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"Wenn mir jemand gesagt hätte, daß ich nach Deutschland zurückkehre, hätte ich ihn erschossen"

Partisanen und Rotarmisten im Zweiten Weltkrieg - Erinnerungen zweier Frauen

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Beiträge, die sich mit dem Kampf gegen das faschistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg befassen - aus der Sicht der Sieger: einer weißrussischen Partisanin, die sich bereits mit 16 Jahren dem Widerstand anschloss, und einer litauischen Jüdin, die sich - ebenfalls im Alter von 16 - der Roten Armee anschloss.



Rächer im Wald

Die Partisanin Sofia Domant über ihren Kampf gegen die Faschisten

Von Karlen Vesper*


Sie war knapp 16, als sie zu den Partisanen ging. Es fällt ihr schwer, über diese Zeit zu sprechen. Die Erinnerung schnürt ihr die Kehle zu, treibt Tränen in die Augen. Sofia Timofejevna Domant aus Belorussland erzählte ND ihre Geschichte.

Der 22. Juni 1941 war ein Sonntag. Die Komsomolzen des Witebsker Gebietes halfen den Bauern bei der Kartoffelernte. Da wurden sie von der Nachricht aufgeschreckt: »Deutschland hat uns überfallen, wortbrüchig!« Sofia Timofejevna ist noch immer empört. »Wir wussten nicht, wie uns geschah, so blitzartig wurde unser Land okkupiert.« Am 14. Juli fiel Smolensk, kurz darauf war die Wehrmacht in ihrem Ort, am Dnjepr, nahe der Eisenbahnlinie Smolensk-Moskau-Minsk.

Brutal haben die Faschisten in Belorussland gehaust, kulturelle und materielle Werte vernichtet, Menschen erschlagen, erhängt, erschossen, gequält, gefoltert. »Schmerz, Tränen, das Land stöhnte, es schien, als ob die Qual kein Ende nimmt«, sagt Sofia Timofejevna. In ihrer Schule haben die Okkupanten ihren Stab eingerichtet. Sie behaupteten: »Moskau kaputt, Stalin kaputt.« Die Jugendlichen wurden täglich an die Eisenbahnstrecke gebracht, um die Schäden nächtlicher Partisanenüberfälle zu beheben. Eines Tages lagen auf den Schienen Flugblätter »unserer Regierung«, auf denen stand: »›Moskau lebt. Ihr seid nicht vergessen, ihr werdet bald befreit.‹ Das hat uns Kraft gegeben, uns ermutigt.«

Bald schon haben die jungen Leute Kontakt zu der im Wald jenseits der Bahnlinie versteckten Partisaneneinheit, die sich »Rächer« nannte. »Wir haben sie mit Lebensmitteln und Kleidung versorgt, das Wenige, das wir besaßen, geteilt.« Auch Selbstgebrannten schmuggelten sie hinüber, »zu medizinischen Zwecken«, betont Sofia Timofejevna. Der Winter 1941/42 war hart, »aber wir wussten die Wahrheit über Moskau«. Ihr Vater, wie Sofia später erfuhr, war bei der Verteidigung der Hauptstadt dabei.

Im Frühjahr 1942 wurde mit der Deportation der Jugendlichen zur Zwangsarbeit nach Deutschland begonnen. Die Partisanen rieten ihnen, sofort in den Wald zu kommen. Es war nicht leicht, sich von den Reparaturtrupps an der Bahnlinie zu entfernen, alle hundert Meter standen deutsche Posten. Sofia und ihr Freund Igor Stefanenkow gaben vor, Holz zu holen. Sie waren die ersten Komsomolzen, die zu den »Rächern« gingen. Von denen, die nach Deutschland verschleppt worden sind, kehrte niemand zurück.

Hatte sie keine Angst, dass durch ihre Flucht der Familie Repressalien drohten, möchte ich wissen. »Natürlich hatte ich Angst«, antwortet Sofia Timofejevna. Ihre Mutter sei zunächst auch strikt dagegen gewesen, aber sie hat sie überzeugt. Verwandte haben die Mutter und ihre drei jüngeren Brüder versteckt, gerettet vor der Rache der Faschisten. Bei den Partisanen kümmert sich Sofia anfänglich vor allem um die Verwundeten, kocht Essen. »Und manchmal haben mich die Burschen gebeten, ihr Gewehr zu reinigen.« Am 20. Juli 1942, nunmehr 17 Jahre alt, legt sie den Partisaneneid ab, die Heimat zu verteidigen und sich am Feind zu rächen, auch wenn es das eigene Leben koste. Sie schwört, militärische Disziplin und Geheimnisse zu wahren. »Uns Partisanen durften keine Fehler unterlaufen, selbst der kleinste konnte schlimmste Folgen haben. Das wussten schon die Kinder.«

Immer öfter operieren die »Rächer« mit regulären Armee-Einheiten. Jetzt sprengt auch Sofia Schienenstränge in die Luft. Im August 1942 nimmt sie erstmals an einer offenen Kampfoperation teil. Im Dorf Lonniza erobern sie ein Lager, in dem die Faschisten Lebensmittel und Munition horten. Sofia gehört zum Trupp, der den Rückzug decken soll. »Plötzlich tauchten mehrere Lkw der Faschisten auf und verfolgten die Unsrigen. Da musste ich das erste Mal auf Menschen schießen. Ich erinnere mich daran mit dem größten Schrecken.«

Partisanen dürfen nicht in die Hände der Faschisten fallen. Verwundete werden »unter größten Schwierigkeiten durch die Frontlinie ins Hinterland gebracht«. Eines Tages erkrankt Sofia – Auszehrung. Das Leben im Wald, der ungleiche Kampf übersteigt die Kräfte eines jungen Mädchens. Unter den Begleitern des Transportes, mit dem sie durch die Front geschleust werden soll, ist ein Verräter. Als ihr Pferdefuhrwerk die Bahnlinie erreicht, gibt der ein Signal, das die Faschisten herbeilockt. Der Schusswechsel geht »zum Glück ohne Verluste auf unserer Seite ab«.

Den Tag des Sieges, den 9. Mai 1945, erlebt Sofia in einer Klinik in Tomsk. Täglich schreibt sie Briefe, hofft auf Lebenszeichen von der Familie. Schließlich meldet sich der Vater. »Er hat Smolensk mit befreit und unseren Ort. Und Mutter und Brüder gefunden. Ich danke Gott, dass er mich und die Meinen diesen Krieg hat überleben lassen«, sagt Sofia Timofejevna und zeigt mir ein Foto »ihrer« Kirche in Nowosibirsk, wo sie heute lebt. Sie hat nach dem Krieg Lebensmittelindustrie studiert und sich in einen Jungen verliebt, den sie nicht heiraten durfte. Dessen Eltern, »reiche Leute«, wollten keine Schwiegertochter, die im Krieg war. Und so waren ihr erster, »früh verstorbener«, und zweiter Mann Kriegskinder wie sie, Frontsoldaten. Sofia Timofejewna hält heute im Offiziershaus von Nowosibirsk Vorträge. Sie will die Jugend zu Patrioten erziehen und überzeugen, in der Armee zu dienen, »denn die Armee ist Russlands einzige Sicherheit.« Und sie lehrt sie, dass Deutschland und Faschismus nicht eins sind. Aber auch, dass »niemand und nichts vergessen« ist. Stolz berichtet sie mir, dass »Mischa Jegorow von unserer Partisaneneinheit« Mai 1945 in Berlin zu jenen gehörte, die die Flagge des Sieges auf dem Reichstag hissten.

* Aus: Neues Deutschland, 3. Mai 2005


Sieger bei den Besiegten*

"Wenn mir jemand gesagt hätte, daß ich nach Deutschland zurückkehre, hätte ich ihn erschossen". Ein Gespräch mit Ewgenija Smuschkewitsch (Text und Gespräch: Wassily Geist)

Ich springe über die Stufen im Treppenhaus, um pünktlich, wie ein Soldat, vor ihrer Tür zu stehen. Ewgenija Smuschkewitsch empfängt mich mit einem festen Händedruck. Ein zurückhaltender strenger Gesichtsausdruck, wie der einer Lehrerin. Pechschwarze Haare und geschminkte Lippen. »Das bedeutet Frau sein«, sagt sie später ironisch. »Nachts, wenn ich dachte, daß alles vorbei ist, bin ich doch aufgestanden und habe mich geschminkt ... Sagen Sie Zhenja zu mir, so nennen mich alle, seit der Front.«

Zhenja wurde 1925 in Kaunus in Litauen geboren. Sie ging in die jüdische Schule und wollte Bauingenieur werden. Der Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 zerriß all ihre Träume. Das sechzehnjährige Mädchen schaffte es, nach Osten zu flüchten. Ihre Familie blieb zurück. Alle wurden als Juden im KZ ermordet.

Ohne die russische Sprache zu beherrschen, meldete sich Zhenja freiwillig in der Armee. Die Sprache lernte sie an der Front, wo sie, wie weitere 800.000 Frauen der Roten Armee, den Dienst an der Waffe leistete.

F: Zhenja, 1940 sind sowjetische Truppen in Ihrer Heimat Litauen einmarschiert. Haben Sie das als Okkupation empfunden?

Keineswegs. Die Sowjetunion war zum Zeitpunkt des deutschen Angriffs 1941 sogar meine Heimat, für die ich in den Krieg gegangen bin. Ich bin in einer nicht reichen, und deshalb vielleicht bescheidenen, jüdischen Familie aufgewachsen. Wir waren alle Internationalisten – obwohl mein Vater nicht der Partei beigetreten war.

F: Inwiefern lebt der Krieg 60 Jahre nach dessen Ende in Ihnen weiter?

Das Grauen des Krieges kann man nicht vergessen. Wir sind inmitten des Krieges aufgewachsen. Auf unseren weiblichen Schultern haben wir Männer aus dem Feuer geholt. Wie heiße, verbrannte Kartoffeln, so schwarz ... Mit unseren zarten Händen haben wir abgedrückt und auch getötet. Und doch, wenn ich heute morgens aufstehe, höre ich öfters Bänder aus den Kriegsjahren. Das sind meine Lieblingslieder.

Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als bei uns der Krieg ausbrach. Das Baltikum wurde nicht in der Nacht angegriffen, sondern erst am frühen Sonntagmorgen des 23. Juni 1941. Wir wollten einen Ausflug mit dem Schiff machen. Kurz vor der Abfahrt wollten wir Kinder uns noch Süßigkeiten in einem kleinen Laden kaufen. Plötzlich hörten wir einen lauten Knall, dann noch einen und so weiter. Unter einem Hagel von Bomben liefen wir nach Hause. Doch erst, als ich von meinem geliebten Vater hörte, daß Krieg ist, glaubte ich es.

Man rief uns Jugendliche auf, beim städtischen Komitee des Komsomol zu erscheinen. Mein Vater nähte mir schnell eine kleine Tasche in den Büstenhalter, wo er etwas Geld versteckte. Er küßte mich zum Abschied und sagte: »Lauf!« Das war das letzte Mal, daß ich meine Familie sah ...

Wir Kinder flohen über Sümpfe und Wälder Richtung russische Grenze. Wir waren tagelang unterwegs, waren hungrig und dreckig. Irgendwie schafften wir es über die Grenze nach Welikije Luki.

Dort angekommen, wollten wir mit dem Zug weiter. Doch überall herrschte Panik, alle wollten sich retten, wollten weg – weg von den Deutschen. Wir standen in einer Menge, als plötzlich deutsche »Jäger« kamen. Sie beschossen den Zug mit ihren Maschinengewehren. Es zischte um uns herum, alle liefen, kreischten ... Wir sprangen in einen Graben, doch sie drehten nicht ab. Sie schossen in die Menge von Frauen und Kindern.

Es war schrecklich. Zwanzig Freunde von mir warfen sich hin, nur fünfzehn standen nach dem Angriff wieder auf. Ich sah das erste Mal, wie mir nahestehende Menschen starben.

Als ich mich schließlich bei der Armee meldete, sagte ein Oberst zu mir: »Schau dich an ... Du mußt noch mit Puppen spielen, was hast du an der Front verloren?« Aber es fanden sich Menschen, die es gut mit mir meinten. In einer Schule für Sanitäter brachten sie mir bei, wie maß schießt und wie man Binden anlegt – aber auch, wie man Ski fährt.

F: Mit welchen Schwierigkeiten waren Sie, als Frau, an der Front konfrontiert?

Zunächst, es gab auch rührende Momente: Wenn die Mädchen ihr Geschäft erledigen mußten, schrie der Kommandeur der Einheit: »Alle ... Kehrrrtum! Und ihr, Frauen geht eurem Geschäft nach!«

Aber wir kämpften und hungerten wie die anderen auch. Wir schliefen im Viehstall oder auf nacktem Boden, bei Frost! Am Tag schliefen wir, uns abwechselnd, während des Marsches weiter: Der eine schläft im Gehen und die anderen stützen ihn, so daß keiner was merkt. In der Armee gab es keine Differenzierung nach Nation oder Geschlecht – es gab nur Soldaten.

F: Wurden Sie in der Armee ihrer jüdischen Herkunft wegen ausgegrenzt?

Nein! In unserer Litauischen Division gab es genausoviel Antisemitismus wie in der restlichen Armee: Keinen. Während des Krieges gab es keine Unterscheidung. Ob du Russe, Lette, Jude oder Kasache warst, das spielte keine Rolle. Wir wußten, daß wir nur dann gewinnen können, wenn wir zusammenhalten. Es ging allen um ihre Heimat, die damals die Sowjetunion war.

F: Sie waren zu Kriegsbeginn fast noch ein Kind und mußten auf einmal eine so große Verantwortung tragen. Wie haben Sie das bewältigen können?

So wie alle anderen! Es blieb uns ja keine Wahl. Als ich mich in der Armee meldete, fühlte ich mich schon wie eine erwachsene Frau. Ich hatte auf meiner Flucht schließlich schon den ganzen Schrecken des Krieges gesehen, »Pulver gerochen«, wie man sagt. Als ich mit zu großen Stiefeln und in Männerklamotten an die Hauptkampflinie kam, war ich seelisch fast alt ...

Von der Kindheit haben wir uns damals alle verabschieden müssen. Aber meine Eltern und meine Familie fehlten mir trotzdem. Wie oft wollte ich in den Gefechten, bei Sturm oder beim Rückzug »Mama« sagen? Unzählige Male ...

F: Was empfanden Sie, als Sie zum Kriegsende deutsches Territorium betraten?

Als wir die gleiche Angst und das gleiche Leid der Menschen sahen, wie bei uns zu Hause, hatten wir Mitleid. Nachdem ich erfahren hatte, daß meine gesamte Familie von den Faschisten ausgelöscht wurde, wollte ich zunächst nur Rache. Aber als wir die gleichen hungrigen Kinder sahen, die Schlange um einen Teller Suppe standen, ging aller Haß verloren. Wir haben sie mit unseren Feldküchen gefüttert, alle, die hungrig waren. Sie hatten zunächst Angst vor uns. Man hatte ihnen eingeflößt, die Russen würden sie umbringen. Aber ihr Hunger war stärker als ihre Angst, und so kamen sie zu uns.

Ja, man mußte mit dem Gefühl des Hasses kämpfen – ohne dieses Gefühl hätten wir nie gesiegt, aber vergeben mußte man mit dem Gefühl der Versöhnung. Was hatten diese Kinder damit zu tun?

F: Hätten Sie sich damals vorstellen können, irgendwann nach Deutschland zurückzukehren?

Wenn mir damals jemand gesagt hätte, daß ich einmal in Deutschland leben werde, ich glaube, ich hätte ihn auf der Stelle erschossen!

F: Weshalb sind Sie dennoch nach Deutschland zurückgekehrt?

Es war schrecklich, als es in der Sowjetunion zur Wende und in Vilnius zum Putsch kam. Vor unserer Tür wurde geschossen. Wieder fuhren Panzer auf. Ich schickte meine Kinder sofort nach Moskau. Von dort aus wollten sie nach Amerika. Doch dann dachten wir uns, es wäre besser, näher an der Heimat zu bleiben.

Wie die meisten bin ich nur meiner Kinder wegen nach Deutschland ausgereist. Mir selber ging es dabei sehr schlecht. Aber, wissen Sie, ich lebe seit 1990 hier und unterhalte mich viel mit den Deutschen. Ich habe noch nie eine schlechte Bemerkung gehört, oder den Satz: »Warum sind Sie hierher gekommen?« Ich bin diesem Land sehr dankbar.

F: Treffen Sie sich in Berlin mit anderen Veteranen der Roten Armee?

Natürlich! In Litauen war ich Mitglied im Komitee der Kriegsveteranen. Ich arbeitete als Vorsitzende eines großen Unternehmens und wir veranstalteten Treffen, Abende und Fahrten. In Berlin gehöre ich dem Klub der Kriegsveteranen an, seit es ihn gibt. Wir treffen uns zweimal im Monat.

Wir reden zwar auch über »friedliche Sachen«, doch das Thema Krieg bleibt für uns immer aktuell – nicht zuletzt, da wir durch die ständigen Nachrichten vom Krieg im Irak oder von Anschlägen in anderen Ländern daran erinnert werden.

* Aus: junge Welt, 3. Mai 2005


Kampf gegen das Vergessen

Von Wassilij Geist*

In Deutschland ahnt kaum jemand von ihrer Existenz. Und dennoch gibt es sie, die Soldaten von einst: Aufklärer, Panzerfahrer, Artilleristen Krankenschwestern, Marinesoldaten und ehemalige KZ-Häftlinge

Seit vier Jahren lebe ich nun schon zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Ich lebe im Frieden, kenne weder Hunger noch Leid, gehe zur Schule, verdränge sie mit meinen Freunden und mache ab und zu meine Hausaufgaben – das ist meine Gegenwart.

Ich versuche, die Zeit zu verbinden, eine Brücke über die Jahrzehnte zu schlagen.

In ihrer Heimat als Helden gefeiert, leben die Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges heute in dem Land, das sie haßten und dem sie heute dankbar sind. Ihrer golden glänzenden Orden schämen sie sich. Sie tragen sie nur zu Hause oder beim Bankett in der Russischen Botschaft.

Sie sind nicht nach dem Krieg hier geblieben. Sie sind aus wirtschaftlicher und politischer Zwangslage ihren Kindern nach Deutschland gefolgt und leben nun im Land ihres ehemaligen Feindes. Es scheint, als leben sie der Geschichte zum Trotz in dem Land, welches versucht hatte, sie zu vernichten: Viele von ihnen sind jüdischer Herkunft.

In Deutschland ahnt kaum jemand von ihrer Existenz. Und dennoch gibt es sie, die Soldaten von einst: Aufklärer, Panzerfahrer, Artilleristen Krankenschwestern, Marinesoldaten und ehemalige KZ-Häftlinge.

In Berlin gibt es nur noch eine »Handvoll« Rotarmisten. Sie scheinen in ihrem Wesen unverändert: Sie streiten und fluchen. Sie nennen mich Junge oder Kind, sie sind sarkastisch und haben ein weises, zynisches Lächeln. Einige haben das Berlin von 1945 gesehen. Jetzt gehen sie an den ihnen bekannten Gebäuden vorbei: dort, wo gekämpft wurde, dort, wo gefeiert wurde, dort wo ihre Kameraden fielen, 365 000 an der Zahl. Dort, wo sie dem schrecklichen Krieg ein Ende setzten. Sie, die Gewinner. Sie, die Retter der Welt vom Faschismus. Bei Sonne und Regen versammeln sie sich jedes Jahr im Mai am sowjetischen Ehrenmal vor dem Brandenburger Tor und im Treptower Park. Sie treffen sich regelmäßig in der Neuen Synagoge und sind gern gesehene Gäste im Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst. Dazwischen sind sie unauffällig. Unsichtbar. Sie denken, reden und träumen vom Krieg.

Ich war 15, als ich den Wunsch hatte, mit ihnen persönlich zu sprechen. Die Geschichte nicht mehr per Buch zu erkunden, sondern ihr direkt in die Augen zu schauen. Mehrere Male stand ich beim »Klub der Kriegsveteranen« vor verschlossener Tür.

Heute habe ich mein Vorhaben erreicht: Viele meiner Freunde sind über 80. Ich blättere in meinem Adreßbuch. Es zählt mehr als 20 Namen, Telefonnummern und Geburtsdaten. Die Geburtsjahre reichen von 1904 bis 1926.

Noch ist Zeit, sie kennenzulernen, ihnen die Hände zu drücken, in ihre Seele zu schauen – zu erschrecken und daraus zu lernen. Lernen, nicht zu vergessen.

* Aus: junge Welt, 3. Mai 2005




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