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Jung tarnt und täuscht – immer noch

Falschaussagen aus dem Verteidigungsministerium über Luftangriff in Kundus sorgen für parlamentarisches Nachspiel

Der Bundestag beriet gestern (26. Nov.) über die Auslandseinsätze der Bundeswehr. Die schwarz-gelbe Bundesregierung will zunächst einmal weiter machen wie bisher. Vor allem in Afghanistan. Doch nun kamen Tatsachen über einen Luftangriff vom 4. September bei Kundus in die Öffentlichkeit, die die Regierung lieber geheim gehalten hätte. Sie belasten insbesondere den damaligen Verteidigungs- und heutigen Arbeitsminister Franz Josef Jung. Der lehnte gestern einen Rücktritt ab.

Donnerstag (26. Nov.) im Parlament. Zunächst ging es um die Verlängerung des deutschen ISAF-Mandats für Afghanistan. Die schwarz-gelbe Koalition will dort weiter 4500 Soldaten in den Kampf schicken. Sie weiß sich dabei auch mit NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen eins, der gestern in Berlin gegenüber Kanzlerin Angela Merkel und Außenminister Guido Westerwelle ausdrücklich die deutsche Beteiligung lobte und von noch stärkerem Engagement sprach. Auf dem Bundestagsprogramm standen auch der UNIFIL-Einsatz vor der Küste Libanons sowie die weitere Teilnahme deutscher Soldaten an der sogenannten Anti-Terror-Operation Enduring Freedom.

Arbeitsminister Jung tritt nach Vertuschungsvorwürfen zurück

Nach dem Vorwurf der Vertuschung von brisanten Informationen während seiner Amtszeit als Verteidigungsminister ist Bundesarbeitsminister Franz Josef Jung (CDU) zurückgetreten: Er habe Kanzlerin Angela Merkel (CDU) davon unterrichtet, dass er sein Amt zur Verfügung stelle, erklärte Jung am 27. Nov.

"Ich übernehme damit die politische Verantwortung für die interne Informationspolitik des Bundesverteidigungsministeriums gegenüber dem Minister bezüglich der Ereignisse am 4. September in Kundus", sagte Jung. Er bezog sich dabei darauf, dass sein Nachfolger im Verteidigungsministerium, Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), erst am Mittwoch (25. Nov.) über einen schon seit September vorliegenden Bundeswehrbericht informiert wurde, wonach bei dem Luftangriff in der Nähe von Kundus in Nordafghanistan auch Zivilisten zu Schaden gekommen waren.

Jung machte deutlich, dass er mit seinem Rücktritt die Arbeit der Bundesregierung nicht belasten und Schaden von der Bundeswehr abwenden wolle. Der 60-jährige Hesse war erst vor vier Wochen in der neuen Regierung vom Verteidigungs- zum Arbeitsressort gewechselt.

Regierungssprecher Ulrich Wilhelm hatte kurz zuvor mit Blick auf die Vorgänge in Kundus erklärt, wenn Vertrauen "erschüttert" sei, könne es nur durch "Transparenz und Offenheit" wiederhergestellt werden. Die Kanzlerin hatte den brisanten Bundeswehr-Bericht zu dem Luftangriff laut Wilhelm am Mittwochabend von Guttenberg per Fax bekommen. Bei den Dokumenten handelt es sich unter anderem um Kurzberichte, die direkt nach dem Angriff gefertigt wurden.

Quelle: Agenturmeldungen vom 27. November 2009



Beherrscht wurde die Debatte über den Afghanistan-Einsatz jedoch von einem Bericht der Bild-Zeitung. Inhalt: Der damalige Verteidigungsminister Jung (CDU) habe die Öffentlichkeit und das Parlament wissentlich falsch über die Folgen des Bombenangriffs auf zwei von Aufständischen gekaperte Tankwagen informiert. Die Attacke zweier US-Jagdbomber war am 4. September in der Nähe der afghanischen Stadt Kundus vom deutschen Oberst Georg Klein befohlen worden und hat vermutlich 142 Menschenleben gekostet.

Jung hatte noch am 6. September erklärt: »Nach allen mir zur Zeit vorliegenden Informationen sind bei dem durch ein US-Flugzeug durchgeführten Einsatz ausschließlich terroristische Taliban getötet worden.« Doch er musste es besser wissen. Bereits am Abend des 4. September meldete das deutsche Regionalkommando in Masar-i-Sharif an das Einsatzführungskommando, es gebe klare Hinweise auf zivile Opfer. Das haben sowohl deutsche Feldjäger als auch ein deutscher Militärarzt und NATO-Verbündete ermittelt.

Lüge Nummer zwei. Am 8. September beharrte Jung vor dem Bundestag darauf, dass der deutsche Oberst durch klare Aufklärungsmittel den eindeutigen Hinweis hatte, dass es sich ausschließlich um regierungsfeindliche Kräfte gehandelt habe. Diese Aussage – so wurde bereits eine gute Woche nach dem Angriff aus NATO-Kreisen bestätigt – ist falsch. Es gab nur einen Informanten, der, so wusste es Jung auch, zudem gar nicht am Ort des Geschehens war.

Das alles legt den Schluss nahe, dass der Minister das Parlament und die Öffentlichkeit belogen hat. Zudem wurden den ermittelten Staatsanwälten offenbar nur Teilwahrheiten zugestanden. Aber während Jung den Vorwurf zurückwies, bestätigte sein Nachfolger im Amt, Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), dass unter seinem Vorgänger wichtige Informationen zu dem Luftangriff bei Kundus zurückgehalten wurden. Der Verteidigungsminister versprach eine Untersuchung. Die Verantwortung übernahmen derweil Bundeswehr-Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan und Verteidigungs-Staatssekretär Peter Wichert. Beide verloren gestern ihre Ämter.

Der Opposition reichen aber die »Bauernopfer« nicht. Sie forderte Jung zum Rücktritt auf. Der jetzige Arbeitsminister müsse Konsequenzen aus dem Vorfall ziehen, hieß es bei SPD, LINKEN und Grünen. Aber das focht den Ex-Verteidigungsminister nicht an. Jung lehnte einen Rücktritt am Abend in einem weiteren Auftritt vor dem Parlament ab. Während Unionsfraktionschef Volker Kauder im ARD-Morgenmagazin noch Jung in Schutz genommen hatte und davon ausging, »dass er es nicht gewusst hat«, hatten Beobachter jedoch am Nachmittag bei Kanzlerin Merkel deutliche Distanz zu Jung ausgemacht. Sie hatte ihrem Parteifreund bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Rasmussen die Rückendeckung versagt, indem sie »volle Transparenz« einforderte – und den jetzigen Verteidigungsminister bat, aufzuklären, »was vielleicht noch aufzuklären ist«. Insofern könnte der Rücktritt Jungs vielleicht gestern nur aufgeschoben, womöglich aber demnächst nicht aufgehoben sein.

Die SPD, zu Zeiten des Vorfalls selbst in der Regierung, will jedenfalls – so wie LINKE und Grüne – unverzüglich einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einsetzen. Auch der Wehrbeauftragte des Bundestages, Reinhold Robbe (SPD), hat rasche Aufklärung der Vorgänge verlangt. Die Fraktion der Linkspartei im hessischen Landtag zeigte Jung derweil wegen Strafvereitelung im Amt an. Wegen des Wohnsitzes von Jung im Rheingau ist zunächst die Staatsanwaltschaft Wiesbaden für eine solche Anzeige zuständig.

Die Friedensbewegung hat in den letzten Tagen bundesweit Abstimmungsaktionen zum weiteren Verbleib der Bundeswehr in Afghanistan durchgeführt. Bereits jetzt sei erkennbar, dass eine »erdrückende Mehrheit« mit Nein stimmte, erklärten die Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag.

* Aus: Neues Deutschland, 27. November 2009


Umwege beim Rückzug aus dem Teufelskreis

Linksfraktion fordert unverzüglichen Abzug der deutschen Truppen aus Afghanistan und steht damit weiter allein

Von René Heilig **


»Offenheit, Transparenz, Ehrlichkeit schaffen Vertrauen«, sagte Vizekanzler und Außenminister Guido Westerwelle in der gestrigen Afghanistan-Bundestagsdebatte. Wenn das stimmt, dann hätte er zugleich sagen müssen: Der »Westen« ist mit seiner Arroganz und der Militärmacht gescheitert. Krieg ersetzt keine Vernunft. So ehrlich war er aber nicht.

Westerwelles Rede war alles mögliche, nur nicht klug, und Zwischenrufe brachten ihn ziemlich aus dem Konzept. Wir fühlen uns der Menschlichkeit und unseren ureigensten Sicherheitsinteressen verpflichtet, plapperte der FDP-Mann seinem Amtsvorgänger von der SPD nach. »Sicherheit ist das Schlüsselwort für unseren Einsatz«, sagte er, wissend, dass der fast achtjährige Einsatz am Hindukusch nur zu immer weniger Sicherheit geführt hat. Die soll nun »selbsttragend« werden. Richten sollen es vor allem mehr Polizisten. Über das Wie war nicht einmal Schwammiges zu hören.

Der Außenminister ließ aber seine Einsicht erkennen, dass Afghanistan eine neue Strategie brauche. Doch wie die aussehen könnte, davon hat Westerwelle nur eine schwache Ahnung. Erst müsse man sich mit den wichtigsten Bündnispartnern und den Afghanen selbst verständigen. Was er eigentlich sagen wollte, müsste lauten: Solange USA-Präsident Obama seine Strategie noch nicht vorgelegt hat, weiß auch die Bundesregierung nicht, wie sie sich einpassen soll. Bis dahin schiebt man der durch massiven Wahlbetrug ins Amt gekommenen Karsai-Regierung die Verantwortung für eine Entwicklung in Richtung Frieden zu. Absurd.

Dass Schwarz-Gelb den eigenen Aussagen nicht glaubt und bei Rückzugsüberlegungen viel weiter ist, als man momentan zugibt, zeigte sich an scheinbar marginalen Sätzen, die da lauten: Man müsse gemäßigte Taliban finden, mit denen eine Rückkehr zu geordneten Verhältnissen möglich ist. Satz Nummer zwei: Die afghanische Lösung müsse eine regionale sein, die die Interessen der Nachbarstaaten einschließe.

Angriff als bessere Verteidigung demonstrierte Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU). Das, was »Bild« über Vertuschungen zum von einem deutschen Oberst befohlenen September-Bombardement auf Tankwagen, Taliban und Zivilisten berichtet hat, sei ihm bis Mittwoch nicht bekannt gewesen. Über den Anteil seines Vorgängers im Amt, dem heutigen Arbeitsminister Franz-Josef Jung (CDU), äußerte er sich nicht. Dennoch warf er von ihm ererbten Ballast ab: Der Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan (63), sowie Verteidigungs-Staatssekretär Peter Wichert (64) hätten sich von ihren Ämtern zurückgezogen. Und selbstverständlich würden die Bundestagsfraktionen den wahrheitsgemäßen Bericht zur Einsicht erhalten.

36 deutsche Soldaten seien in Afghanistan gefallen, über 120 verwundet worden. Der Verteidigungsminister bekannte sich zur Verantwortung für seine Untergebenen und zu der, die sie übernehmen. Dabei gehe es um Leben und Tod. Soweit das Bekannte. Doch zu Guttenberg schlug neue Töne an. Man müsse den Afghanistan-Einsatz »von seinem Ende her denken«, es müssten ein »klarer Rahmen« und vor allem klare Schritte zu seiner Beendigung definiert werden. Er verlangte »ressortgemeinsames Handeln«. Afghanistan sei nicht nur Sache der Bundeswehr, dem drittgrößten Truppensteller am Hindukusch. Nachzuprüfen wird auch Guttenbergs Aussage sein, dass Deutschland sich von den Verbündeten – gemeint waren sicher die USA – nicht »in ein Korsett zwingen« lasse. Man werde bei der NATO-Truppenstellerkonferenz am 7. Dezember nicht mehr Soldaten als die, die bislang schon im Einsatz sind, versprechen. Vorrang habe die Ausbildung von Polizisten.

Der Hinweis, dass der deutsche Verantwortungsbereich im Norden Afghanistans halb so groß wie Deutschland und mit 35 Prozent der afghanischen Bevölkerung besiedelt sei, war ein eindeutiger Hinweis in Richtung Wirtschaft und Entwicklungshilfe. Was sich allerdings nicht in Zahlen ausdrücken lässt. Während für den Bundeswehreinsatz jährlich rund 800 Millionen Euro ausgegeben werden, will das Entwicklungshilfeministerium nun seinen Einsatz verdreifachen – auf 150 Millionen Euro.

Ganz nebenbei verdeutlichte die gestrige Afghanistan-Debatte ein Problem des Parlaments: Kundige Abgeordnete fehlen, neue Leute reden bisweilen so ahnungslos, wie sie sind. Nicht so Paul Schäfer, der langjährige Verteidigungsexperte der Linksfraktion. Ohne den »Rucksack«, den SPD und Grüne durch ihre bisherige Afghanistan-Politik zu tragen haben, konnte er die Forderung nach einem unverzüglichen Abzug der deutschen Truppen aus Afghanistan formulieren. Wie auch Experten außerhalb des Parlaments warnte er vor einer Erhöhung des deutschen ISAF-Kontingents nach der Afghanistan-Konferenz, die im Januar in London stattfinden soll. Ein rascher Waffenstillstand solle geschlossen werden, in den die Anrainerstaaten einbezogen sind. Die Überlegung ist simpel. Schäfer formulierte so: »Wen ich am Montag erschieße, mit dem kann ich am Dienstag nicht verhandeln.«

Schäfer verlangte von der Regierung, endlich aus dem Teufelskreis Truppenerhöhung und wachsender Widerstand auszubrechen. Doch alles, was dazu als schrittweise Übergabe von Distrikten an die afghanische Verwaltung bis 2013 angerissen werde, sei nicht dazu angetan, den Krieg zu beenden.

Neben der Suche nach einem Ausweg aus dem NATO-Debakel in Afghanistan war Ex-Verteidigungsminister Jung und die von ihm zu verantwortende Vertuschungsaktion Gegenstand kritischer Debatten. Der bisherige Vizekanzler und Außenminister Frank-Walter Steinmeier, in früheren Ämtern selbst nicht immer sehr auskunftsfreudig, verlangte von seinem Ex-Kabinettskollegen Klarheit über die Hintergründe der »Informationspannen«. Insgesamt gelang es der Opposition aber nicht, Jung im Plenum zu einer Stellungnahme zu zwingen. Die amtierende Parlamentspräsidentin Gerda Hasselfeldt konnte in einer von der SPD beantragten Geschäftsordnungsdebatte erst durch einen sogenannten Hammelsprung die Koalitionsmehrheit gegen einen Auftritt Jungs feststellen.

** Aus: Neues Deutschland, 27. November 2009


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