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Gewissen in Aufruhr

Das Bundesverwaltungsgericht rügt die rot-grüne Regierung wegen der faktischen Unterstützung des Irak-Krieges und stärkt den "Staatsbürger in Uniform"

Von Jürgen Rose*

Man ist geneigt, eine Träne der Verzweiflung zu weinen angesichts der Dreistigkeit und Ignoranz, mit der Protagonisten aus der rechtskonservativen Ecke der so genannten "Strategic Community" den Freispruch des Bundeswehrmajors Florian Pfaff vom Vorwurf der Gehorsamsverweigerung kommentieren, den der Zweite Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig jüngst gefällt hat. Soweit bekannt, handelt es sich bei Pfaff um den einzigen deutschen Soldaten, der den Mut hatte, sich Befehlen zu widersetzen, die ihn wissentlich an dem von den USA und Großbritannien angezettelten Angriffskrieg gegen den Irak beteiligt hätten.

Kernsätze der inzwischen dem Urteil nachgereichten Begründung lauten: "Der Soldat musste nicht damit rechnen, dass die an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) und damit auch an das geltende Völkerrecht gebundene Regierung der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit einem Krieg, gegen den gravierende völkerrechtliche Bedenken bestehen, militärische Unterstützungsleistungen zugunsten der USA und ihrer Verbündeten beschließen und erbringen würde, und dass in diesem Kontext des Irak-Krieges die nicht auszuschließende Möglichkeit bestand, dass er mit seiner konkreten dienstlichen Tätigkeit in solche Unterstützungshandlungen verstrickt würde. ... Auf dieser Grundlage formulierte der Soldat für sich die Schlussfolgerung, er sei ›nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch verpflichtet, nach Kräften passiv und aktiv für die Wiederherstellung des Rechts und eine Beendigung der Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an der mörderischen Besetzung des Irak durch die USA (und andere) einzutreten‹. Der daraus resultierende Gewissenskonflikt ist in sich schlüssig und damit nachvollziehbar. ... Der Soldat hat hier die ihm erteilten beiden Befehle nicht ausgeführt, die er aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht auszuführen brauchte, weil er aufgrund der Schutzwirkung des Grundrechts der Freiheit des Gewissens (Art. 4 Abs. 1 GG) einen Anspruch darauf hatte, dass ihm durch seine zuständigen Vorgesetzten eine gewissenschonende Handlungsalternative zur Verfügung gestellt wird. ... Sein Verhalten lässt im Übrigen keinerlei Rückschlüsse auf ein mangelhaftes und unzureichendes Pflichtenverständnis oder auf eine fehlende Gesetzes- und Rechtstreue zu."

Mit ihrem unmissverständlichen, konziser Rechtsauslegung folgenden Urteil haben die Leipziger Richter der rot-grünen Bundesregierung, der Bundeswehrführung, aber auch der NATO sowie allen bellizistischen Gernegroßen eine schallende Ohrfeige erteilt. Wie zu erwarten, setzt umgehend heftigste Urteilsschelte ein. Überraschend allerdings das bescheidene Niveau der von keinerlei Sachkenntnis getrübten Anwürfe. So gibt der einstige Bundesverteidigungsminister und vielzitierte Verfassungsrechtler Professor Rupert Scholz (CDU) zu Protokoll, ein Soldat habe nicht zu bewerten, ob ein Krieg völkerrechtswidrig wäre und er deshalb die Ausführung bestimmter Befehle verweigern dürfe. Gerade Berufssoldaten seien dem existenznotwendigen Prinzip von Befehl und Gehorsam verpflichtet. Deshalb könnten Rechtsfragen nicht Gegenstand einer Gewissensentscheidung des Soldaten sein mit der Maßgabe, den Befehl verweigern zu können. Diese Einlassungen sind schon insofern erstaunlich, als bereits jedem Rekruten der Bundeswehr von Anfang an beigebracht wird, dass er Befehle, durch die eine Straftat begangen würde, nicht befolgen darf (§ 11 Soldatengesetz). Dem kann ein Soldat freilich nur nachkommen, wenn er die Rechtmäßigkeit von Befehlen prüft, bevor er sie ausführt. Dass ein ehemaliger Inhaber von höchster militärischer Kommandogewalt offenbar über derartiges wehrrechtliches Basiswissen nicht verfügt, kann den Major Pfaff in seiner Haltung nur bestätigen.

Den Vogel bei der Deutung des Leipziger Urteils schoss der Vorsitzende des Deutschen BundeswehrVerbandes und notabene Volljurist, Oberst Bernhard Gertz, ab, als er allen Ernstes zum Besten gab, man müsse hinsichtlich der Gewissensfreiheit für Soldaten "unterscheiden zwischen Wehrpflichtigen und Zeit- sowie Berufssoldaten". Für den Berufssoldaten gälte "eine deutlich stärkere Pflichtenbindung". Je höher Status und Besoldung, desto gewissenloser die Haltung? Soll man daraus diesen Schluss ziehen? Konsequenterweise fordert Gertz denn auch eine Einschränkung der Gewissensfreiheit für Soldaten, die gefälligst dort ihre Grenze finden müsse, wo die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr betroffen sei. Gottlob obliegt hierzulande die Rechtssprechung immer noch Richtern in Roben und nicht Schwadroneuren in Uniform! Und mit ihrem Urteil in der Causa Pfaff haben jene sicherlich einen Meilenstein gesetzt, um demokratische Grundrechte für den Staatsbürger in Uniform zu sichern, der täglich einem hierarchischen Zwangs-, Disziplin- und Gewaltsystem unterworfen ist.

Wer die umfangreiche schriftliche Urteilsbegründung analysiert, stößt auf drei Themen, denen sich die Richter intensiv widmen. Zum einen beurteilen sie die völkerrechtliche Dimension des Irak-Krieges sowie die hierfür erbrachten Unterstützungsleistungen durch die Bundesrepublik Deutschland. Zum anderen legen sie die Grenzen der im Soldatengesetz niedergelegten Gehorsamspflicht dar und begründen deren Verhältnis zur grundgesetzlich verbrieften Gewissensfreiheit. Schließlich definieren sie die prozeduralen Kriterien, nach denen zu verfahren ist, geraten Soldaten in Gewissenskonflikte und weigern sich, bestimmte Befehle auszuführen.

Wer gehofft hat, das Bundesverwaltungsgericht würde den Irak-Krieg klar als völkerrechts- und verfassungswidrig einstufen und dem Soldaten Pfaff bescheinigen, er wäre zur Gehorsamsverweigerung gemäß Soldatengesetz verpflichtet gewesen, mag enttäuscht sein. Doch dazu besteht kein Anlass. Mit einer solchen Entscheidung hätte das Gericht lediglich die vorhandene Rechtslage bestätigt und die Möglichkeit zur Gehorsamsverweigerung allein auf die Fälle beschränkt, in denen die Völkerrechtswidrigkeit eines Krieges für jedermann eindeutig und unumstritten ist. Stattdessen haben die Richter den Ermessensspielraum auch auf all Fälle erweitert, die an der Rechtmäßigkeit einer Militärintervention zweifeln lassen. Gerät ein Soldat in einem solchen Fall mit seinem Gewissen in Konflikt und kann er dies glaubwürdig begründen, braucht er Befehlen nicht zu folgen, die in eine rechtliche Grauzone führen. Die wiederum fasst das Gericht sehr weit, indem es die Legitimität militärischer Gewaltanwendung strikt auf die in der UN-Charta vorgesehenen Fälle (Kap. VII und Art. 51) begrenzt: "Ein Staat, der sich - aus welchen Gründen auch immer - ohne einen solchen Rechtfertigungsgrund über das völkerrechtliche Gewaltverbot der UN-Charta hinwegsetzt und zur militärischen Gewalt greift, handelt völkerrechtswidrig. Er begeht eine militärische Aggression". Und - so das Gericht weiter mit Blick auf die deutschen Unterstützungsleistungen für die US-Aggression am Golf: "Eine Beihilfe zu einem völkerrechtlichen Delikt ist selbst ein völkerrechtliches Delikt."

Angesichts der in ständiger Einsatzbereitschaft gehaltenen Kontingente der NATO (Reponse Force/NRF) und der EU (Battle Group), die gegebenenfalls auch ohne Mandat des Sicherheitsrates weltweit zum Einsatz kommen, dürfte dies Folgen haben. Denn Angehörige dieser Formationen sind nach dem Leipziger Urteil berechtigt, sich in einem solchen Fall aus Gewissensgründen zu verweigern.

Darüber hinaus legen die Bundesverwaltungsrichter konzis die Bestimmungen des V. Haager Abkommens von 1907 dar, das die Neutralitätspflicht eines nicht an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Staates kodifiziert. Das in der Debatte um den Irak-Krieg kaum je erwähnte völkerrechtliche Abkommen, das 1992 Eingang in die vom Bundesverteidigungsminister erlassene Zentrale Dienstvorschrift 15/2 gefunden hat, birgt Implikationen, die im Rückblick auf das Jahr 2003 nachgerade atemberaubend erscheinen: Danach hätte sich die Bundesrepublik allenfalls auf der Seite des Opfers - also des Iraks - an dem militärischen Konflikt beteiligen dürfen, keinesfalls an der Seite des Aggressors USA. Da sie dies nicht getan hat, war sie zur Neutralität verpflichtet und durfte auf ihrem Territorium keine der Konfliktparteien unterstützen.

Verboten war es daher, deutsches Hoheitsgebiet (inklusive des Luftraums) für Truppen- und Versorgungstransporte jeder Art in Anspruch zu nehmen. Auch die auf deutschem Boden befindliche Kommunikations- und Führungsinfrastruktur durfte durch die kriegführenden Streitkräfte in keiner Weise genutzt werden. Die Bundesrepublik Deutschland wäre verpflichtet gewesen, aktiv gegen jede Neutralitätsverletzung tätig zu werden - notfalls mit Gewalt.

Die amerikanischen und britischen Streitkräfte, die sich auf deutschem Hoheitsgebiet befanden, wären daran zu hindern gewesen, an den Kampfhandlungen im Irak teilzunehmen - nach Beginn des Krieges wäre ihre Internierung unumgänglich gewesen. Mehr noch: Soldaten der USA und ihrer Verbündeten, die im Irak aktiv an Kampfhandlungen beteiligt waren, hätte man bei ihrer Rückkehr nach Deutschland in Haft nehmen müssen.

Aus dieser Analyse der Rechtslage leiten die Leipziger Richter jedenfalls "gravierende völkerrechtliche Bedenken" sowohl gegen den Irak-Krieg selbst als auch gegen die hierfür erbrachten deutschen Hilfsleistungen ab. Für das Gericht Grund genug, die ernsthafte Gewissensnot des Majors Pfaff vorbehaltlos anzuerkennen. Und weil in solchen Konfliktlagen die in Artikel 4 des Grundgesetzes garantierte Gewissensfreiheit absoluten Vorrang - auch vor der Funktionstüchtigkeit und Einsatzbereitschaft der Bundeswehr - hat, durfte dieser den Gehorsam verweigern: "Im Konflikt zwischen Gewissen und Rechtspflicht ist die Freiheit des Gewissens ›unverletzlich‹", bestätigen die Richter. Deshalb habe der Soldat Pfaff einen Rechtsanspruch auf Herstellung "praktischer Konkordanz" zwischen der Beachtung seines unveräußerlichen Grundrechts auf Gewissensfreiheit einerseits und den Erfordernissen des militärischen Dienstbetriebes andererseits besessen. Konkret bedeutete dies: seine Vorgesetzten hätten ihm eine mit seinem Gewissen vereinbare Handlungsalternative anbieten müssen. Hierin liegt schlussendlich der Grund dafür, dass er weder degradiert noch gar aus dem Dienstverhältnis entfernt werden durfte, sondern mittlerweile an das Sanitätsamt der Bundeswehr nach München versetzt wurde. Wo er weiter seiner "Pflicht zum treuen Dienen" nachkommt - frei nach der Maxime von Hans Scholl, dem Protagonisten der "Weißen Rose": "Es lebe die (Gewissens-)Freiheit!"

* Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.

Dieser Beitrag erscheint am 14. Oktober 2005 in der Wochenzeitung "Freitag" (www.freitag.de).
Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.



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