Biowaffen, Bioterrorismus und das Abkommen über biologische Kampfstoffe
Ein Plädoyer gegen die Verengung der gegenwärtigen Diskussion
Von Alexander Kelle
In der Folge der Ereignisse vom 11. September wird immer wieder die
Gefahr eines massiven Biowaffeneinsatzes durch Terroristen thematisiert.
In der Tat zeigen die wenigen Fälle von Milzbrand in den USA eindeutig,
dass Krankheitserreger vorsätzlich als Waffe - doch entgegen der
weitverbreiteten Erwartung eben nicht als Massenvernichtungswaffe -
eingesetzt wurden. Allerdings werden in dieser "Debatte" die
Charakteristika biologischer Waffen, ihre Einsatzmöglichkeiten, aber auch
die Probleme, die mit einem effektiven Einsatz verbunden sind, oft
ausgeblendet. Genauso wird die Bandbreite der vorhandenen
Reaktionsmöglichkeiten sowohl staatlicher Zulieferer als auch
sub-staatlicher Akteure im Allgemeinen auf die Fragen reduziert, welche
Antibiotika man kaufen soll und wo noch Atemschutzmasken zu
bekommen sind. Diese dem B-Schutz zuzurechnenden Überlegungen
mögen als Bestandteile einer Gesamtstrategie einen Sinn ergeben, in der
Verengung der öffentlichen Diskussion auf diese Einzelmaßnahmen führen
sie aber zu einer verzerrten Wahrnehmung der tatsächlichen
Kontrollmöglichkeiten.Die zu Recht so wahrgenommene Unzulänglichkeit
der angeführten Einzelmaßnahmen lässt ein unnötigerweise übersteigertes
Unsicherheitsgefühl in der Öffentlichkeit entstehen.
Zählen, Messen, Buchprüfen: Die Unmöglichkeit traditioneller
Rüstungskontrolle
Das Ausgangsmaterial für biologische Waffen findet sich in Form von
natürlich vorkommenden Krankheitserregern in der Natur. Solch pathogene
Mikroorganismen wie etwa verschiedene Bakterien oder Viren sind aber
nicht mit einer biologischen Waffe oder gar deren effektivem Einsatz
gleichzusetzen. Vielmehr bedarf es der Überwindung zweier weiterer
kritischer Hürden: zunächst muss der Krankheitserreger in eine
biologische Waffe "umgearbeitet" werden. Dies ist technisch anspruchsvoll
und nicht ohne weiteres im Keller oder in der Waschküche zu
bewerkstelligen. Darüber hinaus erfordert der effektive Einsatz solcher
"weiterverarbeiteter", z.B. gefriergetrockneter und kleingemahlener
Krankheitserreger deren Ausbringung als Aerosol. Dabei muss eine für die
jeweiligen Krankheitserreger spezifische Teilchengröße erzielt werden: für
Bacilus anthracis beispielsweise liegt diese deutlich unter den
Möglichkeiten kommerzieller Aerosolgeneratoren für den Pestizideinsatz in
der Landwirtschaft.
Den Schwierigkeiten bei Herstellung und Einsatz von biologischen Waffen
stehen erhebliche Probleme bei der Biowaffen-Rüstungskontrolle
gegenüber: Sowohl die zur Herstellung von Biowaffen benötigten
Technologien und Ausrüstungen als auch die Krankheitserreger haben
einen dual-use-Charakter. Sie können nicht nur zur Herstellung
biologischer Waffen, sondern auch in der Impfstoffproduktion oder anderen
zivilen Bereichen Anwendung finden. Im Vergleich zu chemischen und
Nuklearwaffen wird im Fall von Biowaffen zudem eine deutlich geringere
Infrastruktur benötigt, was die Überprüfung der Einhaltung von
Rüstungskontrollvereinbarungen in diesem Bereich zusätzlich erschwert.
Schließlich handelt es sich - wie erwähnt - bei dem Ausgangsmaterial für
Biowaffen um Krankheitserreger, das heißt Mikroorganismen, die sich im
befallenen Wirt rapide vermehren. Die in anderen Rüstungskontrollfeldern
zur Anwendung kommenden Überprüfungsverfahren des Messens, Zählens
oder der Buchprüfung sind damit im Bereich der biologischen Waffen kaum
anwendbar.
Die von Biowaffen ausgehenden Risiken lassen sich drei Bereichen
zuordnen: zunächst ist hier das Risiko der sogenannten "horizontalen"
Weiterverbreitung zu nennen, gemeint ist die Beschaffung von Biowaffen
durch Staaten, die sie bislang nicht in ihren Arsenalen hatten. Hier ist die
Risikoabschätzung auf Grund der ausgeführten Charakteristika von
Biowaffen sehr schwierig. Zudem kursieren viele Verdächtigungen
bezüglich der Herstellung und des Einsatzes von Biowaffen, die eindeutig
propagandistischen Zwecken dienen. Nachgewiesen beziehungsweise
eingestanden wurden demgegenüber bislang lediglich zwei offensive
Programme seit Abschluss des Biowaffen-Übereinkommens (BWÜ) von
1972, nämlich im Irak und in der ehemaligen Sowjetunion.
Die Möglichkeit des Biowaffen-Erwerbs und Einsatzes durch Terroristen
hat in den vergangenen Wochen deutlich an öffentlichem Interesse
gewonnen. Allerdings ist der oft vermittelte Eindruck, bei Biowaffen handele
es sich um die ideale terroristische Waffe, irreführend. Zweifelsohne haben
biologische Waffen Merkmale, die sie für Terroristen "attraktiv" machen:
Biowaffen haben Massenvernichtungs-Potenzial, allerdings nur, wenn alle
technischen und logistischen Hürden bei Herstellung und Ausbringung
überwunden werden können. Sie können ebenfalls gegen Pflanzen und
Tiere eingesetzt werden ("Agroterrorismus"); schließlich erlaubt die
unbemerkte Ausbringung von Biowaffen den Terroristen, nach vollbrachter
Tat unbemerkt zu verschwinden.
Gegen einen terroristischen Einsatz von Biowaffen spricht zunächst die
starke moralische Norm. Nur wenn man davon ausgeht, dass Terroristen
sich nicht um ihre Reputation und damit den möglichen Verlust von
Unterstützern und Sympathisanten sorgen, entfällt dieses Argument.
Zudem tritt die Wirkung von Biowaffen auf Grund der Inkubationszeit bis
zum Ausbruch der Krankheit erst mit einem Zeitverzug von einem Tag bis
zu mehreren Wochen auf. Schließlich führen die Eigenschaften von in
Frage kommenden pathogenen Mikroorganismen zu Unwägbarkeiten
hinsichtlich ihres tatsächlichen Effektes.
Der dritte Bereich möglicher von Biowaffen ausgehender Risiken betrifft die
Veränderung existierender oder die Herstellung neuer pathogener
Mikroorganismen oder Toxine - also von Mikroorganismen produzierten
Giftstoffen - durch biotechnologische Verfahren und Methoden (vgl. Kathryn
Nixdorff in Freitag vom 19.10.2001). Damit würde nicht nur die Anzahl
möglicher Ausgangsmaterialien für Biowaffen deutlich ansteigen, auch
existierende Nachweisverfahren und Schutzmechanismen könnten damit
ausgeschaltet werden. Allerdings erscheint ein solcher Einsatz von high
tech-Verfahren nur in staatlichen Programmen realistisch; gentechnisch
veränderte Krankheitserreger dürften noch eine geraume Zeit außerhalb der
Reichweite von terroristischen Gruppen bleiben.
Biowaffen-Übereinkunft und der begrenzte Nutzen von
Export-Kontrollen
Das Biowaffen-Übereinkommen (BWÜ) von 1972 ist das Kernstück des
multilateralen Kontrollregimes für biologische Waffen. Das BWÜ trat 1975
in Kraft und verzeichnet heute 144 Mitgliedsstaaten. Es verbietet die
Entwicklung, Herstellung, Lagerung und damit auch implizit den Einsatz
biologischer Agenzien oder Toxine, die keine Rechtfertigung für
Schutzmaßnahmen, prophylaktische oder andere friedliche Zwecke haben.
Die zentrale Schwachstelle im BWÜ ist der völlige Mangel an
Überprüfungsmechanismen. Auch die bei den Überprüfungskonferenzen
1986 und 1991 vereinbarten "Vertrauensbildenden Maßnahmen" konnten
diese Lücke nicht schließen - zu gering war die Beteiligung der
Mitgliedstaaten an diesen alljährlich zu übermittelnden Meldungen, als
dass sich daraus ein größeres Vertrauen in deren vertragskonformes
Verhalten hätte entwickeln können.
Im Lichte dieser Erfahrungen kamen die BWÜ-Mitgliedsstaaten Ende 1994
überein, ein Zusatzprotokoll zum BWÜ zu verhandeln. Die Beratungen
dazu fanden von 1995 bis zum Sommer dieses Jahres in Genf statt. Im
März 2001 legte der Vorsitzende der Verhandlungen seinen
Kompromissvorschlag eines Protokolltextes vor, mit dem die verbliebenen
Divergenzen in den Verhandlungspositionen überwunden werden sollten.
Auch wenn die darin enthaltenen Kompromissformeln keinen der an den
Verhandlungen beteiligten Staaten vollends zufrieden stellten, zeichnete
sich eine breite Unterstützung für das Zusatzprotokoll ab. Erst am 25. Juli
erklärte die US-Regierung die Verhandlungen für gescheitert: Der
Protokollentwurf enthalte aus ihrer Sicht größere Gefahren sowohl für die
Sicherheit der amerikanischen Biowaffen-Schutzforschung als auch der
biotechnologischen und pharmazeutischen Unternehmen; den Zugewinn an
Transparenz, Vertrauen oder gar Sicherheit schätzte die Regierung
dagegen gering ein. Ohne die Beteiligung der USA - so die in Genf
vorherrschende Meinung - macht ein Zusatzprotokoll jedoch keinen Sinn.
Statt diesen multilateralen Verhandlungsprozess zu unterstützen,
konzentrieren sich die Bestrebungen der US-Administration darauf, nur
Teilbereiche des Biowaffen-Kontrollregimes zu stärken. Insbesondere
Exportkontrollen von dual-use Materialien, Technologien und Know-how
zielen darauf ab, die zivile Verwendung der exportierten Waren und
Dienstleistungen sicherzustellen und ihre Nutzung für geheime militärische
Massenvernichtungswaffen-Programme zu verhindern. Unter Experten
herrscht allerdings Einigkeit darüber, dass es sich hierbei um kein dem
oben beschriebenen Zusatzprotokoll vergleichbares Instrument handelt.
Exportkontrollen sind zwar in der Lage, die Beschaffungsaktivitäten von
Zulieferern zu verlangsamen und die Kosten eines derartigen Programms in
die Höhe zu treiben. Dieser Zeitgewinn müsste dann aber zur gezielten
diplomatischen Einflussnahme genutzt werden, um die Beendigung
entsprechender Programme zu erreichen. Das von den USA abgelehnte
BWÜ-Protokoll hätte die Rahmenbedingungen für solche Initiativen deutlich
verbessert. Ohne das Protokoll drohen noch so effiziente Exportkontrollen
im luftleeren politischen Raum zu verpuffen.
B-Schutz und "Homeland Defense"
Militärische Schutzvorkehrungen gegen einen Biowaffenangriff versuchen
traditionell, eine Vielzahl von Einsatzszenarien abzudecken. Entsprechend
vielfältig sind auch die Schutzmaßnahmen: Sogenannte "passive"
Schutzmaßnahmen reichen von der Entwicklung von Detektoren für
biologische Agenzien über physische Schutzmaßnahmen
(Atemschutzmasken oder Schutzanzüge) bis hin zu medizinischen
Gegenmaßnahmen wie der Entwicklung, Produktion und Bevorratung von
Impfstoffen und Antibiotika. Zu den "aktiven" Schutzmaßnahmen im
weiteren Sinne zählen präventive Militärschläge gegen die
Biowaffen-Programme von Zulieferern und deren Infrastruktur sowie das
Abfangen von mit Biowaffen bestückten Trägersystemen.
Im Falle der amerikanischen Homeland Defense-Anstrengungen wurde das
weitgefächerte Konzept des B-Schutzes auf ein einziges Szenario verengt:
der terroristische Einsatz von biologischen Waffen durch Terroristen in
einer amerikanischen Großstadt. Nicht nur die finanziellen Mittel, die zur
Bewältigung dieser Gefahr bereitgestellt wurden, sondern auch die Zahl der
am Unternehmen Homeland Defense beteiligten Regierungsbehörden und
Kongressausschüsse stieg in den vergangenen vier Jahren sprunghaft an.
All dies führte jedoch nicht dazu, ein kohärentes, effektives oder effizientes
Schutzprogramm zu etablieren. Im Gegenteil: eine Vielzahl von Studien
von sowohl unabhängigen Forschungsinstituten als auch vom angesehenen
General Accounting Office, einer Behörde des US-Kongresses, attestieren
der Regierung, dass wegen der mangelnden Koordination viele
Maßnahmen doppelt getroffen würden, weil der Kongress praktisch jeder
Gesetzesvorlage, die den Begriff "Terrorismus" im Titel trage, zustimme.
Auch nach dem 11. September und den seither bekannt gewordenen
Fällen von Milzbrandinfektionen bleiben die von biologischen Waffen
ausgehenden Risiken weitaus komplexer, als es die derzeitige Debatten in
Politik und Öffentlichkeit reflektieren. Deren Konzentration auf den
Bioterrorismus ist zwar nachvollziehbar, läuft aber Gefahr, wichtige
politische Instrumente, die zur Behandlung des größeren Problemkreises
wesentlich sind, völlig aus dem öffentlichen Diskurs auszublenden.
Das erste - und gleichzeitig auch dramatischste - Opfer dieser Schieflage
könnten das Biowaffen-Übereinkommen und dessen Überprüfung auf einer
Konferenz vom 19. November bis 7. Dezember 2001 sein. Nach der
amerikanischen Ablehnung des Zusatzprotokolls im vergangenen Juli steht
die Überprüfungskonferenz vor dem Scherbenhaufen von sechs Jahren
diplomatischer Verhandlungen. Hier einen neuen Konsens unter den
Vertragsstaaten zu stiften, war ohne die Ereignisse des 11. September
bereits eine Herkulesaufgabe. Seitdem sich die wichtigen Akteure auf den
Bioterrorismus konzentrieren und zum Hauptproblem erklären, wird ein
Konsens über das weitere Vorgehen noch schwieriger zu erzielen sein.
Dies ist um so gravierender, als die Überprüfungskonferenzen in der
Vergangenheit immer auch ein wichtiges Instrument waren, die
missbräuchliche Nutzung biotechnologischer Entwicklungen zu ächten und
in den Verbotskatalog des BWÜ aufzunehmen. Die Erneuerung dieser
konsensualen Interpretation wäre in Anbetracht der enormen Fortschritte in
der Biotechnologie mehr als wünschenswert.
* Dr. Alexander Kelle ist Science Fellow am Center for International Security and
Cooperation der Stanford University in Kalifornien, wo er zu
Kontrollmöglichkeiten im Bereich Biologischer Waffen forscht. Zuvor war er
wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und
Konfliktforschung und des Instituts für Vergleichende Politikwissenschaft und
Internationale Beziehungen der Universität Frankfurt/M.
Es handelt sich um die modifizierte Fassung eines Vortrags, den der Autor
Anfang Oktober auf einer interdisziplinären Tagung zum Thema "Genpool,
Menschenpark, Freizeitkörper" anlässlich des "Steirischen Herbstes" in Graz
gehalten hat.
Aus: Freitag, 44, 26. Oktober 2001. Der Beitrag erschien unter dem Titel "Verhängnisvolle Schieflage"
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