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Erinnern oder vergessen

Der Streit an der Rampe und die Emsigkeit in den Kulissen: Nahezu unbemerkt wird die Geschichte des 20. Jahrhunderts umgeschrieben

Von Kurt Pätzold *

Solange sich soziale, politische und geistige Kräfte gegenüberstehen und ihre Interessen gegeneinander ausfechten, werden diese Kämpfe immer auch von Auseinandersetzungen um die Deutung der Vergangenheit begleitet sein. Die besitzen manchmal den Charakter von Schlachten, dann den von Gefechten und, sind die Kontrahenten ermüdet, von Scharmützeln. Der Lärm ist folglich von unterschiedlicher Stärke. Laut ging es her, als am Beginn der sechziger Jahre des verflossenen Jahrhunderts der in Hamburg lehrende Fritz Fischer sein Buch »Griff nach der Weltmacht Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918« (Düsseldorf 1961) vorlegte. Lauter, als ein Jahrzehnt später die sogenannte Hitler-Welle hereinbrach, eine Bezeichnung, die älteren Datums schon war und nun auf die Dichte der erscheinenden Bücher über den »Führer« gemünzt wurde. Und deren Geräuschpegel wurde noch übertroffen, als Hannes Heer und seine Mitstreiter in den neunziger Jahren die Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« präsentierten und deren Reise durch Deutschland begann. Ging es in den ersten beiden Fällen um die Ursachen der Kriege und die für sie verantwortlich zu machenden Kräfte und Personen, so im zweiten um die Kriegsverbrechen und die an ihnen Beteiligten, also immer um Kernfragen, die an die Ereignisse zu richten waren.

Öffentliche Räume

Gegenwärtig wird der Streit um Erinnern oder Vergessen vorwiegend im Hinblick auf die Gestaltung öffentlicher Räume ausgetragen. Welche Denkmäler sollen errichtet, welche geschleift werden, wo gehört eine Gedenktafel hin, wo soll sie entfernt werden, was verdient eine Dauerausstellung oder eine solche auf Zeit. Entschieden wird, wer, was, wie und wo im Gedächtnis der Nachgeborenen haftenbleiben soll. Stellte man sich diese Geschehen bildlich auf einer Bühne vor, ließe sich sagen: Das ist die Betriebsamkeit an der Rampe und im Scheinwerferlicht, woran Neugierde die Frage schließen könnte: Und was geschieht im Hintergrund und in den Kulissen? Dort wird, von den Blicken der meisten Zeitgenossen nahezu unbemerkt, die Geschichte des 20. Jahrhunderts umgeschrieben. Und das nicht unter dem Eindruck oder Druck neuer Erkenntnisse, sondern unter dem politischer Vorgaben. Während sich viele Ostdeutsche der älteren Generationen noch immer ereifern, wenn Kindergärten aus DDR-Zeit schlechtgemacht oder ihre Schulen vorwiegend als Verdummungs- und militarisierte Zuchtanstalten dargestellt werden, andere auch, wenn sie »Zugeständnisse« lesen, erfreut oder mit Häme reagieren, wird ihren Enkeln an den Schulen ein Bild des verflossenen Jahrhunderts vorbereitet, das andere Dimensionen besitzt und zu anderen geistigen Konsequenzen führen soll. In ihnen sind die Kindergärten Peanuts. Hier geht es ums Ganze und letztlich um die Anschauung dieser unserer Welt und das Verhalten in ihr.

Der lange als ein weltgeschichtlicher Epocheneinschnitt angesehene, auch als Eröffnung von Kapitel Zwei der Weltgeschichte gefeierte Oktobertag des Jahres 1917 ist auf einen minderen Platz gesetzt. Die Geschichte hat diese Bewertung erledigt. Freilich nicht die mehr als siebzigjährige Erfahrung eines Ausbruchs aus der bürgerlichen Gesellschaft. Es sind zwei Ereignisse dieses 20. Jahrhunderts, die in der neuen Betrachtung auf die Plätze 1 und 2 gesetzt werden. Von dem einen, dem 8. Mai 1945, trennen uns eben 65 Jahre, von dem anderen, das auf einen Tag nicht fixiert werden kann, zwei Jahrzehnte. Daß dieser Maitag, an dem die faschistische Wehrmacht kapitulierte, für Millionen Menschen vor allem, aber nicht nur in Europa ein Tag der Befreiung war, empfanden die meisten schon im Moment des Geschehens. Für viele von ihnen lag der Tag ihrer Befreiung mehr oder weniger lange davor und in dem Moment, da sie durch das Eintreffen der Armeen der Alliierten sicher sein konnten, daß sie das Elend und Inferno von Krieg und Besatzung, von Ausplünderung und Hunger, von Zwangsarbeit und Terror überlebt hatten.

Die Deutschen brauchten, bis sie sich zum Bewußtsein auch ihrer Befreiung durchgedacht hatten, in ihrer Mehrheit Zeit, und manche bedurften des Nachhilfeunterrichts. Spät, 1985, ist der den Westdeutschen auch von ihrem Staatsoberhaupt zuteil geworden. Unbestritten war mit dieser Kennzeichnung, daß alle, die diesen Tag herbeigeführt hatten, sich ein weltgeschichtliches Verdienst erwarben, dessen gedacht werden müsse. Wer der Wahrheit die Ehre gab, gestand sich ein, daß der Anteil daran nicht gleichmäßig verteilt war, wie immer in solchen Fällen. Doch niemandes Beitrag war geringzuschätzen. Dieses Geschichtsbild, bleiben wir im wörtlichen Sinne beim Bild, wird derzeit abgehängt. Der einstige Bundespräsident ist daran übrigens beteiligt. Und es ist nicht für die Aufbewahrung in einem Magazin bestimmt.

Nächste Diktatur

An seine Stelle tritt die Deutung des 8. Mai als eines Tages, an dem nur ein Teil Europas befreit wurde, sein östlicher aber von einer – der braunen – Diktatur in die nächste – die rote – geriet. Im Osten wäre ein Krieg zweier Schurken, Banditen, Verbrecher gegeneinander geführt worden. Der eine wie der andere hätte sein Volk mißbraucht und geopfert. Diese Ver­sion europäischer Geschichte, zu deren Fundamentmix unentbehrlich der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 gehört, ist nicht neu. Sie wird seit Jahrzehnten schon von Verfechtern der Totalitarismusdoktrin verbreitet. Die haben, nachdem sie zeitweilig kleinlaut gemacht worden waren, seit etwa 1990, teils schon in den Jahren vorher, Verstärkung erhalten. In der UdSSR haben diese Dogmatiker schon im Zeichen von Glasnost Anhänger gefunden. Nach der gleichen politischen Melodie wurde in Italien zu Beginn der neunziger Jahre von diesem Diktaturentausch – da von der brauen und schwarzen (wegen der Schwarzhemden) in die rote – geschrieben und geredet. Jetzt geht es darum, diese Interpretation durchzusetzen. In ihrer moderaten Form gehört dazu eine Differenzierung. Gelobt werden die Leistungen der Völker der Sowjetunion in den militärischen Kämpfen, gedacht ihrer Leiden und Opfer. Nur sei das alles nicht mit einem weltgeschichtlichen Verdienst verbunden gewesen.

Denn die Ostdeutschen hätten auf ihre Befreiung mit den Völkern Osteuropas vom Balkan bis zum Baltikum noch viereinhalb Jahrzehnte warten müssen. Erst 1990 habe ihnen die Freiheitsglocke geklungen. Das ergibt für das 20. Jahrhundert dies: Es ist in Europa gekennzeichnet durch einen schweren Weg zu Liberalismus, Demokratie, Freiheit und Humanismus, der über zwei Diktaturen hinweggeführt habe, über die Triumphe von 1945, damals den partiellen, und 1990, sodann den totalen. Mit diesem Bild läßt sich allerlei anfangen, und dazu ist es ja auch bestimmt. Es soll den Zeitgenossen das stolze Bewußtsein und den Europäern das Überlegenheitsgefühl vermitteln, auf dem Höhepunkt weltgeschichtlicher Entwicklung angelangt zu sein. Gewiß, das Ende der Geschichte im Sinne von Stillstand und bloßem Konservieren des Vorhandenen ist nicht erreicht. Aber gemessen am Bisherigen handelt es sich um Reparaturarbeiten. Es geht den Totalitarismus-Doktrinären um die vollständige mentale und geistige Aussöhnung der Massen mit der Grundstruktur der gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände. Ein Autor einer bürgerlichen deutschen Zeitung, zudem hierzulande Dozent an mehreren deutschen Journalistenschulen, hat zu Jahresanfang 2010 formuliert, welches Bewußtsein in teutonische Köpfe gehört: »Erstens: Noch nie in unserer Geschichte wurden wir so gut regiert wie heute. Zweitens: Kaum ein anderes Land der Welt wird so gut regiert wie die Bundesrepublik Deutschland.« (Markus Reiter, Die wohlregierte Republik. In: Stuttgarter Zeitung, 9.Januar 2010, Beilage: Brücke zur Welt, V1) Und dann zusammenfassend: »Die Bilanz der deutschen Geschichte bis heute führt zur Erkenntnis: Wir leben im freiesten, wohlhabendsten und sichersten Deutschland, das es je gab.« Und »Wir sind ein verhältnismäßig glückliches Land.« Wer diese Ansicht nicht teile, dem fehle der richtige Maßstab. Wer ihn aber besitze, der erkenne: »Uns geht es so gut, daß wir nicht einmal mehr wissen, wie gut es uns geht.« Natürlich: »Selbst die beste Politik kann nicht erreichen, daß am Ende alle Beteiligten voll und ganz zufrieden sind.« Und dann noch einmal: »Gemessen an anderen Staaten und früheren Epochen aber steht die Bundesrepublik Deutschland des Jahres 2010 glänzend da.«

Wir werden uns um die in DDR-Zeit vollbrachten Leistungen der Kindergärtnerinnen und der Lehrer, von denen viele den steinigen Weg der Neulehrer gingen, noch eine Weile streiten, zumal da eine Erbschaft anzutreten ist. Doch das eigentliche Streitobjekt wird durch Kernfragen der Geschichte und der Weltanschauung gebildet. Da liegt die Herausforderung, und hier sollte nicht mehr als darauf aufmerksam gemacht werden.

Unser Autor ist Historiker. Zuletzt erschienen von Kurt Pätzold die Bücher »Geschichte der NSDAP – 1920 bis 1945« (zusammen mit Manfred Weißbecker), (Papyrossa Verlag 2009). »Die Geschichte kennt kein Pardon. Erinnerungen eines deutschen Historikers« (edition ost, 2008)

* Aus: junge Welt, 8. Mai 2010


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