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"Bleiben Sie politisch aktiv"

Frauenprotest gegen Waffenlieferung im Bundestag: Richter stellt Verfahren gegen Geldauflage ein

Von Claudia Wangerin *

Nach nur 23 Sekunden hatte die Bundestagspolizei die Protestaktion am 1. September 2014 beendet, wegen der vier Frauen am Freitag in Berlin vor Gericht standen. Anklagevorwurf: Störung der Tätigkeit eines Gesetzgebungsorgans. Die Angeklagten hatten mit Zwischenrufen gegen Waffenlieferungen an die Peschmerga der kurdischen Autonomieregierung im Nordirak protestiert.

Zwei der Aktivistinnen sind jesidisch-kurdischer Herkunft und erklärten vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten in freier Rede, warum sie »Nicht in unserem Namen« riefen, als der Bundestag den zwei Tage zuvor getroffenen Kabinettsbeschluss bestätigen sollte, Panzerabwehrraketen, Panzerfäuste und Gewehre aus Beständen der Bundeswehr an die Peschmerga zu liefern. Die Befürworter aus der schwarz-roten Regierungskoalition und der Fraktion der Grünen hatten mit der Rettung und dem Schutz von Frauen und Minderheiten vor Vergewaltigung, Versklavung, Folter und Zwangskonvertierung durch die Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) argumentiert.

Jesidische Überlebende der IS-Massaker von Sengal im August 2014 und Angehörige der jesidischen Community in Europa hatten aber immer wieder betont, dass es nicht die Peschmerga gewesen waren, die sie gerettet hatten, sondern Einheiten der in Deutschland verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). »Genau die, die uns im Stich gelassen haben, bekommen die Waffen«, sagte die Angeklagte Hüsniye G. am Freitag vor Gericht.

Während der Plenardebatte im Bundestag hatten mehrere Aktivistinnen auf der Besuchertribüne ein Transparent mit dem Schriftzug »Eure Waffen sprengen nicht die IS-Fesseln, die unsere Frauen gefangen halten« entrollt und »Nicht in unserem Namen« gerufen.

»Die Waffen wurden ausdrücklich an die kurdischen militärischen Einheiten geliefert, die vor dem IS-Massaker in Sengal 450.000 Menschen dort ungeschützt zurückließen«, betonte die Angeklagte Mechthild E. in ihrer Prozesserklärung. Hazzo A. hielt ihre emotionale Verteidigungsrede auf Kurdisch: »Ich musste meiner Traurigkeit über die Leiden der Jesiden und Jesidinnen von Sengal, die kaum auszuhalten war, mit Wut und Empörung einen Ausdruck geben«, übersetzte ein Dolmetscher.

»Die Stimmen jesidischer und anderer kurdischer Frauen interessierten nur, soweit sie sich für die Ziele der deutschen Regierung einbinden ließen«, kritisierte Mechthild E. Die vierte Angeklagte, Ann-Kristin K., nannte als Förderer des IS »Staaten wie der NATO-Partner Türkei oder westliche Verbündete wie Katar und Saudi-Arabien, in die regelmäßig deutsche Waffen exportiert werden«.

»Meine Damen, Sie können sicher sein, dass alle hier im Raum der Meinung sind, dass das eine ganz dramatische Situation ist, und die Meinungsfreiheit ein hohes Gut«, befand der Richter. Auch sei durch den 23-Sekunden-Protest »die Gesetzgebung der Bundesrepublik sicher nicht in ihren Grundfesten erschüttert«. Die Staatsanwaltschaft habe aber einer sanktionslosen Einstellung des Verfahrens bisher nicht zugestimmt. Die Geldauflage wurde schließlich für Hüsniye G., Hazzo A. und Ann-Kristin K. auf jeweils 200 Euro festgesetzt, für Mechthild E., die schon einmal einschlägig aufgefallen war, auf 300 Euro – gemäß dem Vorschlag der Verteidigerinnen zu zahlen an die Frauenbegegnungsstätte Utamara e.V. in Kasbach bei Bonn. »Bleiben Sie politisch aktiv, aber versuchen Sie solchen Ärger in Zukunft zu vermeiden«, gab der Richter den Frauen mit auf den Weg.

Spendenkonto: Azadi e.V., Kennwort: Sengal-Berlin
GLS-Bank Bochum
BIC: GENODEM1GLS
IBAN: DE 80 4306 0967 8035 7826 00


* Aus: junge Welt, Samstag, 9. Mai 2015


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