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"Das war ein großes Geschenk"

Warum Ernst Bittcher den Sowjetsoldaten dankbar ist *

Er war 16. ERNST BITTCHER aus Berlin-Lichtenrade dürfte der letzte noch lebende Verteidiger des Reichstages im Frühjahr 1945 sein. Mit dem Veteran, der nach dem Krieg als Orgelbauer arbeitete, sprach für das Neue Deutschland (ND) KARLEN VESPER.



ND: Wie kamen es dazu, dass Sie vor 65 Jahren im Reichstag waren?

Bittcher: Kaum aus der Kinderlandverschickung im Januar 1944 zurück, wurde ich 15-jährig zur Flak eingezogen. Am 26. April '45 sind wir zum Reichstag abkommandiert worden und haben dort drei Geschütze aufgestellt, die nunmehr von Luftabwehr auf Erdkampf umgerüstet worden waren. Ich war aber nicht Mitglied der Geschützstaffel, sondern der Messstaffel. Insofern hatte ich keine Aufgabe mehr. Ich hatte also Gelegenheit, im Inneren herumzustromern. Da gab es einen Kinderkeller, einen Entbindungskeller, ein Lazarett ...

War es für Sie eine Ehre, den Reichstag mit zu verteidigen?

Die politische Bedeutung des Reichstages war mir nicht bewusst, ich interessierte mich eher für den Bau, wollte ich doch damals noch Architekt werden. Außerdem habe ich streng genommen den Reichstag nicht mitverteidigt. Ich hatte vor allem Botengänge zu erledigen, zu den Soldaten im Keller des Innenministeriums, bei der Schweizer Botschaft etc. Ich musste Verpflegung rüberbringen und auch Panzerfäuste.

Es sollen um das Parlamentsgebäude noch heftige Kämpfe getobt haben. Hatten Sie Angst?

Zwei Mal Nein. Am Nachmittag des 30. April, als angeblich der Sturm auf den Reichstag stattgefunden haben soll, bin ich drei Mal hin und her, vom Parlament zur Schweizer Botschaft, habe also sechs Mal den Königsplatz überquert, ohne einen einzigen Russen gesehen zu haben.

Waren Sie Augenzeuge, als Michail Minin als erster die Rote Fahne auf den Reichstag pflanzte?

Nein, denn er ist am Abend des 30. April, im Schutze der Dunkelheit, mit seinen vier Genossen und einem Schutzkommando durch das große Westportal, das vermauert, aber durch eine Tür begehbar war, unbemerkt in den Reichstag eingedrungen. Dort war niemand von uns. Er hat dann oben auf der Germania-Gruppe die Fahne gehisst. Dafür ist er erst 50 Jahre später geehrt worden. Bekanntlich sind bis dahin nur die Beteiligten an der von Chaldej fotografierten, nachgestellten Szene bekannt gewesen. Damit will ich nichts gegen diese symbolträchtige Aufnahme sagen, die von großer moralischer Wirkung war.

Haben Sie später Minins Fahne noch gesehen?

Ich kann mich nicht daran erinnern, sie gesehen zu haben. Ich weiß nur noch, dass ich bei meiner Rückkehr vom Zoobunker am Nachmittag des 1. Mai sah, dass es in den oberen Nordwest-Etagen des Reichstages lichterloh brannte. Die dicken Qualmschwaden waren für mich das Zeichen, nicht mehr in den Reichstag zurückzugehen. Eine Rote Fahne wehte übrigens schon vorher auf dem Brandenburger Tor. Daraufhin hat der Kommandant des Reichstages ein Sturmgeschütz freigegeben, um sie herunter zu schießen. Der erste Schuss ging daneben, beim zweiten wurde nicht nur die Fahne getroffen, es wurden auch zwei Pferde der Quadriga beschädigt.

Wie ging es mit Ihnen weiter?

Ich bin dann zum Tiergarten, in Richtung Siegessäule gegangen und habe dort bis in die Abendstunden gewartet. Dann bin ich rüber ins Schloss Bellevue. Ich habe im Heizungskeller mit SS-Leuten und deren Frauen bis zum Morgen des 2. Mai ausgeharrt. An diesem Tag wurden wir von russischen Soldaten gefangen genommen. Die wollten weiter nichts von uns, fragten nur nach »Uhri, Uhri«. Die Mannschaften im Reichstag haben erst am 2. Mai kapituliert. Der Reichstag ist kampflos von den Russen besetzt worden.

Wie lange waren Sie in Kriegsgefangenschaft?

Ein halbes Jahr, in Fürstenwalde/Küstrin und dann in Posen. Ich bin schon Anfang August '45 entlassen worden. Zu Fuß habe ich mich zurück nach Berlin begeben.

Was haben Sie gedacht, als der Krieg zu Ende war?

Ich habe mich gefreut, ihn überlebt zu haben. Das war ein großes Geschenk. Es ist wichtig, dass die jungen Menschen heute und auch die nachfolgenden Generationen das begreifen. Man muss ihnen ein nüchternes Bild von der ganzen Erbärmlichkeit der deutschen Verteidigung, des Krieges überhaupt, und dahingegen von der auf die Rettung von Menschenleben bedachten Strategie der Heeresführung der Russen vermitteln. Ich ärgere mich immer, wenn im Fernsehen pulverknallende Klamotten gezeigt werden; es kann nicht blutig, grausam genug sein. Ich kann nur bestätigen: Die Rote Armee war darauf bedacht, Menschenleben zu schonen -- nicht nur beim Freund, sondern auch beim Feind. Deswegen sitze ich hier und kann Ihnen das berichten.

Eine DVD mit den Erinnerungen von Ernst Bittcher »Heroischer Kampf um den Reichstag?« (Hg. von Detlef W. Stein) erscheint dieser Tage im Handel.

* Aus: Neues Deutschland, 7. Mai 2010


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