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Scharpings Konzept zur Reform der Bundeswehr

Einen Tag nach der Veröffentlichung des Berichts der Weizsäcker-Kommission "Zukunft der Bundeswehr" legte Verteidigungsminister Scharping seine Vorstellungen dem Bundeskabinett vor. Dazu sagte er in einer anschließenden Pressekonferenz:

Pressekonferenz des Bundesministers der Verteidigung am 24. Mai 2000 Eingangsstatement

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich habe heute, wie angekündigt, im Kabinett eine erste Bewertung der vorliegenden Entscheidungsgrundlagen für die Bundeswehr der Zukunft vorgetragen. Diese Entscheidungsgrundlagen bestehen aus dem Bericht der Kommission, die ein Jahr lang unter Vorsitz des ehemaligen Bundespräsidenten von Weizsäcker gearbeitet und eine sehr klare, sehr gute, sehr verdienstvolle Arbeit auch der Bundesregierung überreicht hat. Sie bestehen zweitens aus dem Auftrag, den der Generalinspekteur wahrzunehmen hat und der sich in seinen Überlegungen zu konzeptionellen Eckpunkten der Bundeswehr der Zukunft niedergeschlagen hat. Sie bestehen drittens aus der Auswertung jener Tagungen, die ich mit den Angehörigen der Streitkräfte intensiv und gründlich durchgeführt habe.

Zunächst, die verfassungsmäßig korrekte und für die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten gleichermaßen politisch kennzeichnende Legitimation für Streitkräfte in Deutschland ist der Auftrag, die Sicherheit und Freiheit unseres Landes gemeinsam mit anderen zu gewährleisten. Hier gibt es völlige Übereinstimmung, nicht nur im Parlament und in der Regierung, sondern auch zwischen allen an der Diskussion sich Beteiligenden, namentlich auch der Kommission. Diese Wahrnehmung von Aufgaben gemeinsamer Sicherheit und die sich daraus ergebenden Aufgaben und Fähigkeiten lassen sich in drei Stichworten oder drei Leitgedanken zusammenfassen.
  • Die Bundesregierung Deutschland braucht die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung.
  • Die Bundesrepublik Deutschland braucht die Fähigkeit zur Vertrauensbildung und Kooperation, also mit solchen Staaten, die nicht zu den Institutionen der Euro-atlantischen Sicherheit, namentlich der NATO und der Europäischen Union, gehören.
  • Und aus diesen Fähigkeiten entwickelt sich auch die Fähigkeit der Beteiligung an Konfliktverhütung und Konfliktmanagement.
Diese drei Fähigkeiten hat die Kommission, hat der Generalinspekteur, habe ich bei verschiedenen Gelegenheiten mit dem gegenwärtigen Zustand der Bundeswehr konfrontiert, längs der Frage, ob die Bundeswehr in der Lage ist, diese Aufgaben und Fähigkeiten wirklich zu erfüllen. Der Befund ist ebenso eindeutig und ernüchternd wie er nicht neu ist. Die Bundeswehr ist in ihrer gegenwärtigen Verfassung, in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht in der Lage, diese Fähigkeiten voll auszuprägen und die Aufgaben zuverlässig dauerhaft zu erfüllen. Ich muß den Befunden z.B. der Kommission unter dem Vorsitz von Richard von Weizsäcker nichts hinzufügen.

Dann kann man die Frage stellen, was ist denn für die Zukunft zu tun. Zunächst, was die gemeinsame Gewährleistung von Sicherheit angeht, dazu bedarf es gemeinsamer Fähigkeiten auf der Grundlage einer gemeinsamen Einschätzung der sicherheitspolitischen Lage und der Herausforderungen, denen wir uns gemeinsam gegenüber sehen. Schon die Analyse der Sicherheitslage und der Sicherheitsinteressen eines Landes muß und bezieht ja auch ein das Interesse an gemeinsamer Sicherheit. Alles andere wäre ein Rückfall in überholtes nationalstaatliches Denken. Diese gemeinsame Analyse mit den gemeinsamen Schlußfolgerungen hinsichtlich der Fähigkeiten ist vorgenommen worden und im übrigen breit, öffentlich, parlamentarisch und zwischen den Regierungen diskutiert worden. Darauf hat Richard von Weizsäcker auch völlig zu Recht hingewiesen.

Das ist einmal die Diskussion im Vorfeld der Festlegung einer neuen Strategie der NATO, und hier komme ich noch mal auf die drei Fähigkeiten zurück. Es ist ja insbesondere auch dem Engagement der Bundesregierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer zu verdanken, daß in der NATO-Strategie nach zum Teil sehr intensiver Diskussion im Bündnis Fragen der Konfliktprävention und der Konfliktverhütung eigenständiger Bestandteil der NATO-Strategie geworden sind. Es ist auch dieser Bundesregierung namentlich zu verdanken, daß in der NATO-Strategie die Bindung an internationales Recht ausdrücklich vorgenommen worden ist,. Und es ist auch dieser Bundesregierung zu verdanken, daß die NATO noch einmal ihren Willen zur Abrüstung und Kooperation bekräftigt hat. Ich sage noch einmal, über diese gemeinsame Einschätzung der Lage und über diese gemeinsame Einschätzung der politischen Ziele und der Herausforderung an die gemeinsame Sicherheit ist im Vorfeld des NATO-Gipfels vom April 1999 intensiv, öffentlich, parlamentarisch diskutiert und dann auch gemeinsam entschieden worden.

Das gilt übrigens auch für das Fähigkeitenprofil, das auf dieser Grundlage von den Streitkräften entwickelt werden soll. Die Bundeswehr entspricht diesem Fähigkeitenprofil nur sehr eingeschränkt. Diese Beurteilung, die ja mittlerweile Allgemeingut geworden ist, deckt sich übrigens mit einem Befund, den wir dank des in der Bundeswehr eingeführten Intranets durch Erhebung der Meinung von etwa 15.000 Angehörigen der Streitkräfte vorgenommen haben. Davon sind zur Zeit knapp viereinhalbtausend ausgewertet. Von den Angehörigen der Streitkräfte sagen 14 %, die Bundeswehr sei in der Lage, ihre Aufgaben vollständig zu erfüllen; 75 % sagen, sie sei nur bedingt in der Lage, ihre Aufgaben zu erfüllen; 11 % sagen, sie sei überhaupt nicht der Lage, ihre Aufgaben zu erfüllen.

Wir haben die Angehörigen der Streitkräfte über die Tagung hinaus und über alles, was man sonst an Informationsmöglichkeiten sich in den Streitkräften erschließen kann auch gefragt, was nach ihrer Auffassung erforderlich sei, um diesen Zustand zu verändern. Es liegt auf der Hand, ich will es Ihnen aber dennoch sagen, daß sowohl die Soldaten wie die zivilen Mitarbeiter mit absoluter Priorität die Notwendigkeit einer modernen Ausrüstung an die erste Stelle setzen und an die zweite Stelle eine höhere Einsatzbereitschaft der Streitkräfte und an die dritte Stelle bessere Möglichkeiten in Besoldung und Laufbahn. Ich könnte Ihnen das mit vielen Einzelheiten darstellen, aber das mag zunächst einmal genügen. Gemeinsame Fähigkeiten herauszubilden, das wird eine der spannenden Herausforderungen sein, und die Multinationalität der Bundeswehr, die Markenzeichen ist und bleiben wird, wird sich bei der Entwicklung dieses Fähigkeitenprofils als bewährte Grundlage herausstellen.

Wir haben ein dänisch-polnisch-deutsches Korps, wir haben ein niederländisch-deutsches Korps, wir haben ein amerikanisch-deutsches Korps, wir haben ein deutsch-amerikanisches Korps, wir haben die deutsch-französische Brigade, wir haben das EUROKORPS. Luftwaffe und Marine sind fast vollständig multinational integriert. Es gibt keine Streitmacht, mit Ausnahme der niederländischen, die international so stark integriert ist wie die Bundeswehr. Folglich müssen wir bei der Entwicklung des Fähigkeitenprofils nicht nur auf die Defence Capabilities Initiative der NATO achten, sondern auch auf die Gewährleistung gemeinsamer Sicherheit in multinationalen Streitkräften.

Das hat Konsequenzen für die Reform der Bundeswehr. Ihre Führungsorganisation bedarf dringend der Vereinbarkeit mit multinationalen Führungsstrukturen, also der Straffung. Die Reform der Bundeswehr muß gewährleisten, daß die Führungsorganisation der Bundeswehr von bisher 3 auf zukünftig 2 Säulen gestellt wird. Sie muß gewährleisten, daß die bisher 3 Führungsebenen auf 2 reduziert werden. Sie muß gewährleisten, daß es für die Wahrnehmung internationaler Aufgaben ein gemeinsames, multinational gemeinsame Aufgaben wahrnehmendes und in Deutschland die Aufgaben der Streitkräfte gemeinsam wahrnehmendes Einsatzführungskommando gibt. Sie muß gewährleisten, daß die Stellung des Generalinspekteurs gestärkt wird. Sie muß gewährleisten, daß alle Vorschriften und Entwicklungen und Strukturen, die dem zur Zeit entgegenstehen, korrigiert und verändert werden bis hin zum Blankeneser Erlaß.

Die gemeinsame Wahrnehmung von Aufgaben der Sicherheit erfordert nicht nur eine Veränderung in den Strukturen, sondern sie erfordert auch die Entscheidung über Eckpfeiler. Ich will das mit vier bis zum Sommer zu entscheidenden Eckpfeilern verdeutlichen.

1. Personal

Wir haben in der Bundeswehr etwa 8.100 Menschen, die Dienstposten wahrnehmen, ohne eine dem Dienstposten entsprechende Besoldung zu erhalten. Das heißt beispielsweise in den Mannschaftslaufbahnen, daß ein Dienstposten nach A 5 oder A 6 wahrgenommen wird von einem Menschen, der nach A 3 oder A 4 bezahlt wird. Übrigens, das sind Besoldungsgruppen, A 3 und A 4, die man im öffentlichen Dienst ansonsten praktisch nicht mehr kennt, genauso wie A 1 oder A 2. In der Bundeswehr sind es allerdings in diesem Bereich rund 3.500 Menschen, die unterwertig besetzte Dienstposten wahrnehmen. Dasselbe trifft zu für den Bereich der Unteroffiziere und Feldwebel. Dasselbe trifft zu für den Bereich der Offiziere. Das hat für das innere Gefüge der Streitkräfte und für ihre Leistungsfähigkeit negative Konsequenzen.

Eine Reform der Bundeswehr muß sicherstellen, daß diese Mißstände beseitigt werden, daß die unterwertig besetzten Dienstposten binnen zwei Jahren verschwinden, daß die Besoldungs- und Laufbahnstrukturen korrigiert werden, daß Spezialisten die Möglichkeit haben, ohne Kommandeurverwendung oder truppendienstlich entsprechende Verwendung in der Bundeswehr Dienst zu tun, was z.B. dazu führen kann, daß man eine Fachunteroffizierlaufbahn einführt. Mit Blick auf die Leistungsfähigkeit der Streitkräfte halte ich eine umfassende Bildungsreform für zwingend. Ich knüpfe an an den Grundgedanken von Helmut Schmidt und Thomas Elwein bei der Gründung der Bundeswehruniversitäten. So wie die Bundeswehr weltweit einzigartig ist durch ein sehr ausgeprägtes, dem Bild des Staatsbürgers in Uniform folgendes Regelwerk - Vertrauensperson für die Soldaten, Wehrbeschwerdeordnung, Petitionsrecht zum Deutschen Bundestag, Eingaberecht zum Wehrbeauftragten - alles Dinge, die mit dem inneren Gefüge der demokratischen Verankerung, dem staatsbürgerlichen Selbstbewußtsein der Soldatinnen und Soldaten untrennbar verbunden sind.

Es wird alles beibehalten werden, aber es kommt hinzu, daß im Bereich des Personals es nicht auf die Abiturienten, die Offiziersanwärter sind, beschränkt bleiben darf, daß ihre mitgebrachte zivilberufliche Qualifikation oder zivile Qualifikation verbessert wird - in dem Falle der Abiturienten durch die Möglichkeit eines Hochschulstudiums - das soll in Zukunft für alle Bereiche der Bundeswehr gelten. Das hat mit der Leistungsfähigkeit der Streitkräfte ebenso zu tun wie mit ihrer demokratischen Verankerung und bedeutet, daß derjenige, der ohne Abschluß einer Lehre zur Bundeswehr kommt, die Möglichkeit erhält, im Zuge eines längeren Dienstes eine zivilberufliche Qualifikation zu erwerben, daß derjenige, der mit einer abgeschlossenen Lehre kommt, die Möglichkeit erhält, den Meister, den graduierten Betriebswirt oder den Techniker als Abschluß zu erwerben usw. usw..

Im Bereich des Personals ist noch etwas anderes zu korrigieren, daß ich von meinen Herrn Vorgängern übernommen habe. Gegenüber dem geltenden Personalstrukturmodell haben wir einen Überhang im Bereich der Berufsunteroffiziere von 2.700 in den Geburtsjahrgängen oberhalb von 1964 und älter. In den jüngeren Jahrgängen haben wir eine Unterdeckung, die entstanden ist wegen der überhasteten und konzeptionell nicht durchdachten Reform der Bundeswehr - Reform ist eigentlich das falsche Wort dafür - in der Mitte der 90er Jahre.

Wollte man warten, daß diese Entwicklungen sich natürlich auswachsen, müßte man warten bis zum Jahre 2018. Das verbietet sich. Im Bereich der Offiziere des militärfachlichen Dienstes haben wir einen strukturellen Überhang von etwa 1.500. Wollte man warten, bis er sich gewissermaßen normal in der Bundeswehr auswächst, müßte man warten bis zum Jahr 2019. Im Bereich der Offiziere des truppenfachlichen Dienstes haben wir einen Überhang von etwa 3.500. Wollte man warten, bis er sich ausgewachsen hat, müßten wir warten bis zum Jahr 2026. Eine Reform der Bundeswehr, wenn sie wirklich konzeptionell durchdacht ist, wenn sie die Leistungsfähigkeit der Streitkräfte und ihre Verankerung im Auge behält und konsequent umsetzt, muß solche Fehlentwicklungen korrigieren. Das wird auch geschehen.

2. Ausrüstung

Im Bereich der Ausrüstung - 2. Eckpfeiler - sind neue Fähigkeiten zu erwerben. Das folgt den Beschlüssen der NATO und den ebenso intensiv, öffentlich, parlamentarisch erörterten Beschlüssen der Europäischen Gipfel von Köln und Helsinki. Auch hier stimme ich mit der Kommission vollständig überein. Das wird beispielsweise dazu führen - und ich nenne Ihnen nur wenige Beispiele und zunächst das Prinzip. Die Bundeswehr muß mobiler, beweglicher, führungsfähiger, folglich muß sie auch neuen Herausforderungen gerechter werden. Das alte Bedrohungsszenario, im wesentlichen aufgebaut auf dem Risiko einer großangelegten Landinvasion in Mitteleuropa, ist genauso obsolet wie die Tatsache offenkundig geworden ist - auch hier stimme ich mit der Kommission völlig überein -, daß Landesverteidigung und Bündnisverteidigung nicht voneinander trennbar sind. Und daß Landesverteidigung, territorial betrachtet, wenn sie einmal notwendig werden sollte, zunächst auf dem Territorium von Bündnispartnern stattfinden würde - nicht, wie in der Vergangenheit, auf deutschem Gebiet. Das hat Folgen für die Ausrüstung. Und das Prinzip - wie gesagt - hatte ich Ihnen genannt: flexibler, leichter, besser ausgerüstet, mobiler im Sinne von strategischer Verlegbarkeit und im Sinne auch übrigens von strategischer Aufklärung. - Es ist ja ein absurder Widerspruch, daß Politik fortwährend präventive Möglichkeiten einklagt und die Übersetzungen in die militärische Fähigkeit der strategischen Aufklärung bisher nicht gelungen ist.

Die neuen Fähigkeiten aufzubauen bedeutet, Überflüssiges und Veraltetes loszuwerden. Das wird auch konsequent geschehen. Ich nenne Ihnen wenige Beispiele.

Die Bundeswehr hatte 1990 etwa 4.300 Panzer. Sie hat zur Zeit 2.300 Panzer. Ich gehe davon aus, daß im Zuge der Neukonzeption der Bundeswehr die Zahl der Großwaffensysteme, der gepanzerten Großsysteme um ca. 40 % abnehmen wird. Ich gehe davon aus, daß dies auch in den anderen Teilstreitkräften entsprechende Konsequenzen haben wird. Um die neuen Fähigkeiten entwickeln oder die Wahrnehmung schon bekannter Fähigkeiten verbessern zu können, ist in der Ausrüstung entsprechend beides zu tun, neues aufbauen, altes loswerden, vor allen Dingen das völlig veraltete.

In dem Zusammenhang mache ich eine Bemerkung zur Marine. Es gibt Menschen, die sagen, macht sie doch einfach um die Hälfte kleiner. Hier kann man erkennen, was umfassende Sicherheit bedeutet - umfassend in dem Sinne, daß man nicht allein auf traditionelle militärisch gewährleistete Sicherheit achten darf. Die Bundesrepublik Deutschland bezieht über 90 % ihrer Rohstoffe aus dem Ausland. Über 90 % dieser aus dem Ausland kommenden Rohstoffe erreichen Deutschland über den Seeweg. Der zweitgrößten Exportnation der Erde, der größten Exportnation in Europa wäre es ganz und gar unangemessen, wenn sie ihre Angewiesenheit auf die Freiheit der Seewege beantworten wollte dadurch, daß sie sich aus dem Schutz dieser Freiheit der Seewege völlig zurückzieht. Das würde im übrigen nur dazu führen, daß unsere Partner sagen, wir übernehmen diese Aufgabe gern, solange ihr sie mit bezahlt. Das kommt deutlich teurer. Arbeitsteilung ist nur auf der Grundlage gemeinsam entwickelter Fähigkeiten möglich.

Das dritte ist die Wehrpflicht.

Ich will Sie darauf aufmerksam machen, daß in meinen Augen, und hier wiederum in völliger Übereinstimmung mit der Kommission, Sicherheitsvorsorge erforderlich bleibt, die allgemeine Wehrpflicht Sinn macht und bleiben wird - daß sie allerdings strikt zu orientieren ist an dem sicherheitspolitischen Bedarf einschließlich der notwendigen Vorsorge, die Aufwuchsfähigkeit mit einschließt.

Da geistern ein paar Zahlen durch die Gegend, die mich persönlich, wenn ich das so sagen darf, ein wenig erstaunen. Bis zum Jahre 2010 werden wir eine durchschnittliche Stärke der Geburtsjahrgänge von 430.000 je Jahr haben. 4 % der jungen Männer werden überhaupt nicht gemustert, weil das Ergebnis von vornherein feststeht, z.B. gesundheitlich stark eingeschränkte, manchmal gar behinderte. Nicht tauglich werden in der Regel 17 bis 18 % gemustert, wegen gesundheitlicher oder anderer Einschränkungen. Es kommen weitere 3 bis 4 % Wehrdienstausnahmen hinzu - das sind die sogenannten Dritten Söhne, das sind die Theologen, das sind Menschen, deren Einberufung eine unzumutbare Härte darstellen würde, das sind straffällig gewordene. Dann kommen alle hinzu, die für sogenannten externen Bedarf zu rechnen sind. Das sind jene, die zur Polizei oder zum Grenzschutz gehen; das sind jene, die sich in der Entwicklungshilfe engagieren; das sind jene, die sich verpflichten, in ihrer Freizeit für 10 Jahre dem Technischen Hilfswerk oder der Freiwilligen Feuerwehr zur Verfügung zu stellen. Dann muß man jene abziehen, die den Wehrdienst verweigern. Das sind zur Zeit etwa 35 %. Und dann muß man jene abziehen, die sich von vornherein entschließen, Soldat auf Zeit oder Berufssoldat zu werden. Das bedeutet, daß tatsächlich für die Einberufung zur Verfügung stehen zwischen 120.000 und 150.000. Diese Zahl ist nie genau prognostizierbar, weil weder das individuelle Entscheidungsverhalten des Einzelnen noch der genaue Einstellungskorridor über Polizei, Grenzschutz oder anderen Bereichen oder anderes präzise prognostizierbar wäre. Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, nachzudenken über ein wesentlich flexibleres System als wir es heute haben. Es macht wenig Sinn, ein System jetzt zu entscheiden, das ab dem Jahr 2010 faktisch und vom Gesetzgeber wegen des notwendigen vorbereitenden Vorlaufs schon im Jahre 2007 wieder korrigiert werden müßte. Das sage ich Ihnen deshalb, weil in den Jahren ab 2009 es einen dramatischen Rückgang in den Jahrgangsstärken geben wird, und zwar bis auf 360.000. Das heißt, ein Staat, der Sicherheitsvorsorge betreiben will - und das wollen wir -, ist klug beraten, diese Sicherheitsvorsorge langfristig anzulegen und nicht irgendwelchen kurzatmigen Erwägungen zu opfern.

4. Umfang der Bundeswehr

Vor diesem Hintergrund werde ich nach den Erörterungen, die in der Koalition, in der Regierung, mit den Koalitionsfraktionen fortgesetzt werden, ein entsprechendes Modell vorschlagen, und das wird auf den Umfang der Bundeswehr - das ist der 4. Eckpfeiler -entsprechende Auswirkungen haben.

Ich habe gestern gesagt, der Gesamtumfang der Bundeswehr kann auf ca. 360.000 sinken. Im zivilen Bereich bedeutet das, die Altersfluktuation zu nutzen; in den nächsten 8 bis 9 Jahren werden etwa 30.000 Zivilbeschäftigte die Altersgrenze erreichen. Im zivilen Bereich bedeutet das, den Gewerkschaften und Verbänden die Möglichkeit eines Tarifvertrages anzubieten und diesen Prozeß ordentlich und zuverlässig auch für die Zivilbeschäftigten zu steuern und zu begleiten. Es bedeutet im übrigen die stärkere Kooperation mit der Wirtschaft, und die ist ja, wie Sie alle wissen, auch seit längerer Zeit auf einem guten Weg.

Im militärischen Bereich bedeutet das, sich präzise anzuschauen, was sich aus den geschilderten Aufgaben und Fähigkeiten und daraus ergibt, daß wir uns zur multinationalen Wahrnehmung gemeinsamer Verpflichtungen international verpflichtet haben. Das alles setzt einer beliebigen Entwicklung nach unten Grenzen. Ich sage das auch deshalb, weil nach meinem Empfinden nicht derjenige die Bundeswehr durchgreifend reformiert, der nur in Quantitäten denkt, sondern weil es wichtig ist, sich auch über - und zwar vor allen Dingen - über die Qualität der Bundeswehr, über ihre Leistungsfähigkeit Gedanken zu machen. Leistungsfähigkeit ist übrigens etwas nicht alleine militärisches.

Die Bundesrepublik Deutschland zeichnet sich ja dadurch aus, daß sie die Leistungsfähigkeit ihrer Streitkräfte nie alleine militärisch definiert hat. Und ich bin fest entschlossen, in dieser Tradition, die mit den Namen von Helmut Schmidt und Georg Leber insbesondere zu tun hat, auch zu bleiben. Jetzt will ich Ihnen kurz etwas sagen im Zusammenhang mit dem weiteren Gang der Entscheidung. Wir werden innerhalb der Bundesregierung in den Sitzungen, die sich ergeben, regelmäßig über diese Fragen weiter sprechen. Wir werden die Angehörigen der Bundeswehr in diese Erörterung sehr konsequent einbeziehen, weil eine Reform eines so großen "Unternehmens" wie der Bundeswehr mit ihren Angehörigen gemacht werden wird und nicht gegen sie. Das ist die Linie, die ich seit meinem Amtsantritt verfolge. Dazu dienen Intranet-Konferenzen. Dazu dient eine Kommandeurtagung, die stattfinden wird am Tage der Kabinettsentscheidung. Dazu dienen Erörterungen mit den Verbänden, mit dem Hauptpersonalrat u.a.. Wir werden darüber hinaus die sorgfältige Prüfung der Empfehlungen der Kommission und der Eckpunkte des Generalinspekteurs gewährleisten dadurch, daß wir zu Schwerpunkfragen mit Spezialisten zum Teil auch aus der Wirtschaft unsere Gespräche fortsetzen werden.
Schwerpunktfragen sind: Nutzung der Informationstechnologie im Zusammenhang mit Führungsfähigkeit der Bundeswehr und mit Straffung des Betriebs und Senkung der Kosten. Eine zweite ist eine streitkräftegemeinsame Logistik und die Kooperation mit der Wirtschaft. Hier scheint ein anderes Prinzip auf: Das alte Autarkiedenken der Streitkräfte gehört der Vergangenheit an. Streitkräfte werden sich in Zukunft auf militärische Kernfähigkeiten konzentrieren und im übrigen enger mit der Wirtschaft und den Unternehmen kooperieren. Wir werden eine solche Schwerpunkterörterung machen im Zusammenhang mit den Modellen zur Personalentwicklung. Eine vierte zu Fragen der Führungsorganisation und der territorialen Wehrorganisation, weil die Kommission auch hier völlig Recht hat: Der Abbau bestimmter Fähigkeiten und die Reduzierung des sogenannten Verteidigungsumfangs der Bundeswehr wird erhebliche Auswirkungen auf den Umfang des Geräts und folglich auch auf die Kosten, die dadurch verursacht werden, haben. Und wir werden uns wiederum gemeinsam mit der Wirtschaft auch noch um ein fünftes Thema, nämlich die Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Wehrverwaltung, dem Liegenschaftenmanagement und anderem stellen, kümmern. Dies alles geschieht vor der Kabinettsentscheidung.

Hinsichtlich der Fraktionen des Deutschen Bundestages habe ich allen Fraktionen erneut angeboten, für Erörterungen zur Verfügung zu stehen. Das wird am 6. Juni beispielsweise geschehen innerhalb der Sozialdemokratischen Bundestagsfraktion so wie heute abend ja auch. Es wird auch mit der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen - geschehen. Und ich will darauf hinweisen, daß ich ja mit den Fraktionsspitzen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP schon gesprochen habe.

Die Freunde und Partner werden informiert werden bei dem deutsch-französisch-polnischen Treffen Ende des Monats, bei dem NATO-Workshop, der Anfang Juni hier in Berlin stattfindet, bei der Frühjahrstagung der NATO-Verteidigungsminister, die am 8. Juni stattfindet, bei dem französisch-deutschen Gipfel, der am 9. Juni stattfindet, und bei einem Zusammentreffen mit dem russischen Verteidigungsminister am 9. und 10. Juni hier in Berlin.

Die Bundesrepublik Deutschland ist verpflichtet, die Neukonzeption ihrer Bundeswehr und die Fragen, die sich daraus an ihre Sicherheitspolitik stellen, mit ihren Partnern und Freunden sorgfältig zu erörtern und abzustimmen, zu gewährleisten, daß die eingegangenen Verpflichtungen zuverlässig und dauerhaft erfüllt werden, und sie sind im übrigen auch verpflichtet, die Partner gemeinsamer Sicherheit, die nicht zu den gemeinsamen Institutionen gehören, wie beispielsweise Rußland aber auch die Ukraine, entsprechend zu informieren.

Ein solcher Veränderungsprozeß bedarf klarer Führung, und klare Führung bedarf personeller Kontinuität. Ich werde deshalb auf seinen Wunsch hin dem Bundespräsidenten vorschlagen, den Generalinspekteur der Bundeswehr mit Wirkung vom 01.07. des Jahres 2000 in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen, und auf diese Weise die Sicherheit dafür schaffen, daß diese Verzahnung aus konzeptioneller und operativer Arbeit dauerhaft gewährleistet werden kann durch die Berufung eines neuen Generalinspekteurs. Das wird der Chef des Planungsstabes, Herr General Kujat, sein. An dessen Stelle wird der bisherige Stabsabteilungsleiter für politisch-militärische Fragen, General Schneiderhan, treten. Im übrigen habe ich heute alle Personalentscheidungen, die mit den Teilstreitkräften zu tun haben, getroffen, und zwar so, daß sie bis ins Jahr 2001 und zwar bis zum Ende des Jahres 2001 oder länger tragfähig sind. Vor diesem Hintergrund ist gewährleistet, daß es im politischen wie im militärischen Bereich eine klare, dauerhafte und verläßliche Führung für diesen allerdings sehr tiefgreifenden und umfassenden Reformprozeß der Bundeswehr geben wird.

Ich bitte um Verständnis, daß es ein bißchen länger war als bei Pressekonferenzen üblich. Aber es war hoffentlich auch informativ.

Die Zusammenfassung des Papiers der Weizsäcker-Kommission im Wortlaut (23.05.2000)

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