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Ideologie und Kalkül

Ein Bericht über die Konferenz "60. Jahrestag der Befreiung: Faschismus – Antifaschismus – Neoliberalismus und Rechtsextremismus" in Berlin

Am 22. und 23. April 2005 fand im Haus der Wissenschaft und Kultur der Russischen Föderation in Berlin eine wissenschaftliche Konferenz statt, die sich anlässlich des 60. Jahrestags der Befreiung vom Faschismus auch mit Fragen des Rechtsradikalismus und Rechtspopulismus heute befasste. Thema des Kongresses: "Faschismus - Antifaschismus – Neoliberalismus und Rechtsextremismus". Sebastian Gerhard hat einen kleinen Bericht über die Konferenz geschrieben, den wir im Folgenden dokumentieren. Sobald Vortragsmanuskripte vorliegen, werden wir sie in unserem Dossier "Befreiung" vorstellen.



Von Sebastian Gerhardt*

Man wollte vor den offiziellen und gegenoffiziellen Feiern zum 8. Mai die historischen Auseinandersetzungen um Faschismus und Befreiung mit der aktuellen antifaschistischen Diskussion angesichts des neoliberalen Gesellschaftsumbaus verbinden. Zusammen mit dem VVN-BdA Berlin und der Gruppe »Kritik und Praxis« ist das den Veranstaltern der Hellen Panke am letzten Freitag und Samstag auch ganz gut gelungen. Nicht zuletzt aufgrund der Mithilfe eines interessierten und wachen Publikums, das sich im Haus der Wissenschaft und Kultur der Russischen Föderation in der Berliner Friedrichstraße einfand.

Raub und Mord

Der Freitagabend gehörte den Zeitzeugen. Eröffnung und Höhepunkt war der disziplinierte Bericht von Sofia Timofejewna Domant aus Nowosibirsk. Sie hatte als junge Komsomolzin (Jahrgang 1925) den Kriegsbeginn und die Schrecken der deutschen Eroberung in einem belorussischen Dorf erlebt: die Kampfhandlungen und Bombardements, Raub und Mord, den Hunger während des Winters. Bei der Zwangsarbeit zur Wiederherstellung der Eisenbahnverbindungen fand sie erste sowjetische Flugblätter, die zu Widerstand und zum Partisanenkampf aufriefen. Ein Viertel der Bevölkerung Belorußlands fiel den deutschen Truppen zum Opfer. Der Härte des Überlebenskampfes entsprachen die Härte und der Zusammenhalt unter den Partisanen. Die Partisaneneinheit von Sofia Timofejewna gehörte ab Herbst 1942 zum Smolensker Partisanenregiment. Einer ihrer Genossen, Michail Jegorow, hißte zusammen mit Meliton Kantarija am 30. April 1945 die Rote Fahne auf dem Reichstag.

Peter Gingold, Angehöriger der Resistance, machte den Widerspruch der deutschen Widerstandskämpfer deutlich: Als Teil des europäischen Widerstandes waren sie Sieger und zugleich schon 1933 besiegt worden. Nach den Worten eines sowjetischen Veteranen war für diese Deutschen der 8. Mai keine »Jungfrau, im schönsten Frühlingsgewand«, sondern »eine Witwe mit Trauerschleier«. Schließlich erzählte Boris R. Otschkow von den ersten Schritten der sowjetischen Besatzungsmacht in Berlin. Nach all diesen Erinnerungen kontrastierte Georg Fülberth in knappen Worten die strategische Bußfertigkeit in der bundesdeutschen Vergangenheitsbewältigung bis 1989 mit ihrer aktuellen Ergänzung durch eine strategische Unverschämtheit der »geläuterten« bundesdeutschen Nationalstaatspolitiker seit 1990.

Am Sonnabend schlug die Konferenz den Bogen von der Faschismusforschung über Konzepte und Möglichkeiten des Antifaschismus in der Nachkriegszeit bis zum Zusammenhang von Neoliberalismus und extremer Rechter heute. Im ersten Block erörterten Reinhard Kühnl, Wolfgang Wippermann und Kurt Pätzold die klassische Frage: Primat der Ökonomie oder der Politik im deutschen Faschismus? Kühnls reflektierter, aber durchweg positiver Bezug auf die völker- und verfassungrechtliche, antimonopolistische Bewältigung des deutschen Faschismus nach 1945 (Artikel 20 Grundgesetz) gab eine Orientierung vor, die von mehreren Referenten im Laufe des Tages geteilt, aus dem Publikum aber regelmäßig bezweifelt wurde. Wippermann bezeichnete das neueste Buch von Götz Aly »Hitlers Volksstaat« als den aktuellen Ausgangspunkt der Diskussion. Leider hatte der Bestsellerautor Aly keinen Grund gesehen, sich der Kritik an seinen Behauptung über die nationalsozialistische Gefälligkeitsdiktatur zum Wohle der deutschen Mehrheit zu stellen. Pätzold nahm in zwölf gedrängten Thesen zu Ideologie und Kalkül der antisemitischen Politik und des Völkermordes der Nazis Stellung. Er brachte auch Götz Alys Verkehrung der Sachlage auf den Punkt: Die Korrumpierung breiter Schichten der deutschen Bevölkerung avanciert bei Aly vom Herrschaftsmittel zum Staatszweck. In der Diskussion kam die Frage auf, wie der Umschwung in der deutschen Bevölkerungsmehrheit von loyaler Gefolgschaft bis fünf nach zwölf zur breiten Akzeptanz antikapitalistischer Sozialisierungsvorschläge schon 1946 zu erklären wäre.

Loyalität und Sozialisierung

Im zweiten Block ging es um die Vergegenwärtigung des antifaschistischen Erbes. Materialreich stellte Johannes Klotz die Konzepte der Volksfrontpolitiken der europäischen Widerstandsbewegungen vor. Demgegenüber betonte Rolf Badstübner die gemeinsame antifaschistische Politik der Staaten der Antihitlerkoalition, zumindest bis ins Frühjahr 1947. Anders als diverse deutsche Linke stellte er den US-amerikanischen Anteil an der Formulierung und weitgehenden Umsetzung des Potsdamer Abkommens heraus. Einig war er sich mit vielen Anwesenden in der positiven Bewertung dieses Abkommens. Er ging dabei auf den Stimmungswandel nach 1945 ein und machte deutlich, daß die Sozialisierungsforderungen vor dem Hintergrund der für viele unerwarteten deutschen Kriegsniederlage gesehen werden müssen. Sie standen damals in Übereinstimmung mit der offiziellen Politik aller Alliierten und waren von der massiven Aktivität der befreiten Antifaschisten getragen. Andererseits waren diese Stimmungen nicht besonders stabil, sie wandelten sich mit der jeweiligen Haltung der Besatzungsmächte. So sehr der Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus im ersten Block betont wurde, so offen blieb der Zusammenhang von materialistischer Klassenanalyse und antifaschistischer Politik im zweiten. Simone Barck gab schließlich einen Ausblick auf den wohlweislich verordneten Antifaschismus der DDR-Literatur. Sie konnte dabei sowohl die politische Instrumentalisierung wie den humanistischen Gehalt dieser Literatur deutlich machen.

Während Ursula Birsl im letzten Block die Nähe der FDP zu rechtspopulistischen Positionen – die gescheiterte Möllemann-Option – politikwissenschaftlich durchdeklinierte, berichtete Gudrun Hentges über ein europäisches Forschungsprojekt zur subjektiven Verarbeitung von Umbrüchen im Arbeitsleben. Die Brisanz des Materials wurde dabei von methodischen Betrachtungen an den Rand gedrängt und in den Schlußfolgerungen entschärft. Immerhin war der festgestellte Zusammenhang von neoliberaler Politik und erstarktem Rechtspopulismus für den Auftraggeber EU Grund genug, sich die Ergebnisse dieses Projektes nicht zu eigen zu machen und auf eine Vorstellung der Studie zu verzichten.

Auf dem Plakat zur Konferenz sieht man eine sowjetische Reguliererin vor dem Brandenburger Tor. Für heutigen Antifaschismus hat die Konferenz Angebote unterbreitet. Fahren lernen muß jeder selbst.

* Dieser Konferenzbericht erschien in der Tageszeitung "junge Welt" am 26. April 2005


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