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"Im Zeitalter der Globalisierung kann sich die NATO nicht mehr als rein eurozentrisches Bündnis verstehen"

Rede des NATO-Generalsekretärs Jaap de Hoop Scheffer auf der Kommandeurtagung der Bundeswehr

Am 10. und 11. März 2008 fand in Berlin die 41. Kommandeurtagung der Bundeswehr statt. Sie stand eindeutig im Zeichen des militärischen Engagements von NATO und der Bundeswehr in Afghanistan und war mit Spannung erwartet worden, weil im Vorfeld Meinungsverschiedenheiten innerhalb des NATO-Bündnisses kolportiert worden waren. Zugleich diente die Tagung der Vorbereitung auf den nächsten NATO-Gipfel im April.
Wir dokumentieren die Reden der Hauptakteure der Tagung und Presseberichte. Im Folgenden die Rede des NATO-Generalsekretärs Jaap de Hoop Scheffer vom 10. März 2008 in einer Paraphrase durch das Verteidigungsministerium.



Jeder muss alles können

NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer
Berlin, 10.03.2008.


Jaap de Hoop Scheffer, amtierender NATO-Generalsekretär, sprach von Solidarität und Lastenteilung innerhalb des Nordatlantischen Bündnisses als er äußerte: "Jeder muss alles können!" Im Fokus stand dabei die durch ihn begrüßte breite öffentliche und im Sicherheitsbündnis interne Diskussion zu den Entwicklungen in Afghanistan.

Der Epochenwandel in der Sicherheitspolitik, seine Bedeutung und die Herausforderungen für die jeweilige nationale Sicherheitspolitik der NATO-Mitgliedsstaaten bildeten die Kernpunkte seiner Ausführungen.

Offen und ohne Umschweife

Jaap de Hoop Scheffer sprach offen die vergangene heftige Debatte innerhalb des Verteidigungsbündnisses der NATO über Solidarität und Lastenteilung in Afghanistan an. Ausgelöst wurde diese durch den Brief des amerikanischen Verteidigungsministers Robert Gates: "Die Wellen schlugen sehr hoch", so de Hoop Scheffer. Gerade auf der Münchner Sicherheitskonferenz sei dies so gewesen. "Allein dass wir eine solche Debatte hatten zeigt, dass wir neu nachdenken müssen" und weiter führte er aus, dass die NATO ihren "... Anspruch, die Lehren aus den sicherheitspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre gezogen zu haben noch nicht ganz und wirklich eingelöst..." hat.

Ein Epochenwandel habe durch das Ende des Kalten Krieges und die Anschläge vom 11. September 2001 eingesetzt und die Globalisierung beschleunige diesen Wandel ebenfalls. Jetzt gelte es, sich letztendlich in allen Bereichen der Sicherheitspolitik diesem Wandel verstärkt anzupassen.

Epochenwandel - Bedeutung und Herausforderung für die NATO

Drei Kernfragen bildeten den thematischen Schwerpunkt seiner Ausführungen. Diese befassten sich mit dem Epochenwandel in der Sicherheitspolitik, der Bedeutung für das Bündnis und den daraus resultierenden Herausforderungen für die jeweilige nationale Sicherheitspolitik der Mitgliedsstaaten der NATO.

Epochenwandel besteht für de Hoop Scheffer in der Tatsache, dass man es "...heute nicht mehr mit einer militärischen Bedrohung im klassischen Sinne" zu tun habe. Proliferation oder der Terrorismus in einem "Failed State" wie Afghanistan seien neue Bedrohungen. Der Terrorismus sei nicht auf die Einnahme eines Landes aus, sondern auf Einschüchterung der Werte und Politik der betroffenen Staaten ohne sicht- und bewertbare Faktoren wie Armeen und Aufmarschgebiete. Man könne jetzt nicht mehr Panzer und Flugzeuge des Gegners zählen, um daraus Handlungen abzuleiten und gleiche Fähigkeiten ihm gegenüber zu stellen. Dies sei die stets angesprochene Asymmetrie der Bedrohung.

"Natürlich bleibt militärische Abschreckung ein wichtiges Instrument in den Beziehungen zwischen Staaten. Aber der staatenlose Terrorist, der den eigenen Tod in Kauf nimmt, befindet sich jenseits der Abschreckung", verdeutlichte der NATO-Generalsekretär die Problematik der klassischen Abschreckungsstrategie. Proliferation ermögliche es zudem auch nichtstaatlichen Akteuren, per "Schwarzmarkt", in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu gelangen.

Folgen des Epochenwandels

"Im Zeitalter der Globalisierung kann sich die NATO nicht mehr als rein eurozentrisches Bündnis verstehen", denn die Zeit der geographischen und operationellen Beschränkungen sei vorbei, führte de Hoop Scheffer weiter aus: "Wir müssen den Bedrohungen dort begegnen, wo sie entstehen -- auch außerhalb Europas. Und mit unserem Einsatz in Afghanistan haben wir genau dies getan." Damit habe man ein neues Kapitel transatlantischer Sicherheit aufgeschlagen.

Militärische Transformation müsse seiner Auffassung nach, diesem neuen und breiter gefassten Verständnis von Sicherheit entsprechen. Streitkräfte müssten das gesamte Spektrum von "Peacekeeping bis zum Kampfeinsatz" abdecken können. "In einer Allianz, in der alle füreinander da sind kann es keine Arbeitsteilung geben, bei der sich die einen auf das Kämpfen und die anderen auf die Konfliktnachsorge spezialisieren. Jeder muss alles können", mahnte de Hoop Scheffer und ergänzte, dass die Soldaten Kämpfer und Diplomaten zugleich sein müssten.

Vernetzte Sicherheit

Für de Hoop Scheffer ist eine enge Koordination mit den internationalen und nichtstaatlichen Organisationen durch die NATO anzustreben: "Wir brauchen dass, was Minister Jung und auch Frau Bundeskanzlerin mit dem Begriff der vernetzten Sicherheit beschreibt." In Afghanistan hänge der Erfolg von Entwicklung und Wiederaufbau ab und dabei seien auch Organisationen wie die Vereinten Nationen oder die Weltbank ergänzend zum NATO-Beitrag gefragt.

Der NATO-Generalsekretär begrüßte aber auch besonders die durch die jüngsten Einsätze der NATO entstandenen engeren Verhältnisse zu anderen Nationen und Ländern wie Australien, Japan oder Singapur. Man arbeite gemeinsam daran, einer Herausforderung wie dem Terrorismus, gemeinsam zu begegnen. "Gibt es einen besseren Beweis für die Anpassungsfähigkeit unserer Allianz?", beschrieb er diese positiven Entwicklungen.

Erneut griff de Hoop Scheffer die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen auf und sagte: "Raketenabwehr ist ein wichtiger Teil unserer Antwort auf diese Bedrohung."

Folgerungen für nationale Sicherheitspolitik

De Hoop Scheffer stellte klar heraus, dass alle Mitgliedstaaten in ihrer Sicherheitspolitik souverän seien. Dennoch räumte er mit einem Missverständnis auf, "... nämlich, dass für die öffentliche Begründung von NATO-Einsätzen eben in erster Linie das Hauptquartier in Brüssel zuständig sei." Natürlich werde er als NATO-Generalsekretär weiter für seinen Kurs der NATO werben. Aber die Hauptverantwortung für die Vermittlung und Begründung von Sicherheitspolitik sowie die Schaffung von Mehrheiten bleibe klar eine nationale Aufgabe.

Den Wandel im Bereich der Bündnissolidarität sprach er ebenfalls an. In Zeiten des Ost-West-Konfliktes habe es keine Wahlmöglichkeit im Falle einer Krise gegeben - jeder Konflikt hätte das ganze Bündnis betroffen. Heute sei dies anders und im Falle Afghanistans entscheide jedes Mitglied der NATO selbst über Art und Umfang des Engagements. "Und ich glaube, das ist wichtig", kommentierte de Hoop Scheffer. Dadurch steige aber auch der Abstimmungsbedarf innerhalb des Bündnisses dramatisch an und heute gebe es auch die angesprochene "Bündnisautomatik", welche die Erklärungsarbeit für Einsätze abnahm, nicht mehr.

Realistische Lageeinschätzung

Es sei eine Illusion, Peacekeeping, Kampfeinsatz und Wiederaufbau in ihren Aufgaben voneinander zu trennen mahnte de Hoop Scheffer. Afghanistan zeige dies deutlich. Wer im Norden Schulen baue, der werde für die Taliban genauso zum legitimen Ziel wie der, der sie im Süden direkt bekämpfe. "Afghanistan lässt sich deshalb auch nicht in Zuständigkeitsbereiche aufteilen. Dieses Land wird entweder als Ganzes gewonnen oder als Ganzes verloren", so der NATO-Generalsekretär.

Deutschland sei ein sehr gutes Beispiel für demokratisch gelebte Sicherheitspolitik und deren Wandel innerhalb der Vergangenheit, um so auf veränderte Rahmenbedingungen und Erfordernisse zu reagieren. Die Wiederbewaffnung und die NATO-Mitgliedschaft, den NATO-Doppelbeschluss, das militärische Engagement auf dem Balkan bis hin zum derzeitigen Einsatz der Bundeswehr seien Zeichen dafür.

Künftige Entwicklungen

Abschließend sprach de Hoop Scheffer den bevorstehenden NATO-Gipfel an. Über 60 Staaten werden an diesem Treffen zum Thema Afghanistan teilnehmen - darunter zahlreiche internationale Organisationen. Dies sei Ausdruck dafür, dass die NATO nur noch gemeinsam mit anderen Organisationen Erfolg haben kann und alle Mitgliedsstaaten ihren Beitrag dazu leisten müssten.

"Die NATO hat als Organisation einen weiten Weg zurückgelegt" und sei von einem Bündnis der Friedenserhaltung zu einem Bündnis der Friedensgestaltung geworden, resümierte er mit den Worten des ehemaligen Generalsekretärs der NATO Manfred Wörner. Es sei nun aber an allen Mitgliedsstaaten, auf die erkannten Veränderungen mit Anpassungen der jeweiligen Sicherheitspolitik zu reagieren, damit der gemeinsame Weg weiterhin beschritten werden kann.

Besonders im Falle des Afghanistaneinsatzes, den sich das Bündnis nicht aus freien Stücken ausgesucht habe, handle es sich um eine strategische Notwendigkeit. "Wer universelle Werte schützen und verteidigen will, der hat hier keine Wahl. Er muss Handeln wie Deutschland das tut und wie die Allianz das tut." Die NATO biete ein einzigartiges Instrument, welches nun kreativ für Afghanistan genutzt werden müsse, beendete de Hoop Scheffer seinen Vortrag.

Quelle: Website des Verteidigungsministeriums; www.bmvg.de




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