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Der deutsch-polnische Grenzvertrag von 1990 ist ein Gewaltverzichtsvertrag, kein Grenzanerkennungsvertrag / The German Parliament should "unconditionally and in a legally binding form" recognise the border between Germany and Poland

Es geht nicht um Spitzfindigkeiten, sondern um Rechtspositionen. Ein Appell der Deutsch-polnischen Gesellschaft zum Tag der Befreiung / An Appeal of the German Polish Society of Germany

Mit dem Warschauer Vertrag von 1970, spätestens aber mit dem deutsch-polnischen Grenzvertrag von 1990 schien revanchistischen deutschen Gebietsansprüchen auf Teile Polens ein endgültiger völkerrechtlicher Riegel vorgeschoben worden zu sein. Prof. Dr. Christoph Koch, Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, sieht das anders. Für ihn steht eine endgültige Regelung noch aus. Daher hat seine Gesellschaft zum 8. Mai 2005 einen Appell an den Bundestag gerichtet, endlich alle rechtlichen Vorbehalte endgültig zu beseitigen.
Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview, das "german-foreign-policy" mit Koch geführt hat, sowie einen Beitrag zum selben Thema in englischer Sprache.



Interview mit Christoph Koch

11.04.2005, KÖLN

Über die polnische Westgrenze sprach german-foreign-policy.com mit Prof. Dr. Christoph Koch. Koch ist Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, die vor wenigen Tagen einen Appell an den Deutschen Bundestag veröffentlicht hat.

german-foreign-policy.com: Herr Professor Koch, die "Deutsch-Polnische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland" richtet zum 8. Mai 2005 einen Appell an den Deutschen Bundestag. Worum geht es?

Prof. Christoph Koch: Es geht darum, dass die Bundesrepublik endlich die polnische Westgrenze anerkennen soll. Das wird Sie ein wenig verwundern, da jedermann denkt, die Grenze sei im Jahr 1990 anerkannt worden. Tatsächlich ist dies nicht der Fall.

german-foreign-policy.com: Sondern?

Koch: Der deutsch-polnische Grenzvertrag von 1990 hat den gleichen Charakter wie der Warschauer Vertrag von 1970. Beide sind Gewaltverzichtsverträge, nicht Grenzanerkennungsverträge. Das ist in der Bundestagsdebatte über den Warschauer Vertrag von 1970 von den Vertretern der FDP klipp und klargestellt worden, vom damaligen Außenminister und vom FDP-Fraktionsvorsitzenden, und später auch vom eigentlichen Mentor dieses Vertrages, von Egon Bahr. Wenn Sie in den Wortlaut des deutsch-polnischen Grenzvertrags von 1990 hineinsehen, dann erkennen Sie schon in Artikel 1, dass es sich nicht um einen Grenzanerkennungsvertrag handelt, sondern um einen Vertrag zur Bestätigung der Grenze, die zwischen der neuen Bundesrepublik und Polen verläuft. Das heißt, der Vertrag bestätigt die faktische Existenz der Grenze...

german-foreign-policy.com: ... die sich ja auch schlecht leugnen lässt...

Koch: ... allerdings, das kann jeder Spaziergänger überprüfen. Wenn Sie den Vertragstext weiterlesen, dann finden Sie in Artikel 2 - das ist der Kern des Vertrages -, dass diese Grenze jetzt und künftig unverletzlich ist. "Unverletzlich" ist ein völkerrechtlicher Terminus, der signalisiert: Hier handelt es sich um einen Gewaltverzichtsvertrag. In einem Grenzanerkennungsvertrag müsste das Wort "unantastbar" stehen. "Unantastbarkeit" ist der Terminus für die Anerkennung, "Unverletzlichkeit" ist der Terminus nur für den Gewaltverzicht.

german-foreign-policy.com: Im 2+4-Vertrag steht aber, die Grenzen des vereinten Deutschland sollten "endgültigen Charakter" haben...

Koch: Der 2+4-Vertrag heißt in Wirklichkeit, und das ist wichtig, "Vertrag über die abschließende Regelung mit Bezug auf Deutschland". Er enthält tatsächlich die Forderung an das vereinte Deutschland, eine abschließende Regelung mit Polen zu treffen. Das heißt, dass die Grenzfrage und die Frage der Gebietsforderungen und der sonstigen Rechtsansprüche zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen abschließend zu regeln sind - in dem Sinne, dass das Territorium des vereinten Deutschland das Territorium der Bundesrepublik und der DDR und nichts weiter ist. Diesen Forderungen hat sich die Bundesrepublik entzogen.

german-foreign-policy.com: Wie das?

Koch: Dazu muss man etwas wissen, was früher als Selbstverständnis der Bundesrepublik jedermann lauthals angedient wurde, heute der Öffentlichkeit aber vorenthalten wird. Die Bundesrepublik betrachtet sich als Nachfolger des Deutschen Reiches von 1871. Nach Auffassung der Bundesrepublik hat dieses Deutsche Reich den 8. Mai 1945 überlebt. Wie es das getan haben soll, darüber gibt es eine ganze Bibliothek von juristischen Ausführungen. Mit dem angeblich überdauert habenden Deutschen Reich gibt sich die Bundesrepublik in staatlicher Hinsicht als identisch aus, in territorialer und personeller Hinsicht allerdings nur als teilidentisch, weil ja Teile des Territoriums und der Personen, die zum Deutschen Reich gehörten, außerhalb des Territoriums der Bundesrepublik angesiedelt sind. Aus der aktuellen Handlungsunfähigkeit des "Reiches" aber wird gefolgert, dass es allen Organen der Bundesrepublik verboten ist, irgendeine Handlung vorzunehmen, die dem angeblich fortbestehenden Deutschen Reich vorgreift, falls dasselbe denn eines Tages seine Handlungsfähigkeit wieder erlangen sollte. Das ist der Revisionsvorbehalt, der über allen außenpolitischen Handlungen der Bundesrepublik liegt. Er ist vom Bundesverfassungsgericht in verschiedenen Urteilen festgezurrt worden, das wichtigste von ihnen ist das Urteil vom 31. Juli 1973 über die Verfassungskonformität des Grundlagenvertrags zwischen der Bundesrepublik und der DDR.

german-foreign-policy.com: Und das alles wirkt sich auch auf den "Vertrag über die abschließende Regelung" aus?

Koch: Ja. Der "Vertrag über die abschließende Regelung" erlaubte die Vereinigung von Bundesrepublik und DDR und ging davon aus, dass daraus etwas entsteht, was von den beiden sich vereinigenden Staaten unterschieden ist: Das "vereinte Deutschland" , von dem im Vertragstext die Rede ist. Die Bundesrepublik aber hat die Vereinigung nicht in der Form eines Zusammenschlusses vorgenommen, sondern als Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Unmittelbar danach sind deutsche Staatsrechtler im Reichstag zusammengetreten und haben der vergrößerten Bundesrepublik bestätigt, dass sie mit der alten Bundesrepublik identisch ist. Das bedeutet zugleich die Identität mit dem Deutschen Reich, das den 8. Mai 1945 überdauert haben soll. Es war ein Schlag ins Gesicht der Alliierten, und die haben das damals auch verstanden. Der französische Außenminister etwa hat sich sehr deutlich dazu geäußert.

german-foreign-policy.com: Eingeschritten sind die Alliierten aber nicht?

Koch: Nein, letztlich haben sie damals einfach die Achseln gezuckt. Der springende Punkt dabei war Polen. Polen hat sich damals so beweglich gezeigt, dass man gesagt hat: Wenn die Polen selber nicht wollen, dann können wir auch nicht weiterhelfen. Es ging um die erwähnte Vorgabe des "Vertrags über die abschließende Regelung" , eine ebenso abschließende Regelung mit Polen zu treffen. Das Ergebnis dieser Vorgabe war der deutsch-polnische Grenzvertrag. Die Polen hatten die unwiederbringliche historische Chance, ihr Land von einem Alpdruck zu befreien, weil sie in diesem Moment die Siegermächte der Anti-Hitler-Koalition auf ihrer Seite hatten. Aber sie waren in diesem Moment vom russischen Ufer schon abgestoßen und noch an kein neues Ufer gekommen. Das hat die deutsche Seite kaltblütig ausgenutzt.
Artikel 1 und 2 des Grenzvertrags habe ich vorhin erwähnt. Die Bundesrepublik hebt oft Artikel 3 des Vertrages hervor, in dem steht: Die Bundesrepublik erhebt keine Gebietsansprüche gegenüber Polen und wird auch in Zukunft solche nicht erheben. Das klingt wunderbar - wenn man nicht weiß, dass damit nur die Bundesrepublik gemeint ist und nicht das angeblich fortbestehende Deutsche Reich, sollte es einmal wieder seine Handlungsfreiheit erlangen. Das alles ist zwar eine abstrakte Rechtsposition, die jedoch reale Tretminen in die politische Landschaft legt. Aus diesem Grunde hat die Deutsch-Polnische Gesellschaft zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges einen Appell an den Deutschen Bundestag gerichtet und hat ihn aufgefordert, dieser "Deutschland-Doktrin" mit all ihren Auswüchsen endlich den Abschied zu geben, zu erklären: Das ist obsolet, das ist nicht die Grundlage der Beziehungen der Bundesrepublik zu irgendeinem ihrer europäischen Nachbarn und insbesondere nicht zu Polen.

Quelle: www.german-foreign-policy.com


Border Treaty

21.05.2005, BERLIN

(Own report) - The German Polish Society of Germany demands that the German Parliament should "unconditionally and in a legally binding form" recognise the border between Germany and Poland. In an interview with German Foreign Policy the President of the society, Professor Christoph Koch confirmed that in the German Polish Border Treaty of 14th November 1990 Germany merely agreed to forego violence in its relations with Poland. Poland had had the "unique historical opportunity" at that time with the support of the anti-Hitler Allies, to enforce the unconditional recognition of its borders but the German Government in Bonn had "cold bloodedly" exploited differences between Warsaw and the Allies.

Flexible
Germany at that time had succeeded in escaping what the victorious allies had intended to be the definitive settlement of the relations between a re-united Germany and Poland.[1] Instead of a legal recognition of the western Polish border the Treaty had merely asserted a non aggression pact - which had already existed in the Treaty of 7th December 1970. Poland had shown itself so flexible that the Allies had simply "shrugged their shoulders", said Professor Koch.

Continuation of the German Reich
The basis of the "deception" say the German Polish Society is the assertion by the German Constitutional Court, formulated on several occasions since the German surrender on 8th May 1945, of the so called German Doctrine of the Continuation of the German Reich. For instance in the judgment of the German Constitutional Court of 31st July 1973 it is laid down that "The German Reich continues to exist, maintains its legal identity but, lacking organisation and in particular lacking any institutions, is not capable of action." This ruling, maintains Germany's highest court, is anchored in the German constitution. "According to that doctrine the German State is forbidden to undertake any activity which anticipates the end of the German Reich in case that Reich one day re-establishes its capacity to act." Explains Professor Koch. "That is the reservation which affects all foreign policy decisions of the German State."

Concrete Effects
The "Germany Doctrine" is an "abstract legal position" the concrete effects of which are not easy to recognise. Koch warns not to underestimate its power. The lack of recognition of the German Polish border already has significant consequences for Poland. It finds expression in the debate about German refugees and in the compensation claims lodged in Strassbourg by Germans who used to live in Poland.[2]

German Difficulties
While most of the "German Polish Societies" in the 1970s were founded to exert influence in the spirit of the Social Democrat Party's "New Eastern Policy" (Ostpolitik), the "German Polish Society of Germany", the oldest, has followed since its foundation in 1950 a more principled position. In particular it concerned itself early on with the unconditional recognition of the Polish border with Germany. The causes of the "spurning" of German Polish relations lay in the "difficulties Germany had in being a calm and fruitful neighbour to its European and in particular eastern neighbours" as the Society's Journal describes the situation.[3]

Notes
  1. Appell der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland e.V. an den Deutschen Bundestag zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945; www.polen-news.de/appell.htm
  2. see also Revenge is Just
  3. Christoph Koch: Unsere Arbeit geht weiter. Leit-Referat auf der Hauptversammlung am 11./12. März 2000 zum 50 jährigen Bestehen der Gesellschaft; www.polen-news.de/puw/puw5507.htm
Source: http://www.german-foreign-policy.com/en/news/art/2005/53372.php


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