtermaßen als Verdienst an, der eigenen Anhängerschaft im Rekordtempo jedwede pazifistischen Flausen ausgetrieben zu haben - gepriesen als "Enttabuisierung des Militärischen".

Seinen konzeptionellen Niederschlag erfuhr dies in der verteidigungsministeriellen Erlasssystematik, darunter die "Verteidigungspolitischen Richtlinien" und die "Weisung zur Weiterentwicklung der Bundeswehr". Jüngstes Dokument in der Reihe ist die "Konzeption der Bundeswehr" (KdBw). Dort findet der Leser - neben Manifestationen von elementarer sprachlicher Wucht, wie sie beispielsweise in der Sentenz: "Die Entfaltung der Gesamtfähigkeit entsteht im streitkräftegemeinsamen Handeln" aufscheint - Auftrag und Umfang sowie Organisation und Ausrüstung der Streitkräfte näher beschrieben.

Interessante Implikationen birgt zuvörderst die vom Verteidigungsminister vorgenommene Zielbeschreibung für die sogenannte "Transformation" der Bundeswehr, nämlich die "Entwicklungen in den VN (Vereinten Nationen - die Red.), in NATO und EU so umzusetzen, dass die Bundesrepublik Deutschland mit ihren Streitkräften handlungsfähig bleibt und sich eine angemessene Mitsprachekompetenz erhält". Legitimierte dereinst Friedenssicherung, basierend auf einer Kombination von Abschreckungs- und Entspannungspolitik, die Existenz der Bundeswehr, so gilt heutzutage offenbar das olympische Motto "Dabeisein ist alles". Militärische Handlungsfähigkeit - für welchen Zweck auch immer - wird als ein Wert an sich empfunden. Insofern wird unmissverständlich ein globales Interventionsvermögen reklamiert: "Die Bundeswehr trägt mit weltweit einsetzbaren, schnell verlegbaren und technisch hochwertig ausgerüsteten Kräften dazu bei, die Sicherheit der Staatengemeinschaft zu erhöhen", heißt es in der erwähnten "Konzeption der Bundeswehr". Hierzu ist anzumerken, dass dort, wo ohne klares völkerrechtliches Mandat interveniert wird, regelmäßig das genaue Gegenteil von Stabilität und Sicherheit - nämlich Chaos und Anarchie (siehe Irak) - erzeugt werden. Außerdem geben selbst dort, wo Militäroperationen völkerrechtskonform ablaufen, deren bislang eher mageren Ergebnisse Anlass zu der Frage, ob nicht allein schon unter Kosten-Nutzen-Aspekten der Griff nach nicht-militärischen Instrumentarien weitaus effizienter wäre.

Höchst diffus stellen sich fernerhin Auftragsdefinition und Aufgabenzuweisung für die deutschen Streitkräfte dar. Einigermaßen konkret und präzise gefasst ist bezeichnenderweise lediglich der klassische, heute kaum noch bedeutsame Auftrag zur Landes- und Bündnisverteidigung. Der restliche Auftragskatalog folgt dem Toyota-Prinzip ("Alles ist möglich"), wenn es etwa heißt, die Bundeswehr solle die "multinationale Zusammenarbeit und Integration fördern", "Bündnispartner unterstützen", "Partnerschaft und Kooperation" pflegen oder "einen Beitrag zur Stabilität im europäischen und globalen Rahmen leisten". Worthülsen, die von ihrer Deutung her viel Spielraum lassen. Die Bundeswehr wird damit zur Armee für alle Fälle, einsetzbar nach Gutdünken der jeweiligen Bundesregierung. Der Einwand, jeder Einsatz stehe unter dem sogenannten "konstitutiven Parlamentsvorbehalt", trägt da schwerlich.

Wie ein Kanzler den Regierungsfraktionen im Bundestag notfalls Gefolgschaft abfordern kann, hat schließlich Gerhard Schröder nach dem 11. September 2001 mustergültig vorexerziert. Wer das Votum für einen Militäreinsatz mit der Vertrauensfrage verknüpft, erhebt die freie Gewissensentscheidung des Abgeordneten zum Luxusgut, besonders dann, wenn nach einem Kanzlerrücktritt Neuwahlen und möglicherweise der Verlust des Parlamentssitzes drohen. Die nicht von der Hand zu weisende Gefahr einer solchen Prozedur liegt darin, dass dabei unversehens das Grundgesetz auf der Strecke bleibt.

Eisenhowers Warnungen von einst

Für wie dehnbar die Verfassung erachtet wird, demonstriert zudem der total entgrenzte Verteidigungsbegriff im Hause Struck. Demzufolge beschränkt sich "Verteidigung im Sinne des Grundgesetzes nicht nur auf die Verteidigung an den Landesgrenzen, sondern muss dort einsetzen, wo Risiken und Bedrohungen für die Sicherheit Deutschlands und seiner Verbündeten entstehen." Im Zentrum einer solchen Sichtweise steht unübersehbar ein maximierter militärischen Aktionsradius anstelle dessen klarer völker- und verfassungsrechtlicher Fundierung. Wäre Letzteres beabsichtigt, müsste die entsprechende Formulierung nämlich lauten: "Verteidigung im Sinne des Grundgesetzes beschränkt sich auf die in der Satzung der Vereinten Nationen gemäß Kap. VII und Art. 51 vorgesehenen Maßnahmen." Statt dessen leistet die Bundeswehrführung einer Transformation des deutschen Militärs nach US-Vorgaben Vorschub, dies spiegelt nicht zuletzt eine stellenweise bizarr anmutende Fachterminologie wider. So ist neben dem im Deutschen und Englischen identischen Oberbegriff "Transformation" unter anderem die Rede von "Network Centric Warfare" rsp. "Vernetzter Operationsführung" oder von "Concept Development and Experimentation" rsp. "Konzeptentwicklung und experimenteller Überprüfung".

In solchen Begrifflichkeiten scheint sich eine Art esoterisches Militär-Schamanentum Bahn zu brechen. Es birgt das nicht zu unterschätzende Risiko, einen sich verselbstständigenden Militärapparat demokratischer Kontrolle zu entziehen. Angesichts dessen mag durchaus eine gewisse historische Ironie in dem Umstand liegen, dass es mit Dwight D. Eisenhower ein US-Präsident war, der vor dem schrankenlosen Einfluss eines - wie er sich ausdrückte - "Militärisch-industriellen Komplexes" gewarnt hatte.

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen

* Aus: Freitag 46, 5. November 2004


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