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Auslandseinsätze – Streit über Rechte des Bundestages

Ein Beitrag von Reinhard Mutz in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderation)
(...) Seit dem NATO-Gipfel wird in Deutschland wieder darüber gestritten, ob der sogenannte Parlamentsvorbehalt noch zeitgemäß ist. Hören Sie Reinhard Mutz:


Manuskript Dr. Reinhard Mutz

In den Verteidigungspolitischen Richtlinien, vor Jahresfrist von Verteidigungsminister de Maizière erlassen, schien die Welt noch in Ordnung. Beteuert wird dort:

Zitat VPR
„Die verfassungsrechtlich gebotene Einbindung des Deutschen Bundestages beim Streitkräfteeinsatz bleibt auch in Zukunft unverzichtbare Grundlage deutscher Sicherheitspolitik.“

Doch schon vier Absätze weiter folgt die Einschränkung:

Zitat VPR
„Ob und inwieweit die Zusammenarbeit in Bündnissen und die sich wandelnde Sicherheits- und Bedrohungslage rechtlichen Anpassungsbedarf nach sich ziehen, wird zu analysieren sein.“

Inzwischen ist die Katze aus dem Sack. Der NATO-Gipfel von Chicago hat einen Prüfauftrag erteilt. Untersucht werden soll, ob der Rationalisierungsnutzen von Waffensystemen, die das Bündnis künftig gemeinsam beschaffen und verwenden will, nicht durch nationale Einsatzvorbehalte unterlaufen wird. Die Frage zielt vor allem auf Berlin. Bereits im Vorfeld hatte die Kanzlerin den Bundestag darauf eingestimmt. Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung im Mai:

O-Ton Merkel
„Wie wir die Erwartungen auch an deutsche Beiträge zu gemeinsam bereitgestellten NATO-Fähigkeiten für den Fall eines Einsatzes mit den Bestimmungen des Parlamentsbeteiligungsgesetzes in Einklang bringen können, das müssen wir im Parlament noch intensiv diskutieren. Diese Diskussion kommt mit Sicherheit auf uns zu.“

Immerhin, soviel ist klar: Nicht ein Wandel der Bedrohungslage, sondern Erwartungen des Bündnisses werfen ein altes Streitthema wieder auf.

Mit ihrem neuen Konzept der Smart Defence – oder „klugen Verteidigung“ – reagiert die NATO auf das Diktat knapper Kassen in den Wehretats der Mitgliedsländer. Wo das Geld fehlt, um das volle Spektrum an Einsatzmitteln und Fachpersonal aufrecht zu erhalten, sollen sich einzelne Staaten arbeitsteilig auf bestimmte Fähigkeiten spezialisieren und ihre Bündnispartner bei Bedarf daran teilhaben lassen. Zu den vorgesehenen Aufgabenbereichen zählen u.a. der Lufttransport und die Seeaufklärung. Als Paradebeispiel eines vollintegrierten Verbandes gilt seit dreißig Jahren das in Deutschland stationierte AWACS-Geschwader der NATO. Es versieht die Überwachung des Luftraums in Europa. Einen Großteil der Besatzungen stellt die Bundeswehr.

Mehr Integration, mehr Zugriff von außen auf die Streitkräfte der Bündnisstaaten – die Forderung kollidiert mit der in Deutschland geltenden Rechtslage. Seit dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1994 muss die Bundesregierung vor Auslandseinsätzen der Bundeswehr die „konstitutive Zustimmung“ des Bundestages einholen. Ein zustimmungspflichtiger Einsatz liegt vor, so das Ausführungsgesetz von 2005, wenn - so wörtlich – „Soldatinnen oder Soldaten der Bundeswehr in bewaffnete Unternehmungen einbezogen sind oder eine Einbeziehung in bewaffnete Unternehmungen zu erwarten ist“. Darin besteht das Prinzip der Parlamentsarmee. Seit Chicago steht es auf dem Prüfstand.

Entsprechend heftig fiel die spontane Kritik aus. Von der Aufweichung des Parlamentsvorbehalts sprach der SPD-Politiker Gernot Erler, von der Unvereinbarkeit der Pläne mit dem Grundgesetz der Grünen-Fraktionsvorsitzende Jürgen Trittin. Die positiven Stimmen blieben in der Minderheit. Mit einem Unterton von Genugtuung schrieb der CDU-Abgeordnete und Präsident der Parlamentarischen Versammlung der NATO Karl A. Lamers:

Zitat Lamers
„Deutschland wird sich prinzipiell aus keiner NATO-Operation mehr heraushalten können.“

Fest steht: In seiner gegenwärtigen Form soll der Parlamentsvorbehalt nicht beibehalten werden. Zu Art und Umfang der Änderung kursieren unterschiedliche Vorstellungen. In einem Interview der Wochenzeitung DIE ZEIT zum NATO-Gipfel lautete die Frage an den Verteidigungsminister, ob Deutschland darauf verzichten werde, über den Einsatz seiner Soldaten selbst zu entscheiden. Die Antwort von Thomas de Maizière:

Zitat de Maizière
„Noch sind wir nicht soweit. Wichtig ist aber: Das deutsche Parlament wird nicht auf ein Rückholrecht verzichten müssen.“

Derzeit ist das Rückholrecht eine weitgehend symbolische, die Einsatzentscheidung hingegen die zentrale Parlamentsbefugnis.

In Chicago selbst erläuterte Minister de Maizière eine andere Version der Gesetzesnovellierung:

O-Ton de Maizière
„Wenn es eine gemeinsame Befähigung zur Luftbetankung gibt und Deutschland oder Frankreich oder Großbritannien in einer bestimmten Phase mit seinen Flugzeugen dafür sorgt, dass Strahlflugzeuge betankt werden, und selbst dann, wenn wir uns an einem Einsatz nicht beteiligen, muss sichergestellt sein, dass die Luftbetankung funktioniert.“

Und wie wäre das zu bewerkstelligen?

O-Ton de Maizière
„Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass man den Deutschen Bundestag früh beteiligt, nämlich bei der gemeinsamen Entscheidung über eine solche Fähigkeit. Dann ist das Parlament gefragt und hat zugestimmt und gleichwohl steht dann eine solche Fähigkeit zur Verfügung.“

Über den Einsatz der Flugzeuge und ihrer Besatzungen soll der Bundestag in einem solchen Fall offenbar nicht mehr befinden können. Auch diese Variante würde den Wesenskern der Parlamentsbeteiligung außer Kraft setzen.

Was ist ein Routinevorgang, was ein bewaffnetes Unternehmen? Auslegungsstreit dieser Art kommt unweigerlich auf die deutsche Debatte zu. Einen Vorgeschmack lieferte im vergangenen Jahr die NATO-Mission UNIFIED PROTECTOR – so hießen die Luftangriffe auf Libyen. Das Bündnis überführte die beteiligten Kommandoeinrichtungen vom Friedens- in den Einsatzmodus und stockte die Personalstärke um 250 Dienstposten auf, darunter elf deutsche Soldaten. Als der Abgeordnete der Grünen Hans-Christian Ströbele die unterlassene Mandatierung durch den Bundestag anmahnte, verwies das Ministerium auf die eingespielte Praxis, wonach bei Entsendung von Soldaten in ständige Stäbe der NATO das Parlament nicht befasst wird.

Folglich waren nach amtlicher Sicht auch die Verstärkungskräfte der Bundeswehr in kein bewaffnetes Unternehmen einbezogen. Wirkt also an Kampfhandlungen nur mit, wer eine Bombe zündet, nicht aber auch derjenige, der das Ziel auswählt? In seinem gerade erschienenen Buch über das westliche Bündnis berichtet der Hamburger Publizist Theo Sommer, dass es ein Oberst der Bundeswehr war, der während des Libyenkriegs, an dem sich Deutschland nicht beteiligte, im regionalen Oberkommando der NATO die Zielplanung leitete.

Die Bundeswehr befindet sich im Wandel von einem Instrument für den existenziellen Notfall zum Mittel sicherheitspolitischen Alltagsgebrauchs. In der Einstellung zu den Aufgaben von Streitkräften treffen jedoch in Deutschland nach wie vor zwei völlig unterschiedliche Mentalitäten aufeinander. Die Regierung sieht sich dem Drängen ihrer Partner gegenüber, generell mehr militärisches Engagement zu zeigen. Sie neigt dazu, der Erwartung nachzukommen. In einem Zeitungsinterview vom September vergangenen Jahres bemerkte der Verteidigungsminister:

Zitat de Maizière
„Die Anfragen an Deutschland werden zunehmen. Und wir können nicht immer Nein sagen.“

In der Bevölkerung findet diese Auffassung kaum Rückhalt. Das erweisen seit Jahr und Tag die demoskopischen Umfragen und es bestätigt einmal mehr eine empirische Vergleichsstudie vom Herbst 2011. Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr hat in acht europäischen Ländern dieselben Daten erhoben. Danach lag der Anteil der Befragten, der befürwortet, dass sein eigenes Land zur Lösung internationaler Krisen und Konflikte außer politischen auch militärische Mittel einsetzt, in der Bundesrepublik bei lediglich 14 Prozent. In Großbritannien waren es 50 Prozent.

* Aus: NDR Info "Streitkräfte und Strategien", 16. Juni 2012


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