Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ein Jahr nach dem Luftangriff bei Kundus – Schlussstrich unter verheerender Militäroperation?

Ein Beitrag von Andreas Dawidzinski aus der NDR-Reihe "Streitkräfte und Strategien"

Andreas Flocken (Moderation):
In der kommenden Woche jährt sich der verheerende Luftangriff auf zwei gekaperte Tanklaster bei Kundus. Durch den Angriff am 4. September wurden mehr als 100 Menschen getötet oder verletzt, unter ihnen auch Zivilisten und Kinder. Spätestens mit dem Luftschlag wurde der deutschen Öffentlichkeit deutlich vor Augen geführt, dass sich die Bundeswehr in Nordafghanistan im Krieg befindet. Das aber hat die Bundesregierung, allen voran der damalige Verteidigungsminister Jung, immer wieder entschieden bestritten. Zwar beschäftigt sich zurzeit noch ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit der Kundus-Affäre - das Verteidigungsministerium möchte das Kapitel Luftangriff aber am liebsten schließen. Hören Sie Andreas Dawidzinski:

Manuskript Andreas Dawidzinski

Knapp ein Jahr nach dem Luftangriff hat die Bundeswehr jetzt versucht, einen Schlussstrich unter die Affäre zu ziehen. Im August erklärte sich das Verteidigungsministerium nach monatelangen Verhandlungen bereit, an jede betroffene Familie 5.000 Dollar zu zahlen. Die Zahlung will man als „humanitäre Hilfsleistung“ und nicht als Entschädigung im Rechtssinne verstanden wissen. Eine beschämend niedrige Summe, monieren Kritiker. Und in der vergangenen Woche wurde entschieden, dass es gegen Oberst Georg Klein kein Disziplinarverfahren geben werde. Der Offizier war im vergangenen Jahr Kommandeur in Kundus und hatte den Luftangriff veranlasst.

Bereits im April war die Bundesanwaltschaft zu dem Schluss gekommen, dass mit dem Angriff nicht gegen das Völkerstrafgesetzbuch verstoßen worden sei. U.a., weil nach Ansicht der Anklagebehörde der Oberst davon ausgehen durfte, dass keine Zivilisten vor Ort waren.

Auf den ersten Blick ist es daher keine Überraschung, dass nun auch die disziplinarischen Vorermittlungen eingestellt worden sind. In der Pressemitteilung des zuständigen Heeresführungskommandos heißt es:

Zitat Heeresführungskommando
„Gegenstand der disziplinaren Prüfung war, ob Oberst i.G. Klein mit seinem Handeln im Rahmen der VN mandatierten ISAF-Mission gegen die zum Ereigniszeitpunkt gültigen nationalen wie internationalen Einsatzregeln verstoßen hat. Diese Vorermittlungen gemäß der Wehrdisziplinarordnung sind nunmehr abgeschlossen: Anhaltspunkte für ein Dienstvergehen haben sich nicht ergeben.“

In der Bundeswehr und auch in den Regierungsparteien ist diese Entscheidung mit Erleichterung und Zustimmung aufgenommen worden. Eine verständliche Reaktion. Doch es bleiben Fragen. Denn Verteidigungsminister zu Guttenberg hatte nach einem Zickzack-Kurs zuletzt den Luftangriff im Bundestag als „militärisch nicht angemessen“ bezeichnet. Er war also ein Fehler. Es ist gegen ISAF-Einsatzregeln verstoßen worden. Die Opposition kritisiert daher die Entscheidung, dass es kein Disziplinarverfahren geben werde. Der SPD-Verteidigungspolitiker Hans-Peter Bartels:

O-Ton Bartels
„Es hat einen NATO-Untersuchungsbericht gegeben, der ja minutiös auflistet, welche Verstöße dort tatsächlich stattgefunden haben. Daraus dann letzten Endes den Schluss zu ziehen, rechtlich ist dagegen gar nichts zu sagen, ist jedenfalls verwunderlich, so sehr man das dem betroffenen Offizier gönnen mag, der ja in einer schwierigen Situation eine Entscheidung treffen musste. Dass er nun, auch ohne dafür in irgendeiner Weise disziplinarisch belangt zu werden, aus der Sache wieder rauskommt, so sehr wäre es für die Bundeswehr schon notwendig gewesen, wenn militärisch nicht angemessenes Verhalten auch entsprechend disziplinar aufgearbeitet worden wäre.“

Für den damaligen ISAF-Befehlshaber McChrystal hätte es nicht zu dem Luftangriff kommen dürfen. Die Militäroperation stand im Widerspruch zu einer grade von ihm erlassenen Richtlinie. Auch ranghohe deutsche NATO-Offiziere wundern sich, dass es kein Disziplinarverfahren geben wird. Denn in der Bundeswehr werden schon wesentlich kleinere Verstöße gegen Vorschriften disziplinar geahndet. In Kundus sind aber Menschen getötet worden, unter ihnen auch Zivilisten.

Doch die Truppe fühlte sich bereits vor dem verheerenden Luftschlag von der Politik und der militärischen Spitze der Bundeswehr im Stich gelassen. Vor allem bei den Soldaten in Kundus rumorte es. Deswegen gab es nach dem Luftangriff von der Regierung Rückendeckung für Oberst Klein.

Der scheidende Verteidigungsminister Franz Josef Jung, im Oktober in seiner Abschiedsrede:

O-Ton Jung
„Ich bin und bleibe der Auffassung, und das sage ich auch ausdrücklich für Oberst Klein, dass Soldaten, die einen Auftrag im Rahmen des Mandates wahrnehmen, im Interesse unserer Sicherheit sich engagieren, und deshalb nicht mit staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen konfrontiert werden sollten.“ (Applaus)

Der Kommandeur des Wiederaufbauteams von Kundus stand damals unter großem Druck. Die Angriffe der Taliban hatten an Intensität zugenommen. Gleichzeitig gab es den Vorwurf, die Bundeswehr reagiere immer nur zögerlich. Georg Klein damals in einem Interview:

O-Ton Klein
„Ich kenne diesen Vorwurf. Auf der anderen Seite versuchen wir, maximal Rücksicht auf die Bevölkerung zu nehmen. Wenn wir Waffen einsetzen zur Selbstverteidigung, dann so, dass die Zivilbevölkerung geschützt wird.“

Oberst Klein sagte im Februar als erster Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss zur Kundus-Affäre aus - obwohl er dazu nicht verpflichtet gewesen wäre. Der Soldat räumte ein, er hätte den Angriffsbefehl nicht erteilt, wenn er gewusst hätte, dass dabei auch Zivilisten getötet würden. Nicht nur der FDP-Verteidigungsexperte Hellmut Königshaus, damals Mitglied des Ausschusses, fand die Aussage des Offiziers überzeugend:

O-Ton Königshaus
„Ich bin wirklich sehr beeindruckt von der Zeugenaussage des Obersten Klein. Er hat eine sehr geschlossene, klare Darstellung der Situation in der Nacht vom 3. auf den 4. September gegeben. Oberst Klein hat an keiner Stelle Ausflüchte irgendwelcher Art gemacht. Es gab nach seiner Darstellung auch gar keine Gründe dazu. Er hat, wie ich jedenfalls zusammenfassend sagen muss, eine in sich geschlossene, klare Stellungnahme abgegeben, die uns jedenfalls, Gott sei Dank, das Gefühl gibt: hier hat nicht jemand gehandelt, der etwa leichtfertig Waffen eingesetzt hat, sondern jemand, der wirklich sich im vollen Bewusstsein seiner Verantwortung, um eine aus seiner Sicht in der konkreten Situation bestmögliche Lösung bemüht hat.“

Klar ist aber auch, dass es bei Einhaltung der NATO-Einsatzregeln nicht zu dem Luftangriff gekommen wäre. Voraussetzung für die Luftnahunterstützung ist Feindberührung und eine damit einhergehende unmittelbare Bedrohung. Diese wurde gegenüber den mehrmals nachfragenden US-Piloten bejaht, obwohl keine eigenen Soldaten vor Ort waren. Die Piloten wurden getäuscht. Außerdem stützte sich Kleins Entscheidung, die Tanker zu bombardieren, allein auf nur einen Informanten. Es wurde kein Vorgesetzter eingeschaltet. Und nach dem Angriff sind nicht sofort Untersuchungen vor Ort eingeleitet worden, so wie es die ISAF-Bestimmungen vorsehen.

Verteidigungsminister zu Guttenberg hatte nach seiner Neubewertung des Luftangriffs angekündigt, er werde Oberst Klein nicht fallen lassen. Der CSU-Politiker hat Wort gehalten. Die einzigen Konsequenzen, die gezogen worden sind: Im Dezember wurden die ISAF-Vorschriften geändert, um:

Zitat BMVG
„den betroffenen Akteuren größtmögliche Handlungssicherheit bei der Anforderung, Genehmigung und Durchführung von Einsätzen letaler und nichtletaler Wirkmittel aus der Luft zu geben“,

teilte das Verteidigungsministerium mit. Was genau geändert worden ist, will man nicht sagen. Zurück bleibt da ein Unbehagen. Eine angemessene Aufarbeitung des verheerenden Luftangriffs sieht anders aus.

* Aus: NDR-Sendereihe Streitkräfte und Strategien, 28. August 2010; www.ndrinfo.de


Zurück zur Bundeswehr-Seite

Zur Afghanistan-Seite

Zurück zur Homepage