Bildende Tat
Staatsakt für den verstorbenen Altbundespräsidenten C: Alle rühmen seine Rede zum "Tag der Befreiung" am 8. Mai, doch es ist meist nur Gerede
Von Kurt Pätzold *
Abschied von einem der herausragendsten Politiker und Staatsmänner der BRD: Im Berliner Dom werden heute 1.400 ausgewählte Gäste zum Staatsakt für den verstorbenen Altbundespräsidenten Richard von Weizsäcker erwartet. Die Bevölkerung ist zu der Gedenkveranstaltung nicht eingeladen. Weizsäcker hat, geht man die Reihe seine Vorgänger in der Geschichte der Bundesrepublik durch und sieht man von Gustav Heinemann ab, das sonst tätig gewordene Personal um Haupteslänge überragt. Für sie alle gilt freilich, dass ihr Platz in deutscher Geschichte, wie viele Fragen an ihr Wirken immer gestellt werden mögen, sich an einer entscheidet: Welche Rolle haben sie in den Zeiten des Kalten Krieges gespielt und was haben sie geleistet zu verhindern, dass aus ihm ein heißer, fraglos mit Atomwaffen geführter wurde? Soweit, diese Frage allen anderen voranzustellen, sind die westdeutsche Politik und Geschichtsschreibung jedoch bisher noch nicht gekommen.
Mit der Nachricht vom Tode Richard von Weizsäckers am 31. Januar wurde wieder und wieder an jene seiner
Reden erinnert, die er 1985, am 40. Jahrestag des Sieges über den deutschen Faschismus, vor dem Deutschen Bundestag hielt, und daraus wird jene Passage zitiert, in der er davon sprach, dass dieser Maitag ein »Tag der Befreiung« gewesen sei. Das war eine Tat, die zu einer Wende im Rückblick auf deutsche Geschichte aufrief und nicht nur auf die eines einzigen Tages. Bis dahin waren von Politikern, Publizisten, auch von Geschichtswissenschaftlern Begriffe wie Kriegsende, Kapitulation, Niederlage, selbst Katastrophe benutzt worden, um das Ende des faschistischen Reiches und seiner Machthaber zu bezeichnen. Erst vor diesem Hintergrund, der doch die verweigerte Aufklärung darüber einschloss, was diese zwölf Jahre gewesen waren, tritt klar hervor, dass sich der Begriff »Befreiung« nahezu mit einer Revolutionierung des Geschichtsdenkens verband, ja sie geradezu verlangte. Der Redner wollte das auch erreichen, im Wissen, dass ihm ein nicht zu bestimmender Teil der Bundesbürger dabei nicht folgen werde.
Was Weizsäcker schwerlich gutgeheißen hätte, ist aber, dass dieser sein Auftritt Tage nach seinem Tode merkwürdig aufgeblasen wird. Der Mann war informiert und gebildet genug, um zu wissen, dass der von ihm in einer Staatsrede verwendete Begriff andernorts längst gang und gäbe war und kein Aufsehen erregte. Beispielsweise jenseits der bundesrepublikanischen Ostgrenze im anderen deutschen Staat. Dort stand er in den Schulgeschichtsbüchern, und das seit Jahrzehnten. Die Soldaten in den alliierten Armeen galten als Befreier und, mit den Tatsachen übereinstimmend, wurden jene der Roten Armee als diejenigen bezeichnet, die am Sieg den größten Anteil besaßen und bei der Zerschlagung der deutschen Militärmacht die meisten Opfer hatten bringen müssen. Aller Befreier Tat war in der DDR auch durch Straßentaufen gedacht worden. Straßen der Befreiung gab es in Großstädten wie Berlin, Leipzig, Dresden, Halle und in vielen kleineren Städten und Orten wie Altenberg, Banzkow, Grimmen, Reinsdorf oder Zossen – und nicht überall wurden wie in Berlin und den beiden sächsischen Metropolen nach 1990 in anpassendem Übereifer Um- und Rückbenennungen vorgenommen. Diese Vorgänger und Vorgänge im Gebrauch des Begriffs Befreiung nehmen der Tat Weizsäckers nichts an Gewicht, Bedeutung und Denkwürdigkeit.
Wer sich auf dieses wesentliche Detail deutscher »Geschichtsbewältigung« ernsthaft einlässt, kommt an zwei bemerkenswerten Tatsachen nicht vorbei. Die eine besteht in den unterschiedlichen Inhalten, die dem Begriff Befreiung bis heute in Deutschland gegeben werden. Häufig, und da ist er noch gut verträglich, wird er als die Befreiung von Machthabern verstanden, die das Volk zu einem Opfer gemacht und es in das größte Elend seiner Geschichte nach dem Dreißigjährigen Krieg geführt hatten. Anders steht es um die Akzeptanz von Befreiung, wenn sie als das Ende einer verbrecherischen Rolle der Deutschen verstanden wird, wie sie keine der vielen Generationen vorher je gespielt hatte, wenn sich damit das Eingeständnis verbindet, dass den Deutschen die Mordwerkzeuge aus den Händen geschlagen und ihnen die Chance eröffnet wurde, sich einen Weg zu Anstand und Wiedergewinn eines Ansehens zu suchen, das, wenn schon nicht sie, so doch ihre Vorfahren besessen hatten. In diesem Sinne wurde die Geschichtswende des Jahres 1945 an DDR-Schulen im Unterricht dargestellt.
Die zweite Tatsache, die 2015 nicht unerwähnt bleiben kann, besteht darin, dass der Sowjetunion und ihrer Armee ein Verdienst um die wie immer gedeutete Befreiung nicht nur im Hinblick auf die Deutschen nicht gelassen wird. Zur Staatsdoktrin der Bundesrepublik wurde das Dogma erhoben, es sei für den Osten Deutschlands 1945 nur eine Diktatur gegen eine gleich furchtbare getauscht worden, die bewaffnet importiert wurde. Es vergeht kein Tag, an dem nicht an dem Horrorgemälde DDR gearbeitet wird. Demnach ist die Befreiung der Ostdeutschen nicht 1945, sondern 1989/1990 und durch sie selbst erfolgt und durch eine Revolution, aber gewaltlos. In den Staatsreden am 27. Januar 2015 anlässlich des Jahrestages der Befreiung von Auschwitz ließ sich die Erwähnung der sowjetischen Armee nicht vermeiden, in den Medien in den Tagen zuvor geschah das konsequent.
Und schließlich, die das Verdienst Weizsäckers rühmen, sollten sich doch auch ein wenig über seine Reichweite informieren. Dazu könnten ihnen in der Bundesrepublik gebräuchliche Schulgeschichtsbücher dienen. In einem 1995, also zehn Jahre nach der viel zitierten Rede herausgegebenen, werden die Begriffe »totale Niederlage«, »Ende des Krieges« und »bedingungslose Kapitulation« in Überschriften benutzt. In einem weitere zehn Jahre später benutzten heißen sie »Der deutsche Zusammenbuch« und »Die Kapitulation«, und in der Rubrik des Wichtigen wird die »Bedingungslose Kapitulation« aufgeführt. In einem dritten 2001 zugelassenen Geschichtsbuch ist der einschlägige Text »Kriegsende und Kapitulation« überschrieben. Der Begriff Befreiung taucht in dieser Literatur nicht auf. Und das lässt fragen. Wäre es nicht an der Zeit und nun auch eine Pflicht, im Gedenken an den Toten zu sorgen, dass nicht nur die Autoren der Schulgeschichtsbücher und die Politiker, die über deren Zulassung entscheiden, vom rühmenden Gerede zur bildenden Tat schreiten?
* Aus: junge Welt, Mittwoch, 11. Februar 2015
Reaktion: Bundesregierung will nicht selbst erinnern **
Die Bundesregierung will an den »Tag der Befreiung« am 8. Mai nicht mit eigenen Veranstaltungen erinnern. Das geht aus den Antworten auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervor. Man wolle die Aufarbeitung von Geschichte sowie entsprechende Gedenkakte »nicht in Eigenregie« durchführen. Begründung: Man wolle kein »staatlich verordnetes Geschichtsbild« fördern, »sondern ein wissenschaftlich fundiertes und gesellschaftlich verankertes Erinnerungswesen«.
Die Bundesregierung stellt auf Nachfrage außerdem klar, den 8. Mai nicht zu einem nationalen Gedenktag an die Befreierinnen und Befreier vom deutschen Faschismus zu erklären. »Entsprechende Planungen bestehen nicht.« Dafür hat sie im vergangenen Sommer beschlossen, zusätzlich zum Weltflüchtlingstag einen nationalen »Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung« einzuführen.
Die Linke-Abgeordnete Sevim Dagdelen kritisiert das offizielle Nichterinnern scharf. In einer am Dienstag verbreiteten Stellungnahme heißt es: »Die Bundesregierung will die Krise mit Russland politisch instrumentalisieren und das Gedenken an die Sieger über den deutschen Zivilisationsbruch entsorgen. Weder im In- noch im Ausland plant die Bundesregierung irgendwelche eigenen Aktivitäten. Das ist ein offener Affront gegen die noch lebenden und für die Freiheit gefallenen Befreier.«
Die Sprecherin für internationale Beziehungen der Linksfraktion erklärt anlässlich der Antwort der Bundesregierung auf ihre kleine Anfrage (Bundestagsdrucksache 18/3779) weiter: »Der 70. Jahrestag der Befreiung vom Nazismus führt bei der Bundesregierung ins bundespolitische Nirwana. Sie verweigert damit vor allem den Angehörigen der Rote Armee ein ehrendes und würdiges Gedenken. Denn sie war es, die dem Morden in Auschwitz ein Ende gesetzt und mit enormen Opfern wesentlich zur Niederlage der Nazi-Diktatur beigetragen hat.«
Dagdelen fordert die Bundesregierung auf, »der Befreier, die die Menschheit vom Nazismus gerettet haben, würdig und angemessen zu gedenken. Sie darf diese nicht einer antirussischen Politik opfern.«
** Aus: junge Welt, Mittwoch, 11. Februar 2015
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