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Ohne "Mastkorb" hinaus in die Heimat

Anmerkungen zur Deutschen Marine und zum Piratentum auf See

Von René Heilig *

»Seemann, deine Heimat ist das Meer ...« Umtata ... trallala ... So oder so ähnlich trällern Küstenbarden im gestreiften T-Shirt und mit Kapitänsmütze. Und die Zuhörer schunkeln, als würde der Saal aufs Meer hinaus treiben. Weder für solche Lieder noch fürs Schunkeln hat die Deutsche Marine einen Nerv. Sie ist beansprucht wie keine zweite Teilstreitkraft der Bundeswehr. Und doch: Sogenannte Auslauflieder stehen auch bei den Militärs zur See wieder hoch im Kurs. Auf einem Schiff wird »Major Tom« von Peter Schilling gespielt, auf einem anderen Wagners »Ritt der Walküren«, Schnellboote machen sich mit einem Thema aus Indiana Jones davon, auf einer Fregatte hört man zu solchen Gelegenheiten das »Lied vom Tod«.

Wenn auf der Korvette »Braunschweig«, dem jüngsten und modernsten Schiff der Bundeswehr – manche erweitern das technische Lob auf den europäischen NATO-Bereich – das Kommando »Leinen los!« gegeben wird, erklingt aus den Bordlautsprechern eine Westernmelodie. Das Lied wurde in den vergangenen Wochen mehrmals gespielt, denn die »Braunschweig« hat ihren ersten Abstecher in die Welt unternommen. In 60 Tagen einmal halb um die Erde – zumindest nach Seemeilen gerechnet. Das Schiff nahm Ende April Kurs auf Sizilien und dort teil an der Übung »Mare Aperto«. Hat sich was mit »offenem Meer«, gerade in der Region! Hier sterben täglich Menschen auf ihrem Hoffnungsweg nach Europa, das sich gar nicht offen präsentiert. Die »Braunschweig« fuhr weiter durch den Suezkanal, um sich dann im Roten Meer künftigen Einsatzbedingungen zu stellen.

Flimmernde Hitze und über 30 Grad Wassertemperatur signalisieren dort bisweilen das Ende der menschlichen und technischen Leistungsfähigkeit. Nicht so auf der Korvette. »Alles gut gelaufen«, sagt Kommandant Axel Herbst. Und übertreibt da doch ein klein wenig, denn der »Braunschweig« fehlt etwas ganz Wesentliches: der »Mastkorb«. Egal ob Piraten- oder Handelsschiff, kluge Kapitäne trieben seit jeher Leute mit scharfem Blick hinauf, um Rundumschau zu halten. Wer den Feind zuerst sah, hatte Vorteile im Kampf. So ist das noch heute, wenngleich der Mastkorb elektronisch besetzt ist.

Die »Braunschweig« hat, wie ihre noch in Dienst zu stellenden vier Schwesterschiffe, auf der Back einen Hangar. Dort, so wünschten es sich die Konstrukteure, sollte der zeitgemäße »Mastkorb« untergebracht werden. Eine Drohne, also ein kleines unbemanntes Flugzeug. Doch der Hangar ist leer, die Drohne aus entwicklungstechnischen und finanziellen Gründen gestrichen. Vorerst. Ende des Jahres, so meint der Chef des 1. Korvettengeschwaders in Warnemünde, wird man eine Lösung erproben. Nicht ganz das, was man sich wünscht, aber immerhin.

Die Drohne ist das Herzstück der »Braunschweig«-Serie, die für weltweite Einsätze vor fremden Küsten konzipiert wurde. Mit ihr kann die Schiffsführung weit in fremde Territorien schauen, ohne selbst erkannt oder gar für übermäßiges Interesse bestraft zu werden. Und wenn es zum Ernstfall kommt, kann die Drohne Ziele aufklären, die man mit punktgenau treffenden Raketen bekämpft, um Landungseinheiten den Weg frei zu machen.

Dennoch, ganz so erfolglos wie man meinen könnte, war der erste Einsatz der »Braunschweig« trotzdem nicht. Warum nicht, erhellte Kapitänleutnant Torsten Brotke unlängst auf einer internen Marinefachtagung. »Nachrichtengewinnung und Aufklärung ist unsere tägliche Arbeit, unabhängig, ob wir uns im Einsatz, in einem Manöver oder auf einer Ausbildungsfahrt befinden.« Und da ist – laut Bundeswehr-Generalinspekteur – jeder Mann und jede Frau gefordert, um »mit eigenen Erkenntnissen zur Lagefeststellung beizutragen …« Spezialist Brotke vom Marinefliegergeschwader 3 nimmt nicht einmal Verbündete, Gäste oder Gastgeber beim Hafenbesuch von der Bespitzelung aus, denn: »Jede Information kann von Wert sein!«

Ein Beispiel für massive Aufklärungsarbeit ist der Einsatz im Rahmen der US-Operation Enduring Freedom. Seit 2002 ist die NATO-Taskforce 150 unter anderem fünfmal mit deutschem Kommando gefahren – in einem Seegebiet, dass 2,4 Millionen Quadratseemeilen misst und durch das wesentliche internationale wie regionale Handelswege führen. Die Straße von Hormuz, Bab al Mandeb und der südliche Eingang des Suez-Kanals sind Schlüsselstellungen an der Globalisierungsfront. Demnächst wird ein deutscher Seeaufklärer vom Typ »Orion« aus Brotkes Geschwader die bisher von Fregatten geleistete Aufklärungsarbeit übernehmen.

Die NATO hat inzwischen ein reichhaltiges Datenarchiv, das nicht zuletzt mit Hilfe der deutschen Kriegsschiffe und ihrer Bordhubschrauber gefüllt wurde. Auch die sogenannten Boarding-Teams, die fremde Schiffe angeblich auf der Jagd nach Terroristen durchsuchen, füttern die Sammlung mit Schiffs- und Personaldaten sowie zahlreichen Fotos und Videoaufnahmen. Wer derart in Anspruch genommen wird, hat für den Kampf gegen die zunehmende, aber nur »gewöhnliche« Piraterie natürlich keine Zeit.

Ein anderer Operationsraum ist das Mittelmeer. Deutsche U-Boote sind dort Stammgast und kommen mit reicher Beute heim. Präsenz zeigt die Marine vor Libanon. Im Rahmen von UNIFIL II will man angeblich Nachschub für die Hisbollah verhindern. Den es über See gar nicht gibt. Und so hat man genügend Zeit, für J2 zu arbeiten. In den J2-Abteilungen der Bundeswehr werden alle nachrichtendienstlichen Meldungen gesammelt, analysiert und bewertet, die Auslandseinsätze der Bundeswehr betreffen. Die Zusammenarbeit mit dem BND läuft bestens und die so gewonnenen Erkenntnisse sind nicht selten begehrtes Tauschobjekt für Partnerdienste.

Neben »offiziellen« Kriegs- und Versorgungsschiffen aus Deutschland tauchen auch immer wieder sogenannte Flottendienstboote der Oste-Klasse auf. Sie haben ohne Unterstützung einen enormen Fahrbereich von rund 5000 Seemeilen. Die drei schwimmenden Aufklärungsplattformen »Oste«, »Oker« und »Alster« können mit ihrer Sensorik fremden Funkverkehr und andere Datenübermittlungen verfolgen und verschiedene Standorte anpeilen, selbst wenn die weit im Landesinneren liegen. Nicht ohne Grund haben israelische Kampfjets 2006 Scheinangriffe gegen die »Alster« geflogen und den bisweilen befreundeten Deutschen ein paar Schüsse vor den Bug gesetzt. Doch davon war längst keine Rede mehr, als die »Braunschweig« unlängst im Hafen von Elath festgemacht hat.


Seeverkehr, Schifffahrt, Fischerei, Offshore-Öl- und Energiegewinnung spielen eine immer größere Rolle. Über 50 Prozent der Weltbevölkerung leben heute an Küsten. Die UNO schätzt, dass sich dieser Anteil in wenigen Jahren auf 70 Prozent erhöhen wird. 95 Prozent im Ferngüterhandel werden über See abgewickelt. Deutschland ist extrem abhängig von Rohstoffimporten. Mangan, Chrom, Kupfer, Titan, Eisenerz werden zu fast 100 Prozent über See angelandet. Der Bedarf an Rohöl wächst. Im sogenannten islamischen Krisenbogen des Nahen und Mittleren Ostens lagern 57 Prozent der förderbaren Erdölreserven. »Die sicherheitspolitische Lage erfordert deshalb eine auf Vorbeugung und Eindämmung von Krisen und Konflikten zielende Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die das gesamte Spektrum sicherheitspolitisch relevanter Instrumente und Handlungsoptionen umfasst …«, schreibt das Flottenkommando im aktuellen Jahresbericht. Das lässt keine Fragen offen.

Die Piraten werden immer dreister. Gerade am Horn von Afrika, wo die Deutsche Marine auf See und in der Luft ihre Kreise zieht, um Terroristen zu fangen. Doch obwohl die Bundesrepublik das UN-Seerechtsabkommen von 1982 im Jahr 1994 ratifiziert hat, das die Befugnis zum Aufbringen von Piratenschiffen erlaubt, hat Deutschlands Marine noch nicht einen einzigen Versuch zur Unterbindung des Piratenunwesens unternommen. In den Antworten auf eine parlamentarische Anfrage der FDP spricht die Bundesregierung davon, dass der entsprechende Artikel 100 des Seerechtsabkommens nur »eine Bemühensverpflichtung« sei, die »die Auswahl geeigneter Maßnahmen grundsätzlich der Wahl der betroffenen Staaten überlässt«. Obwohl man sich bei der Erfüllung anderer UN-Resolutionen – beispielsweise zur Operation Enduring Freedom oder UNIFIL II – sofort in die erste Reihe drängt, ist die Diskussion in Sachen Piratenabwehr in der Bundesregierung »noch nicht abgeschlossen«.



* Aus: Neues Deutschland, 25. Juni 2008


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