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Bio-Terrorismus: Rätselhafte Milzbrand-Fälle

Hintergrundinformationen zu einem leidenschaftlich diskutierten Thema

Der Wochenzeitung "Freitag" vom 12. Oktober 2001 entnahmen wir die folgende Analyse von Irene Meichsner: "Waffentaugliche Viren".

Bis in die letzten Winkel der Erde waren die Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation WHO vorgedrungen. Auf jeden neuen Ausbruch von Pocken hatten sie mit Massenimpfungen reagiert. Elf Jahre lang. Und dann war es so weit. Der mörderische Erreger, der jedes Jahr Millionen Menschen getötet, unzähligen das Augenlicht gekostet und mit Pockennarben gezeichnet hatte, schien besiegt. Zum ersten und bislang einzigen Mal in der Medizingeschichte hatte man eine Krankheit ausgerottet. Am 8. Mai 1980 erklärte die WHO die Welt für "pockenfrei". Wenig später wurde der Impfzwang aufgehoben. Übrig blieben offiziell nur zwei Virusbestände, einer im Hochsicherheitslabor der US-Seuchenbehörde Centers Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta, der andere im Staatlichen Russischen Forschungszentrum bei Nowosibirsk. Eine Ära schien zu Ende, glaubte damals auch Donald A. Henderson, Leiter der ruhmreichen WHO-Aktion.

Heute ist Henderson Direktor des US-Zentrums für zivile Verteidigung gegen Biowaffen an der John Hopkins School of Public Health in Baltimore. Und er gehört zu denen, die schon seit Jahren davor warnen, dass man das Kapitel "Pocken" voreilig geschlossen hat. "Die gezielte und bewusste Wiedereinführung der Pocken wäre eine kriminelle Tat von beispiellosen Dimensionen. Aber sie muss als realistische Möglichkeit betrachtet werden", fasste ein unter seiner Leitung konzipiertes Konsenspapier die Situation bereits im Juni 1999 zusammen.

Mit den Terrorakten von New York und Washington sind solche Schreckensvisionen schlagartig auch ins öffentliche Bewusstsein gerückt. "Wir müssen damit rechnen, dass Menschen willkürlich mit biologischen oder chemischen Stoffen geschädigt werden", heißt es im jüngsten Bericht der WHO über Gefahren durch chemische und biologische Waffen. Das Pockenvirus ist nur einer von mehreren Krankheitserregern, die als Bio-Waffen gehandelt werden (siehe Kasten). Aber er ist derjenige, den viele Fachleute am meisten fürchten. Denn: Anders als die berüchtigten, ebenfalls waffentauglichen Milzbrand- oder Anthrax-Bakterien werden die hoch infektiösen, in mindestens 30 Prozent aller Fälle tödlichen Variola-Viren von Mensch zu Mensch übertragen. Die Inkubationszeit beträgt sieben bis 17 Tage. Weil Ärzte seit Jahrzehnten keine Pocken mehr gesehen haben, könnten sie die ersten unspezifischen Symptome wie Fieber und Schüttelfrost leicht mit einer Grippe verwechseln.

Aufgrund ihrer relativ großen Stabilität könnte sich das Variola-Virus leichter handhaben lassen als mancher andere Erreger. Und es dürfte dafür einen Schwarzmarkt geben. Seit Ende 1998 liegt der US-Regierung ein Geheimdienstbericht vor, demzufolge Nord-Korea und der Irak mit hoher Wahrscheinlichkeit über Pockenviren verfügen. Im Mai 1998 hatte Ken Alibek, ehemals stellvertretender Direktor der sowjetischen Behörde für die Erforschung und Herstellung biologischer Waffen, vor dem US-Kongress ausgesagt, dass in seiner Heimat schon seit 1981 forciert an waffenfähigen Pockenviren geforscht worden sei und in Geheimlabors tonnenweise Variola-Kampfstoffe gelagert hätten. Der Kreml spielte mit falschen Karten, als er sich - mitten im Kalten Krieg - an der WHO-Aktion zur Ausrottung der Pocken beteiligte. Moskau habe, schreibt Alibek in seinem Buch über Russlands Geheimpläne für den biologischen Krieg, die militärische Chance konsequent nutzen wollen, dass "eine nicht länger gegen Pocken geimpfte Welt wieder anfällig für die Seuche" sei.

Heute arbeitet Alibek, der 1992 in die USA geflohen war, an Abwehrstrategien gegen Bio-Attacken. Natürlich sei "ein bestimmtes Maß an medizinischem und biologischem Fachwissen Voraussetzung, um eine einigermaßen gut funktionierende Waffe herzustellen", erklärte er unlängst in einem Interview mit der Züricher Weltwoche. Aber er halte es für "unverantwortlich, die Gefahr herunterzuspielen".

Dass die Welt auf einen Anschlag mit biologischen Kampfstoffen denkbar schlecht vorbereitet wäre, steht außer Zweifel. Die meisten Produktionsanlagen für Pockenvakzine sind seit langem geschlossen. In einer aktuellen Bestandsaufnahme über die verfügbaren Vorräte an Pocken-Impfstoffen wurden in den USA 15,4 Millionen Impfportionen gezählt; weltweit waren es Ende der neunziger Jahre nach Angaben der WHO höchstens 50 Millionen. Zum Vergleich: Als in Jugoslawien 1972 der letzte Pockenfall auftrat und die Bevölkerung zur Impfung aufgerufen wurde, hat man allein in diesem Land 20 Millionen Impfdosen verbraucht.

In den USA löste die Aussicht auf Anschläge mit Bio-Waffen schon vor den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon erhebliche Betriebsamkeit aus. Der Etat zur Verteidigung gegen Bioterror wurde deutlich aufgestockt. Im vorigen Jahr gab die US-Regierung bei der Firma OraVax, die inzwischen von einem britischen Hersteller übernommen wurde, für 343 Millionen Dollar die Produktion von 40 Millionen Portionen eines neuen, bislang an Menschen noch nicht getesteten Pockenimpfstoffs in Auftrag. Die erste Lieferung erwartete man bislang nicht vor 2004, doch unter dem Druck der aktuellen Ereignisse soll die Produktion erheblich beschleunigt werden.

Inzwischen gibt es auch die ersten Einsatzpläne für Mitarbeiter im öffentlichen Gesundheitswesen. Eine Computersimulation der US-Regierung verlief vor drei Monaten allerdings eher niederschmetternd: während einer Pocken-Epidemie mit anfangs 24 diagnostizierten Patienten wurden innerhalb von zwei Wochen 15.000 Krankheits- und 1000 Todesfälle gezählt. Es kam zu Unruhen und Plündereien, weil die Impfstoffvorräte erschöpft waren.

Wie rasend schnell sich gerade Variola-Viren ausbreiten können, weiß man spätestens seit dem letzten deutschen Pockenpatienten. Der Mann war nach seiner Rückkehr von einer Reise nach Pakistan im Januar 1970 mit Durchfall und hohem Fieber in eine Klinik in Meschede eingeliefert worden. Weil man zunächst auf Typhus tippte, wurde er in einem Einzelzimmer auf der ersten Etage untergebracht. Dort kam er nur mit zwei Krankenschwestern in Berührung. Als sich erste Pusteln zeigten und zwei Tage später Pocken diagnostiziert wurden, wurde der Mann auf eine Isolierstation verlegt.

Trotzdem wurden in Meschede am Ende 19 Pockenkranke gezählt, darunter neun auf der dritten Klinik-Etage und ein Besucher, der sich kaum 15 Minuten im Gebäude aufgehalten und nur einmal kurz die Tür zu dem Korridor geöffnet hatte, an dem das Zimmer des Infizierten lag. Der Patient hatte an starkem Husten gelitten und die Viren damit offenbar ähnlich wirksam verbreitet wie jemand, der sie in Form kleiner Schwebestoffe ("Aerosole") aus einem Flugzeug versprühen oder mit einer Bombe zersprengen würde.

Der Kreis derer, die über das nötige Know-how verfügen, um Pockenviren in den nötigen Mengen heranzuzüchten und zu waffenfähigen Aerosolen zu verarbeiten, ist vermutlich nicht groß. Aber staatlich unterstützten Terrorgruppen oder straff geführten, finanzstarken Organisationen trauen es viele Experten zu. Mitglieder der Aum-Sekte, die 1995 in der U-Bahn von Tokio einen Anschlag mit dem Nervengas Sarin verübte, sollen 1992 sogar nach Zaire gereist sein, um an Proben von Ebolaviren heranzukommen.

Für die Sicherheit der bei den CDC aufbewahrten Viren legen die Amerikaner ihre Hände ins Feuer. Wie es um die Vorräte in Nowosibirsk bestellt ist, weiß niemand genau. Das Lager wurde jahrelang nicht von der WHO inspiziert. Bei einem Besuch im Herbst 1997 habe er eine "halbleere Anlage und eine Handvoll Wachtposten vorgefunden, die seit Monaten nicht bezahlt worden" seien, zitiert Henderson einen Augenzeugen: Niemand könne sagen, "wohin die Wissenschaftler verschwunden sind, noch wisse man genau, ob es sich außerhalb der CDC wirklich um das einzige Lager für Pockenviren" handele. Davon etwas abzuzweigen, dürfte spätestens in den Wirren während der Auflösung der Sowjetunion kein unüberwindliches Problem gewesen sein.


MILZBRAND
oder "Anthrax" wird von einem Bakterium ("Bacillus antracis") ausgelöst. Wegen seiner Stabilität würde es sich als Bio-Waffe besonders eignen; eine ganze Reihe von Ländern dürfte schon über Milzbrand-Waffen verfügen; die USA und die UdSSR stellten sie während des Kalten Krieges her. Der Erreger wird über die Haut, die Luftwege oder den Magen-Darm-Trakt übertragen. Die Krankheit lässt sich innerhalb der ersten zwei Tage mit Antibiotika behandeln. Verstreicht zu viel Zeit, führt sie zu schweren Lungenentzündungen, an denen rund 80 Prozent der Infizierten sterben. Die US-Behörden haben inzwischen Medikamenten-Vorräte angelegt, mit denen man hofft, im Ernstfall jeden Ort der USA innerhalb von 24 Stunden erreichen zu können. Der bislang einzige, von der US-Firma BioPort hergestellte Impfstoff gegen Milzbrand-Bakterien ist heiß umstritten. Das Unternehmen machte mehrfach Schlagzeilen wegen schwerer Mängel bei der Produktion. Das Präparat, das vom US-Verteidigungsministerium unter Verschluss gehalten wird und auf dem freien Markt nicht erhältlich ist, wurde 1970 zugelassen; allerdings gibt es bislang nur eine Studie, die eine mögliche Wirkung bei einer Infektion über die Haut belegt. Ob es auch vor einer Infektion über die Atemwege schützt, wurde an Menschen bislang nicht getestet; über einen Antrag von BioPort auf Änderung der Zulassung ist seit 1996 noch nicht entschieden worden. Trotzdem mussten sich während des Golfkriegs schon rund eine halbe Million US-Soldaten einer Zwangsimpfung unterziehen; seit 1997 drängt das Pentagon darauf, die Zwangsimpfung auf die gesamte Armee auszudehnen. Erst im Mai strengten dagegen zwei Offiziere der Luftwaffe eine Klage an: sie wollten erreichen, dass die Impfung nur auf freiwilliger Basis erfolgt.

LUNGENPEST
geht auf das Bakterium "Yersinia Pestis" zurück und kann sich durch Tröpfcheninfektion schnell ausbreiten. Nach einer Berechnung der WHO reichen theoretisch 50 Kilogramm des Erregers, um 150.000 von fünf Millionen Menschen zu infizieren. In einem solchen Fall rechnet man mit 36.000 Toten. Die Patienten sterben an Lungenentzündungen und Blutgerinnseln. Auch hier müssen im Frühstadium Antibiotika eingesetzt werden. Einen Impfstoff gibt es nicht.

BOTULISMUS
ist eine Nervenlähmung, die durch das Toxin des Bodenbakteriums "Clostridium botulinum" verursacht wird - eine der giftigsten Substanzen, die es auf der Erde gibt. Erst im Februar schätzten Fachleute im renommierten Journal of the American Medical Association, dass "ein einziges Gramm ausreichen könnte, um mehr als eine Million Menschen zu töten". Um größere Mengen des Toxins herzustellen, bedarf es einer industriellen Infrastruktur. Gegengifte gibt es, bislang aber nur in geringen Mengen.
Irene Meichsner

Aus: Freitag, Nr. 42, 12. Oktober 2001

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