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"Selbstverständlich haben die sowjetischen Truppen Deutschland vom Nationalsozialismus befreit" - "Die Erinnerung an den Krieg ist Teil unserer nationalen Identität"

Der russische Präsident Wladimir Putin und der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder in einem gemeinsamen Interview zum 60. Jahrestag der Befreiung

Wenige Tage vor dem 60. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai sprechen Bundeskanzler Gerhard Schröder und der russische Präsident Wladimir Putin im Interview mit der BILD-Zeitung über die historische deutsch-russische Aussöhnung und das Gedenken in beiden Ländern, ihre persönlichen Erinnerungen an die Nachkriegszeit sowie über die gemeinsamen Anstrengungen für den Frieden. Das Interview wurde am 6. und 7. Mai veröffentlicht - wir haben nicht nachgeprüft, ob es in der Druckausgabe der BILD-Zeitung in voller Länge wiedergegeben war. Da die BILD-Zeitung vermutlich nicht zur bevorzugten Lektüre unserer Leser zählt, macht es Sinn, dieses ungewöhnliche Interview hier zu dokumentieren. Die vorliegende Fassung haben wir der Homepage der Bundesregierung entnommen.



BILD: Herr Präsident, Herr Bundeskanzler, vor 60 Jahren ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Auch Ihre Väter haben - der eine für Hitler-Deutschland, der andere in Stalins Armee - mitgekämpft. Ihr Vater, Herr Bundeskanzler, fiel, Ihr Vater, Herr Präsident, wurde schwer verwundet. Was empfinden Sie ganz persönlich, wenn Sie heute als Repräsentanten der einst verfeindeten Nationen an diese dunkle Zeit zurückdenken?

Präsident Putin: Zunächst einmal kann ich Ihre Gleichsetzung von Stalin und Hitler nicht nachvollziehen. Selbstverständlich war Stalin ein Tyrann, viele nennen ihn einen Verbrecher. Aber er war eben kein Nazi! Und es war eben auch nicht so, daß am 22. Juni 1941 die sowjetischen Truppen die deutsche Grenze überschritten hätten, sondern es war genau umgekehrt. Das dürfen wir zunächst einmal nicht vergessen.
Ich persönlich habe die Deutschen nie als feindliche Nation gesehen.
Überhaupt denke ich, daß die Russen meiner Generation, die die Tragödie des Krieges nicht persönlich erleben mußten, eine andere Wahrnehmung im Verhältnis zu Deutschland haben als die Generation unserer Eltern und Großeltern.

Selbstverständlich ist auch meine Generation Teil dieser Vergangenheit. Ich habe das zum Beispiel sehr deutlich gespürt, als ich zum ersten Mal davon hörte, daß der Vater des Bundeskanzlers an der Ostfront gefallen ist. Das hat mich emotional sehr berührt. Da habe ich begriffen, daß diese tragischen Ereignisse nicht so weit entfernt sind. Und deshalb müssen wir alles in unserer Macht Stehende tun, damit so etwas in der Geschichte unserer beiden Völker, in der Geschichte Europas und in der Geschichte der ganzen Welt nie wieder passiert.

Bundeskanzler Schröder: Für mich ist es immer noch wie ein Wunder, daß erbitterte Feinde und Kriegsgegner von einst heute als Freunde und Partner in guter Nachbarschaft leben. Die Generation meiner Eltern und Großeltern hätte sich das kaum vorstellen können.
Ich war gerade ein Jahr alt, als der Krieg zu Ende ging. Ich habe also keine persönlichen Erlebnisse und Eindrücke aus der Kriegszeit. Erst später habe ich in der Schule - durch Erzählungen und durch Bücher - über die Schrecken des Zweiten Weltkriegs, von dem Grauen der Konzentrationslager und von den nationalsozialistischen Verbrechen erfahren.

Einer der schlimmsten Kriege der Menschheitsgeschichte ist von Deutschland begonnen und verursacht worden. Auch wenn unsere Generation keine persönliche Schuld auf sich geladen hat, tragen wir Verantwortung für alle Teile unserer Geschichte. In unserem Bewußtsein ist es unsere Hauptaufgabe, eine friedliche Zukunft für unser Land in einem geeinten Europa zu gestalten. Daran mitarbeiten zu können, empfinde ich als Herausforderung und Verpflichtung zugleich.
Die Erinnerung an Krieg und Nationalsozialismus ist Teil unserer nationalen Identität geworden. Und sie ist eine bleibende moralische Verpflichtung. Wir, die Vertreter eines demokratischen Deutschland, werden daher nicht zulassen, daß Unrecht und Gewalt, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit je wieder eine Chance bekommen.

Herr Präsident, Ihr Bruder ist während der Belagerung Leningrads ums Leben gekommen. Haben Sie die Deutschen dafür gehaßt?

Präsident Putin: Ich weiß, daß meine Eltern darunter sehr gelitten haben und das nie vergessen haben. Aber in unserer Familie gab es, so seltsam das möglicherweise klingen mag, deshalb keinen Haß gegenüber den Deutschen.
Meine Eltern sagten immer, daß nicht die Menschen - die einfachen Soldaten - Schuld trifft, sondern daß sie vom Regime in den Krieg getrieben worden seien.

Meine Mutter hat mir einmal eine Geschichte von meinem Großvater erzählt, der Soldat im Ersten Weltkrieg war. Damals lagen sich die gegnerischen Truppen im Schützengraben auf Sichtweite gegenüber. Im Frontabschnitt meines Großvaters waren auf der anderen Seite österreichische Soldaten in Stellung gegangen. Mein Großvater schoß auf einen Österreicher, verwundete ihn schwer. Der Mann lag in seinem Blut, niemand half ihm. Mein Großvater verließ den Schützengraben, verband den Verwundeten. Bevor er ihn verließ, küßte er ihn.

Herr Bundeskanzler, der Krieg hat Ihnen den Vater geraubt, bevor Sie ihn auch nur ein einziges Mal sehen konnten. Hat dieser Verlust Sie auch politisch geprägt?

Bundeskanzler Schröder: Nein. Vom Schicksal meines Vaters habe ich ja erst durch Zufall und vor wenigen Jahren erfahren. Aber ich kann Ihnen sagen: Es war für mich einer der bewegendsten und ergreifendsten Momente, als ich an seinem Grab in Rumänien stand.
Ehrlich gesagt, meine politische Prägung hatte eher etwas mit den ärmlichen Verhältnissen zu tun, in denen wir aufgewachsen sind. Meine Mutter hatte zunächst mich und meine Geschwister unter schwierigsten Bedingungen in der Nachkriegszeit durchzubringen.

Die Erfahrungen aus dieser Zeit haben mich geprägt und meine politischen Überzeugungen unmittelbar beeinflußt. Für mich haben seitdem Begriffe wie Chancengleichheit und Gerechtigkeit, Teilhabe und Solidarität eine besondere Bedeutung.
Ich finde zum Beispiel, daß jeder junge Mensch die Chance haben muß, eine schulische und berufliche Bildung zu bekommen, die seinen Begabungen und Fähigkeiten entspricht. Entscheidend darf dabei nicht sein, aus welcher sozialen Schicht man kommt, was die Eltern verdienen, sondern allein, was die Fähigkeiten und Begabungen eines jeden und einer jeden einzelnen sind. Dies allein soll über seine und ihre schulischen und beruflichen Perspektiven entscheiden.

Herr Präsident, was haben Ihnen Ihre Eltern an persönlichen Erlebnissen aus dem Zweiten Weltkrieg berichtet? Wie hat Ihre Familie das Kriegsende erlebt?

Präsident Putin: Meine Eltern haben nur sehr ungern über diese Zeit gesprochen. Es fiel ihnen sehr schwer, sich daran erinnern zu müssen. Über den Krieg haben sie meist nur gesprochen, wenn Freunde oder Bekannte zu uns nach Hause kamen. Ich selbst bin erst 1952 geboren.
Meine Eltern haben mir nie erzählt, wie sie das Kriegsende, den 8. und 9. Mai 1945 erlebt haben. Sie hatten damals unendlich schwere Zeiten hinter sich.

Mein Vater war verwundet worden, lag in einem Hospital in Leningrad, als die Stadt noch von den Nazi-Truppen eingekesselt war. Er kam dann nach Hause, um die Mutter zu suchen. Ein sogenanntes Bestattungskommando war gerade dabei, sie zu den Leichen zu legen und zum Friedhof zu bringen. Sie lebte noch, und er mußte sie aus diesem Berg von Leichen rausziehen.
Meine Mutter überlebte nur deshalb, weil er ihr seine Verpflegung gab, die ihm als Verwundeten im Hospital zustand.

Bundeskanzler Schröder: Ich bin im April 1944 geboren und habe deswegen keine eigenen Erinnerungen an das letzte Kriegsjahr. Ich denke, es war bei uns so wie bei ganz vielen anderen Familien, daß in den ersten Jahren nach dem Krieg wenig über die Zeit vor 1945 gesprochen wurde. Bei uns jedenfalls gab es wenig Erlebnisberichte. Mein Vater war ja im Krieg gefallen. Und meine Mutter hatte alle Hände voll zu tun, ihre Kinder satt zu kriegen. Sie arbeitete viel und hart und war damit beschäftigt, die Probleme des Alltags zu lösen. Da blieb keine Zeit für Erzählungen oder Reflektionen. Als ältester Sohn mußte ich schon früh mithelfen, um meine Mutter zu unterstützen.

Herr Bundeskanzler, welches Bild von Rußland hatten Sie als junger Mensch?

Bundeskanzler Schröder: Was ich in der Schule über Rußland gelernt hatte, das war im engeren Sinne sicherlich kein umfassendes Bild von diesem Land, das waren eher einzelne Aspekte. Irgendwie hatte Rußland auch immer etwas Beeindruckendes. Die Größe dieses Riesenreiches, das sich über zwei Kontinente von Europa bis ans Ende Asiens erstreckt, hat mich immer beschäftigt. Die politische Großmacht, die mit klugen Herrschern und Zaren die europäische Geschichte mitbestimmt hat. Später dann ein von der kommunistischen Partei geführtes Land, in dem nach eigener Aussage die Lehren von Marx und Engels in der Praxis erprobt werden sollten. Und sicherlich auch in den 50er Jahren das Feindbild Rußland und der Antikommunismus, die das politische Klima in Deutschland stark beeinflußt haben.

Vieles habe ich seitdem über Rußland gelernt, über seine Geschichte, seine Kultur, seinen Beitrag zur europäischen Kultur, über den Patriotismus der Bevölkerung, über die tiefe Religiosität der Menschen. Was geblieben ist und was sich verfestigt hat, ist das Bild von diesem großen Land mit so vielen verschiedenen Völkern und Sprachen, mit seinen Bodenschätzen und Ressourcen. Und immer wieder stellt sich die Frage: Wie schafft man es, ein solches Riesenreich zusammenzuhalten und zu regieren? Ich beneide niemanden um die gewaltige Aufgabe. Insofern habe ich vor Präsident Putin Respekt.

Sind die Russen als Befreier nach Deutschland gekommen?

Präsident Putin: Selbstverständlich haben die sowjetischen Truppen Deutschland vom Nationalsozialismus befreit. Das ist eine historische Tatsache. Natürlich hat die deutsche Zivilbevölkerung während des Krieges auch gelitten, aber dies war nicht die Schuld der Sowjetunion oder der Roten Armee. Es war nicht die Sowjetunion, die diesen Krieg begonnen hatte.

Und im übrigen haben sich auch unsere westlichen Alliierten damals nicht durch besondere Menschlichkeit hervorgetan. Mir ist es bis heute völlig unbegreiflich, warum Dresden vernichtet werden mußte. Aus Sicht der Kriegsführung bestand damals dafür überhaupt gar keine Notwendigkeit. Nach dem Krieg sind sowohl die sowjetischen Truppen als auch die Truppen der Westalliierten als Besatzungsmächte in Deutschland geblieben. Alle Deutschen wissen, daß die sowjetischen Truppen aus Deutschland lange abgezogen sind ...

Bundeskanzler Schröder: Rußland hat mit den Alliierten der Anti-Hitler-Koalition Deutschland und Europa von der Nazi-Herrschaft befreit. Das russische Volk hat dafür einen enormen Blutzoll entrichten müssen. In keinem Land Europas ruhen so viele gefallene russische Soldaten wie in Deutschland. Zum Gedenken des 8./9. Mai gehört aber auch, daß das Kriegsende für viele Menschen und Deutschland und darüber hinaus nicht nur Befreiung bedeutet: Das Datum steht auch für Vertreibungen, für Flüchtlingselend und für neue Unfreiheit.

Herr Präsident, Herr Bundeskanzler - wie haben es unsere Völker bei all diesem Leid geschafft, den Haß zu überwinden?

Präsident Putin: Sogar während der schwierigsten Phase des Krieges rief die sowjetische Führung das Volk dazu auf, nicht alle Deutschen mit den Nazis gleichzusetzen: "Hitlers kommen und gehen, aber das deutsche Volk bleibt." Und das war keine bloße Propaganda. Es war die Überzeugung der meisten sowjetischen Bürger. Eine solche Sicht der Dinge haben mir auch meine Eltern vermittelt.
Damals wurde das deutsche Volk in vieler Hinsicht zum Opfer der politischen Verantwortungslosigkeit seiner damaligen Spitzenpolitiker. Es wurde durch die nationalsozialistische Ideologie vergiftet und in ein blutiges Gemetzel verwickelt. Auch für Millionen von einfachen Deutschen wurde dieses militärische Abenteuer zur persönlichen Tragödie.

Aber Sie haben recht: Der Haß und die Verbitterung, die infolge des deutschen Überfalls entstanden sind und sich auf den von Deutschen besetzten Gebieten verbreiteten, waren sehr schwer zu überwinden. Es bedurfte erst Zeit und beachtlicher Anstrengungen von Politikern und Millionen Menschen in Deutschland wie auch in unserem Land, damit das Gefühl des gegenseitigen Respekts und Sympathie, das über Jahrhunderte hinweg unsere Völker verband, wieder Fuß fassen konnte.
Und ich habe allen Grund zu behaupten, daß es gerade die Bürger der ehemaligen Sowjetunion waren, denen es gelungen ist, trotz aller schrecklichen Erfahrungen zu vergeben. Es war und bleibt eine Aussöhnung, die aus den Herzen der Menschen kommt. Dabei ist es ihnen wohl bekannt, daß in einigen anderen Staaten viele Bürger nach wie vor nicht soweit sind.

Bundeskanzler Schröder: Am Ende des Zweiten Weltkriegs stand für Deutsche und Russen die Einsicht: nie wieder Krieg, nie wieder Gewalt.
Viele Menschen haben sich nach 1945 unter schwierigen Bedingungen für Versöhnung und Annäherung zwischen Deutschland und Rußland eingesetzt. Willy Brandts Politik der Entspannung und des Ausgleichs mit der damaligen Sowjetunion war von genau diesem Geist der Aussöhnung beseelt. Das hat Vertrauen geschaffen über die Systemgrenzen hinweg.
Die Saat, die Willy Brandt und viele anderen säten, ging auf: An die Stelle der Konfrontation des Kalten Krieges traten immer mehr Zusammenarbeit und Dialog - bis hin zur Wende 1989/90. Dennoch: Angesichts der Schrecken des Kriegs bleibt die deutsch-russische Versöhnung ein politisches Wunder.

Herr Präsident, haben Sie den Deutschen ganz persönlich vergeben?

Präsident Putin: Wie schon gesagt: Für mich persönlich - wie auch für die Mehrheit der Menschen in meinem Alter - klingt diese Frage etwas seltsam und ist nicht dermaßen emotional geladen wie für die ältere Generation. Denn ich habe die Greuel des Krieges nicht am eigenem Leibe erfahren.
Unsere beiden Völker, Deutsche wie Russen, mußten in ihrer Geschichte viel Dramatisches durchmachen. Und ich bin überzeugt, daß wir dadurch weiser geworden sind, wir haben dadurch Menschenleben, Freiheit, gute Beziehungen mit Nachbarn mehr schätzen gelernt. Und die historische Aussöhnung zwischen Russen und Deutschen ist schon eine objektive Gegebenheit.

Was bedeutet Ihnen Stalin?

Präsident Putin: Stalin und seine Epoche sind untrennbarer Teil unserer schwierigen, oft sehr widersprüchlichen Geschichte. Die Geschichte soll man kennen und daraus richtige Lehren ziehen können. Eine davon liegt auf der Hand. Eine Diktatur, Unterdrückung der Freiheit, führt den Staat und die Gesellschaft in die Sackgasse. Unkontrollierte Macht einer Person verführt zu deren Mißbrauch, was dann in Verbrechen ausartet. In den Zeiten von Stalin gab es jede Menge davon - politische Repressionen, Deportationen von ganzen Völkern. Dies verdient eine grundsätzliche Verurteilung.

Wer sind für Sie die Helden des Zweiten Weltkriegs?

Präsident Putin: Für mich sind all diejenigen die wahren Helden des Zweiten Weltkrieges, die gegen das Nazi-Regime kämpften. Das sind die Soldaten der Roten Armee, der Truppen der Anti-Hitler-Koalition. Das sind Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge. Das sind Menschen, die im Hinterland mit vollem Einsatz arbeiteten. Und natürlich auch die Antifaschisten - Deutsche unterschiedlicher politischer Überzeugungen, die gegen die Hitler-Tyrannei gekämpft haben. Sie, die wahren Patrioten Deutschlands, rangen gegen das Hitler-Regime und für die Ehre des deutschen Volkes.

Bundeskanzler Schröder: Ich gebe zu, es fällt mir schwer, angesichts der Millionen Toten, der Zerstörung und Vernichtung, des Elends und des Leids, von Helden des Krieges zu sprechen. Sicherlich gab es viele mutige Soldaten und auch geniale Strategen unter den Offizieren und Befehlshabern. Aber für mich zeichnen nur ganz konkretes Verhalten oder eine klare Haltung jemanden als Helden aus.

Mutig und heldenhaft haben sich die verhalten, die trotz Krieg und nationalsozialistischem Terror Menschlichkeit bewiesen haben; die Juden versteckt, die das Leben anderer gerettet haben, die Zivilcourage in einem unmenschlichen System bewiesen und die Menschenwürde anderer geachtet haben. Nur ein Beispiel: Ich denke da an den Reviervorsteher Krützfeld oder den Pfarrer Poelchau in Berlin.
Der eine war - durch beherzte Anwendung der Vorschriften - in der Pogromnacht 1938 gegen die SS-Horden eingeschritten. Er wurde später zur Rede gestellt, geschehen ist ihm nichts. Der andere hat unter mancherlei Vorwänden etliche Verfolgte vor der Gestapo schützen können. Menschen wie diese beiden haben vielleicht nicht die ganz großen Heldentaten vollbracht, aber sie haben uns gezeigt, daß menschliches Verhalten auch unter den Bedingungen einer Diktatur möglich waren. Diese Helden des Alltags haben meine ganze Bewunderung.

Herr Präsident, nach Ende des Zweiten Weltkrieges haben Sie Deutschland jenseits des "Eisernen Vorhangs" erlebt. Wie sehr hat Sie die Begegnung mit den Deutschen geprägt?

Präsident Putin: Ich hatte immer mit aufrichtigen, anständigen und zuverlässigen Menschen zu tun. Auch wenn sich jemand von denen irrte, so blieb man doch ehrlich dabei.
Politisch gesehen, war es für mich verwunderlich, daß die Gesellschaft, die staatlichen Strukturen quasi auf dem Niveau der 50er-60er Jahre festgefahren zu sein schienen. Sogar mir, der aus der damaligen UdSSR kam, war klar, daß ein solches System nicht lebensfähig war.
Aber dann gab es Momente, die mich persönlich auf der menschlichen, auf der emotionalen Ebene mit Deutschland verbunden haben. Dort kam meine Tochter zur Welt. In allen ihren Dokumenten steht "Dresden" als Geburtsort.

War die Teilung Deutschlands die gerechte Strafe für das Entfesseln des Zweiten Weltkriegs?

Präsident Putin: Die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen ist in erster Linie das Ergebnis dessen militärischer Niederlage. Damals war die Anti-Hitler-Koalition bestrebt, das Land möglichst schnell von der Bürde des Nationalsozialismus zu befreien, friedliches Leben wiederherzustellen, demokratische Regierungen wählen zu lassen.
Und ich möchte daran erinnern, daß die politische Führung der UdSSR bei allen Alliierten-Konferenzen, auch in Jalta und Potsdam, sich konsequent für die Wahrung der Integrität und Einheit Deutschlands einsetzte.

Einige unsere Verbündeten haben allerdings leider eine gegenteilige Position vertreten.
Die nachfolgende Teilung Deutschlands in zwei Staaten geschah dann bereits auf der Wasserscheide der Konfrontation von militärisch-politischen und ideologischen Interessen, als der Kalte Krieg seinen Höhenpunkt erreichte. Sicherlich war es für das deutsche Volk eine große Tragödie. Aber man kann es nicht als Strafe für das Entfesseln des Zweiten Weltkriegs bezeichnen.
Es ist daher kennzeichnend, daß nach dem Ende der Konfrontation zwischen den Supermächten USA und UdSSR rasch Voraussetzungen für eine friedliche Wiedervereinigung Deutschlands entstanden und in die Tat umgesetzt wurden. Die positive Rolle, die unser Land dabei gespielt hat, ist wohl bekannt.

Bundeskanzler Schröder: Die Teilung Deutschlands im Kalten Krieg war letztlich die Folge der verbrecherischen Politik Hitlers; der Ausdruck "gerechte Strafe" ist in diesem Zusammenhang fehl am Platz.

Sie beide pflegen ein enges, ja sogar freundschaftliches Verhältnis. Spielen in Ihren persönlichen Gesprächen die traumatischen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs noch eine Rolle?

Präsident Putin: Natürlich. Denn es geht um die größte Tragödie nicht nur des 20. Jahrhunderts, sondern der gesamten Weltgeschichte, in deren Mittelpunkt unsere beiden Völker standen. Und es ist geradezu unsere Pflicht, die Lehren jenes Krieges in Erinnerung zu behalten.
Sie haben zu Recht bemerkt, daß zwischen mir und Gerhard Schröder ein wahrhaft freundschaftliches Verhältnis entstanden ist. Ich glaube, es ist ebenfalls durchaus bekannt, daß wir in vielen Fragen gleicher Meinung sind. So betrachten wir es als unsere gemeinsame Aufgabe, die negative Altlasten der Vergangenheit in den russisch-deutschen Beziehungen zu beseitigen, und die Wunden, die der Krieg hinterlassen hat, zu heilen.

Wir sind uns einig, daß die Lehren aus den damaligen Ereignissen auch die internationale Gemeinschaft bei der Bekämpfung der globalen Gefahren des 21. Jahrhunderts einigen und der Festigung der Stabilität und der Sicherheit in Europa und in der ganzen Welt dienen sollen. Wir verstehen auch sehr wohl, wie wichtig es ist, gemeinsam den extremistischen Organisationen Abfuhr zu erteilen, die die Ideologie der nationalistischen und rassistischen Intoleranz zu eigen machen und die Verbrechen der Nazis und deren Kollaborateure rechtfertigen.
Das Gedankengut solcher Organisationen deckt sich in vieler Hinsicht mit der menschenverachtenden Ideologie der Terroristen, die die Werte der Demokratie, das Menschenleben an sich, Rechte und Freiheiten der Bürger mit den Füßen treten und in ihrer Propaganda auf Steinzeit-Nationalismus und Fremdenhaß setzen.

Daher halten wir auch den Ausbau des internationalen humanitären Zusammenwirkens für eines der wichtigsten Gebiete unserer Arbeit. Das Kennenlernen des kulturellen und humanen Erbes von Ländern und Völkern, gemeinsame Vorhaben im Bereich Bildung und Wissenschaft, der Jugendaustausch - all das bringt die Menschen einander näher, hilft, einander besser zu verstehen, und führt zur geistigen Bereicherung.
Im großen und ganzen ist die russisch-deutsche Agenda zweifelsohne auf die Zukunft gerichtet und ist nicht nur pragmatischer, sondern auch kreativer, schöpferischer Natur.

Bundeskanzler Schröder: Wir sprechen natürlich über alle Aspekte der deutsch-russischen Beziehungen, auch über die dunklen Kapitel. Denn nur wer sich der Geschichte bewußt ist, kann die Fehler von damals vermeiden. Das, was Millionen Menschen unermeßliches Leid bereitete, darf sich nie mehr wiederholen: totalitäre Ideologie, Nationalismus und Streben nach Vorherrschaft und Macht eines Volkes über seine Nachbarn. Die Europäische Union ist eine Antwort auf die Irrwege der Geschichte; die strategische Partnerschaft mit Rußland die andere. Dazu gibt es keine Alternative.

Herr Präsident, am Wochenende ist der Bundeskanzler Ihr Gast bei den Gedenkfeierlichkeiten in Moskau zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Es ist bekannt, daß Sie beide ein freundschaftliches Verhältnis pflegen. Worauf gründet sich ihre politische Verbundenheit zu Gerhard Schröder?

Präsident Wladimir Putin: Ich weiß persönliche und politische Eigenschaften des deutschen Bundeskanzlers sehr zu schätzen. Es sind seine Offenheit, seine Fähigkeit, der Argumentation des anderen zuzuhören, Kritik auszuhalten, seine pragmatische Haltung und daß er zu seinem Wort steht. Sehr wichtig ist auch, daß Gerhard Schröder stets ein konkretes Resultat anstrebt.
Als Politiker besitzt er die Fähigkeit, konsequent und wirksam die nationalen Interessen Deutschlands zu vertreten, die fälligen Reformen im eigenen Land durchzusetzen und das Ansehen und den Einfluß Deutschlands auf der Weltbühne zu stärken.
Sein politischer Mut besteht darin, die Interessen der Allgemeinheit über seine eigenen zu stellen. Er ist ein prinzipienfester und konsequenter Mensch.

Bundeskanzler Gerhard Schröder: Sie beruht auf gemeinsamen Zielen und Überzeugungen. Wir wollen eine dauerhafte Friedensordnung für ganze Europa, in der möglichst viele Menschen Teilnahme am Wohlstand haben. Die strategische Partnerschaft bietet uns die Chance, unsere Zukunft in einem friedlichen Europa zu gestalten, auf der Grundlage gemeinsamer Interessen und Werte. Sie wird auch helfen, gemeinsame Antworten auf die Chancen und Gefahren der Globalisierung zu finden. Deshalb haben wir beschlossen, den deutsch-russischen Jugendaustausch bis 2007 zu verdoppeln. In Hannover haben wir vor kurzem eine strategische Partnerschaft in Bildung, Forschung und Innovation vereinbart. All das wird unsere Gesellschaften noch enger miteinander verbinden.

Herr Bundeskanzler, was für ein Mann ist der russische Präsident?

Bundeskanzler Schröder: Er ist offen. Er ist verläßlich. Und auch wenn wir unterschiedliche Interessen als Repräsentanten unserer Länder zu vertreten haben, bin ich ihm freundschaftlich verbunden.

Herr Präsident, wie wichtig ist Ihre private Freundschaft für die Partnerschaft zwischen Rußland und Deutschland?

Präsident Putin: Ich bin überzeugt, daß unsere guten und vertraulichen Beziehungen in vieler Hinsicht die russisch-deutsche strategische Partnerschaft fördern. Eine Partnerschaft, welcher gleichberechtigte Kooperation, gegenseitige Achtung der Interessen des Partners, aufrichtige Sympathie unserer Völker füreinander zugrunde liegen.
In der großen Weltpolitik, wenn man Verhandlungen und Konsultationen führt, ist es sehr wichtig, den Partner zu kennen, ihm zu vertrauen und ihn sozusagen ohne weiteres zu verstehen. Genau solche Beziehungen verbinden uns mit dem Bundeskanzler, und wir beide legen sehr viel Wert darauf.

Bundeskanzler Schröder: Wir vertreten zuallererst die Interessen unserer Länder; das entspricht auch unserem Wählerauftrag. Daß wir miteinander befreundet sind, tut dem keinen Abbruch. Im Gegenteil: Das Vertrauen, das zwischen uns besteht, erleichtert die Zusammenarbeit bei der Lösung mancher Fragen, die sonst schwieriger zu lösen wären.

Was wissen Sie noch von Ihrem ersten Deutschlandbesuch, Herr Präsident?

Präsident Putin: Deutschland ist eines der Zentren der europäischen Zivilisation mit einem reichen historischen und kulturellen Erbe. Ich habe Deutschland für mich zweimal entdeckt. Zuerst, wie bereits gesagt, als ich 1985-1990 in der DDR gearbeitet habe. Da hatte ich ein Bild von Deutschland. Zum zweiten Mal entdeckte ich das Land, als ich in Sankt Petersburg als stellvertretender Bürgermeister und Vorsitzender des Außenwirtschaftsausschusses tätig war. Da habe ich die Kultur, die Geschichte, die Politik Deutschlands und auch die Deutschen viel besser kennengelernt.

Herr Präsident, was haben Sie empfunden, als die Russen 1994 Deutschland verließen?

Präsident Putin: Ich verstand, daß ein ganzes Zeitalter zu Ende ging, das Zeitalter der Konfrontation in Europa. Viele Fragen zum Abzug unserer Soldaten und deren weiterer Unterbringung in Rußland hätten ja durchdachter und konstruktiver gelöst werden können. Zugleich bin ich aber stolz darauf, daß gerade unser Land, die Wahl unseres Volkes in vielem die Voraussetzungen für das Ende des Kalten Krieges und für die Vernichtung der Berliner Mauer geschaffen hat.

Und der Logik der heutigen russischen Politik folgend, bin ich der Ansicht, daß, nachdem Deutschland aus den Greueln des Zweiten Weltkrieges richtige Schlußfolgerungen gezogen hat, nachdem es Buße getan und Mechanismen geschaffen hat, die eine Wiederholung der Tragödien der Vergangenheit verhindern, darf man nicht die heutige und die kommenden Generationen der Deutschen zwingen, das Haupt stets mit Asche zu bestreuen und sich dauernd zu geißeln. Und das Land selbst darf sich nicht auf der Weltbühne in seinen Rechten beeinträchtigt fühlen.
Daher wird die Russische Föderation sich für die Stärkung der Rolle der Bundesrepublik in der UNO, auch als eines ständigen Mitglieds des VN-Sicherheitsrates, einsetzen.

War das Verhältnis Rußland-Deutschland in der Geschichte jemals so eng wie heute?

Präsident Putin: In den Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten gab es nicht wenige Epochen einer engsten und fruchtbaren Zusammenarbeit. Es reicht allein, sich zum Beispiel an die Geschichte des 19. Jahrhunderts zu erinnern, als wir direkt militärisch verbündet waren. Man könnte sich auch der früheren Zeiten entsinnen, als die gebürtige Deutsche Katharina die Große russische Kaiserin war. Und sie war eine der effizientesten und stärksten unter den Herrscherinnen und Herrschern Rußlands.

Zugleich teile ich die Meinung von Gerhard Schröder, der bereits mehrmals gesagt hat, daß Rußland und Deutschland heute einander wie nie zuvor nahestehen. Das wichtigste ist dabei, daß unsere Länder nicht mehr durch ideologische Barrieren und politische Gegensätze getrennt sind. Wir sind Partner in den wichtigsten Fragen der Weltpolitik, arbeiten sehr eng im Rahmen europäischer und internationaler Organisationen zusammen.

Die russisch-deutsche Partnerschaft ist in der Tat ein sehr positiver und sehr bedeutender Faktor des europäischen und internationalen Geschehens. Dabei bin ich überzeugt, daß gerade Rußland und Deutschland bei der europäischen Einigung, bei der Erfüllung der vier gemeinsamen Räume Rußland-EU mit konkretem Inhalt die entscheidende Rolle zu spielen haben.

Zugleich gibt es vieles, was erst noch getan werden muß. In zahlreichen Bereichen wird das Potential der Zusammenarbeit bei weitem nicht vollkommen ausgeschöpft. Das betrifft insbesondere unternehmerische und humanitäre Aktivitäten. Bei Direktinvestitionen in die russische Wirtschaft belegt die Bundesrepublik lediglich Platz 4. Dies entspricht weder den deutschen Kapazitäten noch unseren Erfordernissen.
Genauso wenig können wir uns mit der Schieflage in der Struktur des gegenseitigen Warenverkehrs zufriedengeben, denn bisher geht es hier vorwiegend um den Tausch der russischen Rohstoffe gegen Fertigprodukte aus Deutschland.
Beachtliche Reserven stecken auch im Bereich der humanitären Zusammenarbeit, des Ausbaus von direkten Kontakten zwischen den Instituten der Zivilgesellschaft, des wissenschaftlichen, kulturellen, Bildungs- und Jugendaustausches.

Bundeskanzler Schröder: So eng wie heute waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland jedoch noch nie - politisch, wirtschaftlich und kulturell. Allein im vergangenen Jahr ist der deutsch-russische Handel um 18 % gewachsen. Wladimir Putin hat recht, wenn er sagt, daß wir unsere Möglichkeiten noch bei weitem nicht ausgeschöpft haben. Rußland ist unser wichtigster Energiepartner - aber wir brauchen noch mehr Zusammenarbeit jenseits von Öl und Gas. Der russische Markt bietet unseren Unternehmen enorme Chancen - für Handel und für Investitionen, etwa im Bereich Hochtechnologie. Auch im Bereich der Kultur waren unsere Beziehungen noch nie so dicht. Die deutsch-russischen Kulturjahre 2003/2004 waren in beiden Ländern ein Riesenerfolg. Daran können und werden wir anknüpfen.

Auch der Dialog zwischen den Zivilgesellschaften macht gute Fortschritte. Präsident Putin und ich haben dazu vor einigen Jahren den "Petersburger Dialog" angeregt, ein Forum, auf dem Deutsche und Russen über Fragen diskutieren, die unsere Gesellschaften gleichermaßen betreffen. Die beiden Vorsitzenden, Peter Boenisch und Michail Gorbatschow, leisten hier vorzügliche Arbeit.

Herr Präsident, wie denken die Russen heute über Deutschland?

Präsident Putin: Vor allem möchte ich sagen, daß unsere Bürger einen großen Respekt gegenüber Deutschland empfinden. Es ist für sie ein erfolgreiches Land, das politisch und wirtschaftlich an Bedeutung gewinnt, eine der Lokomotiven der europäischen Einigung. Sie sehen es als ein Land, das fest entschlossen ist, gleichberechtigte Beziehungen mit Rußland aufzubauen.

Herr Bundeskanzler, wie schätzen Sie das Rußlandbild der Deutschen ein?

Bundeskanzler Schröder: Die meisten Deutschen hegen sehr freundschaftliche Gefühle für Rußland und das russische Volk. Die Zeiten des Kalten Krieges sind endgültig überwunden. Heute setzt sich immer mehr ein realistisches Rußlandbild durch. Es ist geprägt von der großen Kultur und Geschichte Rußlands, von seinen enormen wirtschaftlichen Möglichkeiten. Viele Deutsche bewundern die Entschlossenheit der Menschen in Rußland, ihr Schicksal selbst in ihre Hände zu nehmen. Daß sich Rußland als ein Land fast ohne eigene demokratische Tradition aus eigenem Entschluß auf den Weg der Demokratie begeben hat, kann uns nur Respekt abnötigen.

Was verbindet die Russen und die Deutschen - und was trennt sie?

Präsident Putin: Es gibt vieles, was uns verbindet. Das sind die gemeinsame Geschichte, die Zugehörigkeit zur Kultur und zu den Traditionen Europas, geographische Nähe, gemeinsame Ziele auf der Weltbühne und daß unsere Volkswirtschaften einander gegenseitig ergänzen. Zu den Aufgaben, die wir gemeinsam zu bewältigen haben, gehören die Bekämpfung des Terrorismus, der organisierten Kriminalität, des illegalen Drogenhandels, der Armut und Krankheiten.

Und letzten Endes sind wir alle auch Europäer. Russen und Deutsche wollen in einem einheitlichen und demokratischen Europa leben, das für umfassenden Dialog und Zusammenarbeit offen ist. Der Sinn unserer gemeinsamen Bemühungen sowohl in den Beziehungen zu Deutschland als auch zwischen Rußland und der EU besteht darin, daß das gegenseitige Streben der Bürger unserer Länder nach Kooperation, nach direkten Kontakten unter möglichst komfortablen Bedingungen realisiert werden könnte.
Sicherlich bestehen noch manche Stereotypen, Komplexe, die mit Vergangenheit zu tun haben. Aber ich bin mir sicher, das Leben wird das alles schon richten. Und wir Politiker müssen alles daran setzen, damit die Hürden sowohl in den Beziehungen zwischen unseren Ländern als auch in den Seelen der Menschen wegfallen.

Bundeskanzler Schröder: 60 Jahre nach Kriegsende, 15 Jahre nach der Wende von 1989 sollte eigentlich nichts mehr Deutsche und Russen voneinander trennen. Sicher gibt es historische und kulturelle Unterschiede, es gibt immer noch Klischees und Vorurteile. Man sollte das nicht überbewerten. Viel wichtiger ist, daß Deutsche und Russen ihre Zukunft als Europäer und Freunde gemeinsam gestalten wollen.

Herr Bundeskanzler, ergibt sich aus dem hohen Blutzoll, den Rußland im Zweiten Weltkrieg bezahlen mußte, eine besondere Verpflichtung für uns Deutsche?

Bundeskanzler Schröder: Kein anderes Volk hat so unter dem verbrecherischen Krieg Nazi-Deutschlands zu leiden gehabt wie das russische. Über 20 Millionen Russen verloren im Zweiten Weltkrieg ihr Leben. Das dürfen gerade wir Deutschen nie vergessen. Deshalb tragen wir Deutschen besondere Verantwortung, wenn es darum geht, Rußland bei seiner Modernisierung zur Seite zu stehen und es an europäische und demokratische Institutionen heranzuführen.

Herr Bundeskanzler, müssen wir den Russen für den 8. Mai 1945 dankbar sein?

Bundeskanzler Schröder: Der 8./9. Mai bedeuteten für ganz Europa die Befreiung von der Nazi-Barbarei. Ohne die Opferbereitschaft des russischen Volkes wäre der Zweite Weltkrieg ganz anders verlaufen - und nicht nur für Deutschland. Am 60. Jahrestag des Kriegsendes haben wir allen Anlaß, all derer zu gedenken, die im Kampf und im Widerstand gegen den Nationalsozialismus ihr Leben ließen - in Rußland, aber auch in vielen anderen Ländern. Auch sie sind Väter und Mütter eines neuen, friedlichen Europas, das wir heute bauen.

Herr Präsident, was bedeutet der 8. Mai für die Russen?

Präsident Putin: Nach Moskauer Zeit wurde die Kapitulation um 1 Uhr nachts am 9. Mai unterzeichnet. Dieses Datum wird in Rußland als "Tag des Sieges" gefeiert. Es ist für uns ein Fest der nationalen Einheit und des nationalen Stolzes. Es ist aber auch ein Tag der Trauer um die Gefallenen. Generationen lösen einander ab, Jahre vergehen, doch dieser Tag bleibt für jeden Russen heilig. Und wie kann es anders sein in einem Land, das fast 30 Millionen Menschenleben, ein Drittel seines Gemeinguts verloren und den gewichtigsten Beitrag zum Sieg über den Hitler-Faschismus geleistet hat?

Wie wichtig ist die deutsch-russische Freundschaft für den Frieden?

Präsident Putin: Die Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland - und das ist die wichtigste Lehre der Geschichte - sind für die Situation in Europa von zentraler Bedeutung. Gerade deren Niveau und Inhalt haben in der Vergangenheit das "Wohlbefinden" des Kontinents bestimmt. Freundschaft und konstruktive Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern war ein Gewinn für alle Völker Europas. Und umgekehrt, Rivalität und Konfrontation haben unsere Länder nur noch geschwächt und Europäer in Feindschaft und zerstörerische Kriege gestürzt.

Des Friedens und der allgemeinen Prosperität wegen müssen Rußland und Deutschland eng zusammenarbeiten. Und da im Zeitalter der Globalisierung die regionale Stabilität von der internationalen Sicherheit im allgemeinen nicht zu trennen ist, wird auch die Rolle Rußlands und Deutschlands als einflußreicher Mächte mit einem breiten Kreis von gemeinsamen und spezifischen Interessen immer mehr gefragt.

Bundeskanzler Schröder: Gemeinsam können wir viel für Frieden und Stabilität tun: die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen verhindern, den Kampf gegen internationalen Terrorismus und organisierte Kriminalität führen, die Klimapolitik voranbringen, den Nahen und Mittleren Osten stabilisieren und nicht zuletzt die Vereinten Nationen stärken. In all diesen Fragen gibt es große Übereinstimmung, mehr noch: Wir sind füreinander strategische Partner.

Herr Präsident, Herr Bundeskanzler was ist für Sie - 60 Jahre nach dem Ende des furchtbaren Zweiten Weltkriegs - die gegenwärtig größte Bedrohung des Friedens?

Präsident Putin: Ich bin sicher, da wird meine Antwort sich wohl kaum von der Reaktion des Bundeskanzlers unterscheiden, daß heute die größte Gefahr für Frieden und Sicherheit vom internationalen Terrorismus, von gewaltbereitem Separatismus, Nationalismus und religiösem Extremismus ausgeht. Eine ernstzunehmende Bedrohung sind ebenfalls eventuelle Proliferationsrisiken, grenzüberschreitende Kriminalität, illegaler Drogenhandel, Armut, ungleiche "Arbeitsteilung" zwischen unterschiedlichen Regionen der Welt, die ganze Kontinente zur Rückständigkeit verdammt. Diese Herausforderungen kann die internationale Gemeinschaft nur gemeinsam meistern.

Bundeskanzler Schröder: Einen großen europäischen Krieg haben wir 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr zu fürchten. Um so bedrängender sind die Gefahren, die sich aus dem internationalen Terrorismus und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, aber auch aus wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit, Armut und religiösem Fanatismus ergeben. Das sind die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, denen wir uns gemeinsam mit unseren Partnern stellen müssen.

Herr Präsident, Herr Bundeskanzler, verstehen Sie, wenn sich andere befreundete Nationen wegen des engen deutsch-russischen Verhältnisses zurückgesetzt fühlen oder sogar sorgen?

Präsident Putin: Wir bauen unsere Zusammenarbeit nicht zu Lasten Dritter aus. Und es entspricht nicht unseren Prinzipien, unsere Partner in die erst-, zweit-, und drittrangigen aufzuteilen. Mehr noch: Je effizienter und inhaltsreicher die Partnerschaft zwischen Rußland und Deutschland - besonders im Wirtschaftsbereich - sein wird, desto günstiger wird das allgemeine Klima, desto intensiver der wirtschaftliche und kulturelle Austausch in Europa.
In dieser Hinsicht kann ein breitgefächerter Dialog zwischen Rußland und Deutschland als eine Art treibende Kraft der Integrationstendenzen in Europa betrachtet werden. Da erscheint mir die Initiative, eine vielseitige Zusammenarbeit zwischen der EU und den Integrationsgemeinschaften im GUS-Raum zu etablieren, überaus interessant.

Bundeskanzler Schröder: Die deutsch-russische Freundschaft sollte für niemanden Grund zur Sorge sein. Sie ist gegen niemanden gerichtet. Deutschland ist heute - wie seine mitteleuropäischen Nachbarn - fest in die EU und das transatlantische Verhältnis eingebunden. Deshalb sind auch Deutschland und Polen, Deutschland und die baltischen Staaten so eng verbunden wie nie zuvor. Darin liegt der entscheidende Unterschied zu früheren Abschnitten der europäischen Geschichte. Eine deutsch-russische Einigung zu Lasten Dritter kann es heute nicht mehr geben. Das wissen auch unsere Partner und Freunde in Europa.

Herr Bundeskanzler, Sie haben an den Feierlichkeiten zum Jahrestag der Normandie-Invasion teilgenommen, jetzt werden sie die Gedenkfeierlichkeiten in Moskau besuchen. Beides ist nicht unumstritten. Welches Signal wollen Sie damit setzen?

Bundeskanzler Schröder: Die Einladung Präsident Putins zu den Feierlichkeiten sehe ich als große Ehre und Vertrauensbeweis für das deutsche Volk - ähnlich wie die Teilnahme an den Feierlichkeiten zum Jahrestag der Normandie-Invasion oder zum 60. Jahrestag des Warschauer Aufstandes im vergangenen Jahr. Meine Teilnahme soll zeigen, daß wir eine neue Qualität der deutsch-russischen Aussöhnung erreicht haben. Wir dürfen das von Deutschen verursachte Leid nicht vergessen. Aus dieser Erinnerung müssen wir dafür sorgen, daß so etwas nie wieder geschieht. Ich will, daß Deutsche und Russen in Freundschaft zueinander finden, damit das Elend des letzten Weltkriegs nie wiederkehrt. Das betrachte ich als historische Aufgabe.

Herr Bundeskanzler, ist unser Land heute vor Fehlern, die damals zur Nazi-Diktatur und in die Katastrophe führten, wirklich sicher?

Bundeskanzler Schröder: Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen der Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland sind völlig verschieden. Gott sei Dank haben wir im vereinten Deutschland nicht mit den Belastungen zu kämpfen, die schließlich die Nazis an die Macht gebracht haben - wie mangelnde Verankerung der Demokratie im Volk, Parteienzersplitterung, wirtschaftliche Dauerkrise mit Massenelend oder Auswirkungen des Ersten Weltkrieges. Deutschland ist heute eine gefestigte, eine soziale und wehrhafte Demokratie, fest integriert in EU und NATO. Das ist der entscheidende Unterschied zu Weimar.

Es gibt einige Jüngere, die von der Geschichte wenig wissen wollen und dumpf die alten Parolen grölen. Was sagen Sie denen, Herr Bundeskanzler?

Bundeskanzler Schröder: Die Jahre 1933-1945 markieren den Tiefpunkt der deutschen Geschichte. Wir müssen alles tun, damit sich dieser schreckliche Irrweg nie mehr wiederholt.

Was können Deutsche und Russen tun, damit es nie wieder Krieg auf der Erde gibt?

Präsident Putin: Bilateral die Zusammenarbeit in allen Bereichen intensivieren, den Dialog von Zivilgesellschaften, den Jugendaustausch fördern, sich an die Grundsätze der Aussöhnung und der Bewahrung der historischen Wahrheit halten.
International wird der Beitrag unserer beiden Länder zum Aufbau der gesamteuropäischen Architektur, welcher die neue Qualität der Beziehungen zwischen Rußland einerseits und der EU und der NATO andererseits zugrunde liegt, besonders gefragt.

Bundeskanzler Schröder: Wir müssen mit aller Kraft die wirklichen Ursachen von Krieg und Instabilität bekämpfen. Das wird nur gemeinsam mit unseren Freunden und Partnern gelingen - im Rahmen von EU, NATO, den G-8 und den Vereinten Nationen.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs hat auch Schriftsteller und Filmschaffende inspiriert. Welches Buch und welcher Film über den Zweiten Weltkrieg hat Sie am meisten bewegt?

Präsident Putin: Es gibt viele Filme, Bücher, Gedichte und Lieder über den Krieg. Ich möchte hier die Namen von solchen russischen Schriftstellern wie Boris Wassiljew, Konstantin Simonow, Wiktor Rosow erwähnen und Filme wie "Der Flug der Kraniche", "Ballade über einen Soldaten". In diesen Streifen gibt es keine großdimensionierte Schlachtszenen, keine ausufernde Gewalt und kein Blut im Überfluß. Die erzählen eher über den Charakter unseres Volkes, die zeigen die tragische Wahrheit dieses Krieges - und wie er menschliche Schicksale verunstaltet.

Bundeskanzler Schröder: Ich weiß nicht, ob man sagen kann, daß der Zweite Weltkrieg Schriftsteller und Filmschaffende inspiriert hat. Nach dieser Katastrophe auf unserem Kontinent, nach dem völligen politischen und moralischen Zusammenbruch in Deutschland war es doch klar, daß Schriftsteller und Filmschaffende, aber auch Maler und Theaterleute diese schrecklichen Erfahrungen in künstlerischer Form aufarbeiten und verarbeiten mußten. Alle großen deutschen Autoren wie Grass, Böll oder Lenz haben sich mit der Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges beschäftigt. Besonders beeindruckt hat mich "Draußen vor der Tür" von Wolfgang Borchert. Ein eindrucksvolles und ergreifendes Werk über die Einsamkeit und Verlorenheit des heimkehrenden Soldaten nach Krieg und Gefangenschaft, über seine Ängste, seine psychischen und seelischen Schäden, sein Gefühl des Fremdseins in der früheren Heimat. Und von den vielen Filmen sind mir "Die Mörder sind unter uns" und natürlich "Die Brücke" von Bernhard Wicki besonders in Erinnerung.

Herr Präsident, was ist ihr größter Wunsch für die Zukunft des deutsch-russischen Verhältnisses?

Präsident Putin: Ich wünsche, daß es sich erfolgreich weiterentwickelt, und zwar in allen Bereichen. Daß es durch Einbeziehung von immer neuen Organisationen, Unternehmen, Bürgerinitiativen bereichert wird. Meinerseits kann ich nur sagen, daß wir mit Gerhard Schröder bereit sind, für dieses edle Ziel alles in unserer Macht Stehende zu tun.

Und Ihrer, Herr Bundeskanzler?

Bundeskanzler Schröder: 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Zeit reif für eine wirklich strategische Partnerschaft mit Rußland. Nur so werden wir das große Ziel einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung erreichen, die den Menschen in ganz Europa Sicherheit, Stabilität und Wohlstand bringt. Wladimir Putin und ich wollen dazu weiter nach Kräften beitragen.

Herr Präsident, Herr Bundeskanzler, vielen Dank für das Gespräch!

Quelle: Homepage der Bundesregierung: www.bundesregierung.de



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