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Sie waren noch Kinder ...

Die Opfer eines deutschen Offiziers in der Nacht des Ramadan vom 3. zum 4. September 2009

Von Karlen Vesper *

»Eines Tages wird in die reichen Länder Asiens ein Ungläubiger kommen, mit einem purpurnen Mantel um den Schultern, brutal, hitzig, bar der Gerechtigkeit. Ganz Asien wird unter dem Joch des Bösen leiden und seine blutgetränkte Erde wird noch mehr Blut zu trinken haben. Doch trotzdem wird der Hades seiner warten, obwohl er es nicht weiß. Und am Ende werden er und sein Geschlecht vernichtet werden. Von denen, die zu vernichten er den Wunsch hatte.« Flut in Pakistan

Das Orakel der Jünger des Zarathustras hat sich erfüllt, Alexander der Große von Makedonien hat zwar innerhalb von zehn Jahren ein riesiges Reich erobert, das fast die ganze damals bekannte Welt umspannte, von Griechenland über ganz Kleinasien bis nach Indien. Doch kurz nach seinem furchtbaren wie frühen Tod im Jahre 323 v. u. Z. zerfiel es sogleich wieder, in Diadochenkämpfen, im Streit nachfolgender Potentaten.

Bevor Alexander mit seiner Streitmacht den Hindukusch überschritt, an einer Stelle, die nach ihm noch viele weitere Invasoren überqueren sollten, hatte er auch im heutigen Afghanistan eine Stadt seines Namens gegründet - dieses Alexandria heißt heute Chârikârdas. Nach erschöpfender, opferreicher Überquerung des Gebirges, das die späteren muslimischen Eroberer »Hindu-Mörder« tauften, gönnte er sich und seinen Kriegern eine Rast, um gestärkt den Feld- und Raubzug fortzusetzen.

Den Kindern von Kabul bis Islamabad ist sein Name noch heute geläufig: »Iskander Gujaste«, Alexander, der Verfluchte. Der deutsche Oberst Klein wird solche Verewigung im Gedächtnis der Völker wohl nicht fürchten müssen. Und doch: Wie wird in fünfzig, wie in hundert oder tausend Jahren der Afghanistan-Krieg der NATO-Alliierten erinnert? Gewiss nicht ruhmvoll.

Der »Stern«-Korrespondent Christoph Reuter und der Fotograf Marcel Mettelsiefen haben sich in das ferne fremde Land aufgemacht. Sie wollten wissen, wer die Opfer jenes Bombardements in der Nacht vom 3. zum 4. September 2009 an einer Furt des Kundus-Flusses waren. »Am Anfang war die Zahl«, eröffnen sie in ihrem Buch. Irritierende Zahlen. Zwischen 17 und 142 Menschen seien beim Luftangriff auf vermeintliche Aufständische ums Leben gekommen, heißt es noch im Monate später erstellten 500-seitigen NATO-Untersuchungsbericht. Reuter und Mettelsiefen wollten es genau wissen und haben in mühseliger Kleinarbeit über Monate vor Ort 91 Namen ermittelt - wie dies erfolgte, in einem Bürgerkriegsgebiet ohne Meldewesen, in Stammesgemeinschaften, die keine Nachnamen kennen, gleicht einem Abenteuer. Die beiden suchten die Angehörige der Toten auf und hörten sich deren Geschichten an.

Als sich in jener Ramadan-Nacht vor einem Jahr die Nachricht herumgesprochen hatte, in einer Furt seien zwei Tanklastwagen stecken geblieben, es gäbe Diesel gratis, eilten die Menschen aus den umliegenden Dörfern herbei, vom Kind bis zum Greis, um Treibstoff in ihre mitgebrachten Behältnisse, Kanister, Kannen, Eimer umzufüllen und nach Hause zu tragen.

»Wohin geht ihr?«, fragte Hadschi Dschalat seine Söhne, als er sie an der Moschee vorbeilaufen sah. Sie sagten es ihm. »Geht nicht!«, rief er ihnen zu. »Aber sie wollten nicht auf mich hören. Ich hatte Angst um sie. Als ich die Explosion hörte, bin ich losgerannt, aber an der Furt konnte ich nichts sehen vor lauter Rauch. Ich bin lange über Leichen gestiegen, bis ich meine toten Söhne erkannte.« Nun habe er nur noch zwei Töchter, aber keine Söhne mehr, erzählt Hadschi Dschalat den Reportern aus Deutschland. Auch Abdul Rahman hat einen Sohnes zu betrauern: »Einer der Feldarbeiter hat ihm gegen 23 Uhr angeboten, mitzukommen. Er ging mit.« Der Körper seines Sohnes sei vollkommen verbrannt gewesen. Wie konnte er ihn da identifizieren? »Er war doch mein Sohn.« - Reuter und Mettelsiefen haben den Toten Namen und Gesichter wiedergegeben. »Denn es waren Menschen, denen der Respekt gebührt, wahrgenommen zu werden.«

Oberst Klein wusste, was er tat. Und auch die deutschen Richter wussten, was sie taten, als sie ihn freisprachen von jeglicher Schuld. Und mehr noch, einen Freibrief für weiteres Morden ausstellten. Werden sie alle noch ruhig schlafen können, beim Anblick dieser Bilder, beim Lesen dieser Geschichten?

Marcel Mettelsiefen/Christoph Reuter: Kunduz, 4. September 2009. Eine Spurensuche. Rogner & Bernhard. 128 S., br., 19,90 €.

* Aus: Neues Deutschland, 3. September 2010


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