Sicherheit ohne Konzept
Die Reform der Bundeswehr steht auf tönernen Füßen
Von Reinhard Mutz
Den folgenden Beitrag des Hamburger Friedensforschers Reinhard Mutz entnahmen wir der Wochenzeitung "Freitag". Es handelt sich dabei um eine gekürzte Fassung aus dem diesjährigen "Friedensgutachten" . Wir dokumentieren den Artikel in Auszügen.
...
Bei aller Skepsis gegen Superlative - hier trifft er zu: Die Bundeswehr
erfährt derzeit den einschneidendsten Umbau in den 45 Jahren ihres
Bestehens. Sie wird kleiner, wenngleich nicht billiger, dafür beweglicher
und mit mehr Berufssoldaten bei weniger Wehrpflichtigen professioneller.
Sie tauscht das schwere Gerät, das ihren Wirkungsradius mehr oder
minder auf das Bundesgebiet beschränkte, gegen eine leichtere, über
größere Entfernungen rasch verlegbare Bewaffnung. Mit der neuen
Ausrüstung erwirbt sie neue Fähigkeiten. Sie erhält einen mächtigeren
Generalinspekteur, der mit Hilfe eines "Einsatzrates", einer eigenen
Operationsabteilung in seinem Führungsstab und eines
Einsatzführungskommandos Operationen der Bundeswehr plant,
vorbereitet und lenkt. Der Umfang der voll präsenten Kampftruppen -
vormals Krisenreaktionskräfte, jetzt Einsatzkräfte - wird verdreifacht. Dafür
entfallen die mobilisierungsabhängigen Hauptverteidigungskräfte. Man wird
sich an mehr Soldatinnen gewöhnen, auch in Kampfverbänden, und an eine
schrumpfende Anzahl militärischer Standorte in der Bundesrepublik. All
diese organisatorischen, administrativen und technischen Neuerungen sind
ausführlich beschrieben und in einer gewissen Breite auch öffentlich
erörtert worden.
Vergleichsweise knapp beschrieben und so gut wie gar nicht öffentlich
diskutiert sind bisher die konzeptionellen Prämissen der Armeereform und
die strategischen Implikationen, die damit einhergehen. Für die politische
Geschichte der Bundesrepublik stellen sie eine möglicherweise noch
tiefgreifendere Zäsur dar, als für die deutschen Streitkräfte selbst. Es ist
der Wandel des Auftrags, der die Reform der Bundeswehr zu einer Art
Neugründung macht. Karl Feldmeyer, ein fachkundiger Kommentator und
profilierter Befürworter der Umgestaltung umschreibt den Auftragswandel in
der FAZ vom 19. Oktober 2000 so: "Verteidigung ist für diese Armee,
ebenso wie für die Nato, kaum mehr als eine Erinnerung an die eigene
Entstehungsgeschichte... Aus einer Armee, die ... kampffähig sein sollte,
um nicht kämpfen zu müssen, wird eine Armee, deren Existenzgrund die
Einsicht ist, daß sie gegebenenfalls eingesetzt werden muß, um die
Interessen des eigenen Landes und des westlichen Bündnissystems zu
schützen. ... Gestern geschah das in Bosnien, heute auch im Kosovo,
morgen womöglich auf den Golan-Höhen oder im Golf." Daraus folgt: "Zur
Bereitschaft, den eigenen Staat auf seinem Territorium gegen einen
Aggressor zu verteidigen, muß diejenige kommen, notfalls ein anderes
Land anzugreifen ... und zwar gegebenenfalls sogar ohne einen
legitimierenden Beschluß der Vereinten Nationen."
... Die politische und militärische Führung der Streitkräfte formuliert so
nicht. Sie wählt ein weniger drastisches Vokabular. Gleichwohl gelangt sie
in der Sache zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Erfordert aber eine so
fundamentale Umdeutung von Sinn und Zweck der Bundeswehr nicht eine
vergleichbar umfassende sicherheitspolitische Begründung? Sie steht
bisher aus.
...Wer oder was gefährdet die Sicherheit der Bundesrepublik? Wer oder
was bedroht unsere Verbündeten? Was können Streitkräfte und Rüstungen
dagegen ausrichten? Welcher militärischen Abstützung bedarf
möglicherweise zivile Krisenprävention? Erst dann wäre der Grund gelegt
für die politische Konklusion: Worin besteht künftig der Auftrag der
Bundeswehr? Wie und womit kann sie ihn erfüllen?
Das neue Fähigkeitsprofil der Bundeswehr, so ihr ranghöchster General,
(Harald Kujat - d.R.) muss drei Anforderungen gerecht werden: "dem
verfassungsmäßigen Auftrag, dem erweiterten Aufgabenspektrum und
unseren internationalen Verpflichtungen". Was wird darunter verstanden,
was hat es damit auf sich?
Die deutsche Verfassung beschränkt den Auftrag der Bundeswehr
ausdrücklich auf die Landesverteidigung und definiert den Verteidigungsfall
als Angriff mit Waffengewalt auf das Bundesgebiet. Daraus darf nicht
gefolgert werden, die alte Bundesrepublik, die sich selbst in hohem Maße
als schutzbedürftig empfand, wäre nicht bereit gewesen, ihrerseits
Beistand zu leisten, wenn einer ihrer Verbündeten ihn benötigt hätte ...
Politisch strittig war das Prinzip der kollektiven Selbstverteidigung nie.
...Die Bundesrepublik hat sich festgelegt und muss dazu stehen:
Bündnisverteidigung ist ein Bestandteil des Auftrags deutscher Streitkräfte
- wenngleich nicht von Verfassungsrang, so doch als Folge der vor fast
einem halben Jahrhundert eingegangenen und stets hochgehaltenen
vertraglichen Verpflichtung.
Andererseits: Gleicht die Sicherheitslage von einst auch nur im
entferntesten der gegenwärtigen? Hat die NATO von heute noch einen
ernstzunehmenden strategischen Gegner?... Eingestandenermaßen geriet
nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation die kollektive Verteidigung
zum Einsatzfall mit der "geringsten Eintrittswahrscheinlichkeit". Warum
markiert sie dann immer noch den Kernauftrag der Bundeswehr,... während
gleichzeitig die Krisenbewältigung zum künftig wahrscheinlichsten
Einsatzfall erklärt wird, auf den nahezu alle Planungsdaten der
Strukturreform ersichtlich zulaufen?...
Was der verfassungsmäßige Auftrag an Legitimation militärischer
Personal-, Ausrüstungs- und Einsatzplanung nicht länger hergibt, muss
das erweiterte Aufgabenspektrum kompensieren. Worin genau dieser
zusätzliche Aufgabenkatalog besteht, bleibt offen. Keine amtliche Quelle
liefert eine randscharfe Definition. ... Um aus den generellen Feststellungen
und Hypothesen operative Einsichten zu gewinnen, fehlen wesentliche
Verbindungsglieder. Was ist überhaupt neu an den "neuen" Risiken? Was
rechtfertigt die Zuversicht, dass politisch verursachte Spannungen auf
militärische Instrumente ansprechen? Und wieso sind es gerade die
Bundesrepublik und deren Bündnispartner, denen aus potenziellen
Krisenlagen außerhalb ihres politischen Zuständigkeitsbereichs
"erweiterte" militärische Aufgaben zuwachsen? Der letzten Frage
begegnen die deutschen Stellungnahmen mit einem Kunstgriff, der sie der
Notwendigkeit einer eigenen Antwort enthebt: Sie verweisen auf das neue
Strategische Konzept der NATO.
Dort findet sich zwar ebenso wenig eine in sich stimmige Begründung für
die Ausweitung der Bündnisaufgaben in funktionaler wie geografischer
Hinsicht, aber als Faktum zählt, dass die NATO sich dafür entschieden
hat. Die Bundesrepublik war an der Entscheidungsbildung beteiligt, sie
trägt den Beschluss mit und ist politisch daran gebunden. Seit zwei Jahren
gehört sie einem Bündnis an, dessen Zweck de facto von der kollektiven
Selbstverteidigung zur militärischen Intervention umgewidmet wurde. ...
Auch macht das Dokument deutlich, dass dazu ein UN-Mandat nicht als
unerlässlich erachtet wird: Auswahl, Koordination und Kontrolle der
Maßnahmen sollen "wie bei jeder Gewaltanwendung durch das Bündnis"
den politischen Gremien der Allianz obliegen. ...
Als Teil der internationalen Gemeinschaft und Mitglied der Vereinten
Nationen unterliegt die Bundesrepublik den Pflichten des Völkerrechts. Die
UN-Charta bestimmt unzweideutig, welche beiden Ausnahmen die
Abweichung vom generellen Gewaltverbot zulassen: die Selbstverteidigung
sowie die Wiederherstellung des Friedens und der internationalen
Sicherheit. Die Charta regelt ebenso unmissverständlich, wer allein über
das Vorliegen des Ausnahmefalls und über die dann zu treffenden
Maßnahmen befinden kann: der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
Einen Hinweis auf die Bindung der Bundesrepublik an die Normen des
Völkerrechts sucht man unter dem Stichwort internationaler
Verpflichtungen deutscher Sicherheitspolitik vergebens. Die faktische
Verdrängung der Vereinten Nationen durch die westliche Allianz aus den
Sicherheitsbeziehungen zumindest der nördlichen Hemisphäre hat die
deutsche Politik ohne Vorbehalt nachvollzogen ...
Unter internationalen Verpflichtungen verstehen die Planungsdokumente
zur Bundeswehrreform etwas anderes als die strikte Bindung von
Einsätzen deutscher Streitkräfte an die Vorschriften des Völkerrechts.
Gemeint sind militärische und rüstungspolitische Beteiligungsleistungen,
die Deutschland der NATO und neuerdings auch der Europäischen Union
in Aussicht gestellt hat ...
Aus dem Planungsvorgaben der NATO und der Europäischen Union
ergeben sich die nationalen Streitkräfteziele. Gleichsam aus dem Stand ...
will die Bundeswehr ausreichende Kräfte bereitstellen, um an entweder
einer großen oder an zwei gleichzeitig ablaufenden mittleren Operationen
teilnehmen zu können sowie jeweils zusätzlich an mehreren kleinen
Operationen. Dabei gilt als große Operation ein Einsatz von bis zu 50.000
deutschen Soldaten für einen Zeitraum von bis zu einem Jahr. Eine mittlere
Operation bedeutet die Abordnung von bis zu 10.000 Soldaten über
mehrere Jahre. Eine der beiden mittleren Operationen soll künftig auch
durch die EU geführt werden können. ... In vier dieser Szenarien ist die
Bundeswehr eingebunden, nämlich in Nordnorwegen, in Polen, an den
türkischen Meerengen samt der Ägäis sowie in Südanatolien entlang der
türkischen Grenze zu Syrien und dem Irak.
... Wie die neue NATO-Strategie das erweiterte Aufgabenspektrum der
Bündnisstreitkräfte begreift, kann herausfinden, wer durch die Schale
verfremdender Rhetorik bis zu den Kernaussagen des Dokuments
vordringt. Danach endet alle Transparenz. Die Umsetzung in
Planungsziele, Streitkräfteplafonds, Kommandostrukturen,
Einsatzszenarien, Rüstungsinvestitionsprogramme geschieht in Brüssel,
wird dort verhandelt und dort verabschiedet. Als sakrosankte "internationale
Verpflichtungen" gelangen sie in den nationalen Politikprozess zurück.
Befragt, gar in Zweifel gezogen werden dürfen sie hier nicht mehr - die
Bündnisfähigkeit stünde auf dem Spiel.
Dabei sind es gerade die Schnittstellen zwischen Verfassungsauftrag und
Bündnisstrategie, zwischen Aufgabenspektrum und Bedarfserhebung, die
auf den Prüfstand gehören. Das Friedensgebot des Grundgesetzes
kontrastiert mit dem Interventionskonzept der Allianz. Der veranschlagte
Mittelbedarf passt nicht zum Lagebild. Welcher der neuen Gefahren wäre
denn mit einem Großeinsatz der Bundeswehr entgegenzutreten, der
50.000 deutsche Soldaten ein Jahr lang bindet, zusätzlich zu Aufgeboten
proportionaler Größenordnung aus den anderen Bündnisstaaten? Wo
zeichnen sich potenzielle Anlässe für zwei parallele mittlere Operationen
ab? Woran bemessen sich die dekretierten Kräfteansätze und wie werden
sie ermittelt? Existiert überhaupt eine realitätskonforme
sicherheitspolitische Risikoanalyse?
... Drei der vier Einsatzräume, in denen die Bundeswehr aushelfen müsste,
machen deutlich, dass aus Brüsseler Sicht der neue Kontrahent noch
immer der alte ist: Moskau.... Auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, urteilt die
NATO, geht von (der russischen -d.R.) Armee keine Gefahr für Westeuropa
mehr aus. Natürlich bleiben die Kernwaffen.... Aber nukleare Waffen waren
stets ein Abschreckungsinstrument, nie ein Erzwingungsmittel - zum
operativen Machtpoker sind sie ungeeignet....
Die Bundesrepublik hat achtzehn Alliierte, zusammen halten sie rund vier
Millionen Soldaten unter Waffen. Ein politischer Gegner, gar ein halbwegs
ebenbürtiger, ist weit und breit nicht in Sicht. Russlands Armee zählt noch
eine Million Soldaten. Weitere Abrüstungsschritte, vorzugsweise allseitig,
vereinbart und kontrolliert, wäre das Gebot der Sicherheitssituation
Europas. Selbst wenn der Westen zunächst voranginge, geriete er lange
nicht in eine kritische Lage. Warum die stattlichen deutschen
NATO-Verpflichtungen dennoch keine Abstriche dulden, erklärt die
Bundeswehrspitze (damit, dass) eine signifikante Reduzierung des
deutschen Beitrages ... nicht nur vor dem Hintergrund der Jahrzehnte lang
bewiesenen Bündnissolidarität gegenüber Deutschland Unverständnis
unserer Partner hervorrufen, sondern auch dazu führen (würde), dass die
Umsetzung deutscher Sicherheitsinteressen aufgrund eines geminderten
Einflusses schwieriger würde. Viel deutlicher lässt sich kaum ausdrücken,
dass dem Umfang des Militärbeitrages der Bundesrepublik ein zwingendes
militärisches Erfordernis nicht zugrunde liegt.
...
... Prävention oder Intervention? Politische vor militärischer
Sicherheitsvorsorge? Die deutsche Politik ist unentschieden. Sichtbar
umgesteuert hat sie bisher nicht. Vor allem davon hängt aber ab, ob die
Bundeswehr, wie sie nicht müde wird zu beklagen, unterfinanziert ist oder
mit dem jetzt angestrebten Präsenzumfang von 285.000 Soldaten und
einer Aufwuchsstärke bis zu 500.000 Soldaten noch immer
überdimensioniert.
Hat sich die Bundesrepublik mit ihrer Zustimmung zur neuen
Allianzstrategie unwiderruflich auf den Kurs militärischer Krisenbewältigung
festgelegt? Ist Interventionspolitik jetzt Bündnispflicht? ...Es hängt von den
Mitgliedstaaten ab, zu entscheiden, welche Entwicklung sie fördern wollen.
Keine Bündnispflicht entbindet sie von der eigenen Verantwortung. Nicht
einmal die Kernbestimmung des NATO-Vertrages, das kollektive
Beistandsgebot, schreibt den Mitgliedern die Wahl der Mittel vor. Um wie
viel weniger sind sie dann gehalten, im Gleichschritt zu marschieren, wenn
es um Vorhaben geht, die der Bündnisvertrag gar nicht vorsieht.
Vollends unbegründet wäre die Sorge der Bundesregierung, in einer
internationalen Krise zwischen Normen des Völkerrechts und dem
politischen Postulat der Bündnissolidarität wählen zu müssen. Was dem
Völkerrecht widerspricht, lässt auch der Nordatlantikvertrag nicht zu. Die
Bundesrepublik schuldet ihren Alliierten Beistand zur Abwehr eines
bewaffneten Angriffs, sie schuldet ihnen nicht Beihilfe zur Führung eines
bewaffneten Angriffs. Ferner schuldet sie ihnen, internationale Streitfälle,
an denen sie beteiligt ist, so zu regeln, dass Frieden und Sicherheit nicht
gefährdet werden sowie jede Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu
unterlassen. Sollte sich das Bündnis über das Gewaltverbot hinwegsetzen,
wie im Kosovo-Krieg geschehen, missachtet es außer der Charta der
Vereinten Nationen auch seine eigenen vertraglichen Grundlagen. ...
... Verteidigung einerseits, Friedenssicherung nach den Normen und in der
Verantwortung der internationalen Rechtsgemeinschaft andererseits, sind
die beiden Aufgaben, die den Einsatz militärischer Streitkräfte legitimieren.
Eine wirklichkeitsnahe Bedarfsanalyse, die den Umfang, die Ausrüstung
und den Finanzrahmen der Bundeswehr daran bemisst, steht weiterhin
aus. Größe, Einwohnerzahl, Wirtschaftskraft und politisches Gewicht
eines Landes sind hingegen ebenso wenig legitime Richtgrößen für
nationale Armeen und Rüstungen wie das Argument, die wiedererlangte
Souveränität verpflichte Deutschland zu mehr militärischem Engagement.
Souveränität beweist ein Staat, der die Streitkräfte vorhält, die er für eine
friedensverträgliche Sicherheitspolitik wirklich braucht. Souveränität lässt
vermissen, wer sich Streitkräfte leistet, die er seinem Status schuldig zu
sein glaubt. Solange Regierung, Parlament, Parteien und demokratische
Öffentlichkeit in der Bundesrepublik diese Diskussion nicht führen, steht
die Reform der Bundeswehr auf tönernen Füßen.
Aus: Freitag, Nr. 24, 8. Juni 2001
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