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"Merkels Absage in Moskau ist eine Beleidigung"

Gespräch mit Gesine Lötzsch über das Aufwärmen alter Feinbilder, den neuen kalten Krieg gegen Russland und "Wahrhaftigkeit" beim Erinnern an die Befreiung Deutschlands vom Faschismus *


Dr. Gesine Lötzsch (Die Linke) ist Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Haushaltsauschusses des Deutschen Bundestages.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat angekündigt, am 9. Mai den Feiern in Moskau zum 70. Jahrestag des Sieges über den Faschismus fernzubleiben. Wie bewerten Sie diese Entscheidung?

Wir befinden uns wieder im kalten Krieg. Die Dramatik ist nicht zu unterschätzen. Die gegenwärtige ideologische und militärische Aufrüstung hätten viele Menschen 1989 nicht für möglich gehalten. Damals wurde euphorisch über eine Friedensdividende diskutiert. Jetzt geht es wieder um die Dividenden von Rüstungskonzernen. Alte Feindbilder werden aufgewärmt. Die Kanzlerin versucht zwar den Eindruck zu vermitteln, einen kalten Krieg noch abwenden zu wollen, doch der Eindruck täuscht. Die Absage der Kanzlerin ist nicht nur ein diplomatischer Affront, sondern eine Beleidigung der Menschen, die für die Befreiung unseres Landes auf grausame Weise ihr Leben gelassen haben. Dass die Kanzlerin am 10. Mai dann einen Kranz am Grabmal des unbekannten Soldaten ablegen wird, macht die ganze Sache nicht viel besser. So darf man nicht mit einem Volk umgehen, dass die Hauptlast des Zweiten Weltkrieges getragen hat.

»Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.« Das hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) in seiner berühmt gewordenen Rede am 8. Mai 1985 anlässlich des 40. Jahrestags der Befreiung konstatiert. Wird die amtierende Bundesregierung den Anforderungen an »unsere Wahrhaftigkeit« gerecht?

Richard Weizsäckers Rede zur Befreiung Deutschlands vom Faschismus wurde von vielen Politikerinnen und Politikern und den Medien anlässlich seines Todes am 31. Januar noch einmal als herausragend bewertet. Das sehe ich auch so, doch was folgte daraus? Wir haben immer wieder im Bundestag – bezugnehmend auf Weizsäckers Rede – gefordert, den 8. Mai zum gesetzlichen Gedenktag zu erklären. Unsere Anträge wurden immer mit fadenscheinigen Argumenten abgelehnt. Angeblich sei der 27. Januar, der Tag der Befreiung von Auschwitz, als Gedenktag ausreichend. Diese Antworten bekamen wir, egal welche Parteienkonstellation gerade regierte. Das zeigt doch, dass die politische Elite unseres Landes Weizsäckers Erbe ausgeschlagen hat.

Warum führt Die Linke dann nicht selbst eine große Gedenkveranstaltung anlässlich der Befreiung vom Faschismus durch und lädt dazu auch den russischen Präsidenten Wladimir Putin ein?

Mein Kollege Wolfgang Gehrcke hatte den Vorschlag gemacht, Wladimir Putin zum 8. Mai in den Bundestag einzuladen. Gregor Gysi hatte diese Idee unterstützt. Von den anderen Fraktionen kam leider nur Ablehnung.

Meine Fraktion wird am 7. Mai um 18 Uhr eine Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Befreiung im Bundestag durchführen. Gregor Gysi hatte dazu die Botschafter der USA, Russlands, Frankreichs und Großbritanniens eingeladen. Diese Idee geht auf unsere Veranstaltung zum 65. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus zurück. Damals hatte ich im Auftrag der Fraktion das Gedenken im Theater an der Parkaue in Lichtenberg organisiert, zu dem Vertreter der russischen, US-amerikanischen, französischen und britischen Botschaften kamen. Das war eine kleine Sensation. In einer Vorbereitungsrunde mit hochrangigen Botschaftsmitarbeitern sagte man mir, dass Die Linke die einzige deutsche Organisation sei, die überhaupt den Versuch unternommen habe, die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition an einen Tisch zu holen. Das wird uns in diesem Jahr leider nicht gelingen. Der US-Botschafter und der britische Botschafter haben sehr schnell abgesagt. Die Antworten des französischen und des russischen Botschafters stehen noch aus. Allein die Reaktionen auf unsere Einladungen zeigen, wie sich in den letzten fünf Jahren die Konflikte in der Welt zugespitzt haben.

Wer wird dann auf der Veranstaltung auftreten?

Neben Gregor Gysi und Oskar Lafontaine werden Manolis Glezos und der Autor Alexander Gelman zu den Gästen sprechen. Es wird sicherlich eine würdige Gedenkveranstaltung. So wird Manolis Glezos bestimmt erzählen, wie er als 16jähriger die Naziflagge von der Akropolis in Athen riss. Er wird etwas zu den berechtigten Reparationsforderungen der Griechen gegenüber Deutschland sagen. Viele Menschen wissen gar nicht, welches Leid die Wehrmacht über das griechische Volk gebracht hat. Ich war 2008 mit Jugendlichen auf eine Antifareise in Griechenland. Dort trafen wir Manolis Glezos. Ein junger Geschichtsstudent, der Teilnehmer unserer Reisegruppe war, war erschüttert, dass die deutsche Besetzung Griechenlands während des Zweiten Weltkrieges kein Thema an seiner Universität war. Das Unwissen über das deutsch-griechische Verhältnis in unserem Land ist erschreckend. Die Kanzlerin sollte gemeinsam mit Herrn Schäuble nach Griechenland fliegen und sich die griechische Leidensgeschichte von Manolis Glezos erzählen lassen. Vielleicht beendet dann die Bundesregierung das brutale Spardiktat gegen Griechenland.

Alexander Gelman kommt aus Moskau nach Berlin. Seine Theaterstücke wurden in der DDR viel gespielt. Ich erinnere an »Protokoll einer Sitzung« und »Zwei auf einer Bank«. Alexander Gelman wurde als Kind mit seiner Familie in ein Ghetto nach Berschad in der Ukraine deportiert. Nur sein Vater und er überlebten Ende 1944 den Todesmarsch.

Welche Botschaft soll von dieser Veranstaltung ausgehen?

Es sind zwei Botschaften: Wir brauchen den 8. Mai als gesetzlichen Gedenktag. Wir müssen wieder mehr über Krieg und Frieden nachdenken. Wieder ein Bewusstsein dafür schaffen, unter welchen Opfern unser Frieden errungen wurde und wer den Preis dafür gezahlt hat. Die zweite Botschaft bringt Ken Loach mit seinem Film »The Spirit of '45«, von dem wir einen Ausschnitt zeigen werden, auf den Punkt: In West- und Südeuropa wurde nach dem Zweiten Weltkrieg am Kapitalismus grundsätzlich gezweifelt. Die Menschen wollten eine sozial gerechte Gesellschaft. In Großbritannien ging Labour mit sozialistischen Losungen in den Wahlkampf und gewann gegen Churchill. Es kam zwar kein Sozialismus, aber dafür der Sozialstaat mit Wohnungsbauprogrammen, solidarischer Krankenversicherung und Bildung für fast alle. Der Geist von '45 war, so Ken Loach in seinem Film: Wir haben Hitler besiegt, wir können auch die Armut besiegen.

70 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus erleben wir in Europa die Zerstörung von Sozialstaaten. Es ist wichtig, heute daran zu erinnern, dass die sozialen Errungenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg sehr hart erkämpft wurden. Wir dürfen uns diese Errungenschaften nicht einfach wegnehmen lassen.

Die sächsische Landesregierung hat im vergangenen Jahr beschlossen, dass es künftig im Freistaat an jedem zweiten Sonntag im September einen »Sächsischen Gedenktag für die Opfer von Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung« geben soll. Die Forderung, den 8. Mai zum Gedenktag zu machen, findet in Dresden hingegen keinen Zuspruch. Sagt dies nicht viel über das dort vorherrschende Geschichtsbild aus?

Die Politik der sächsischen CDU ist einfach nur ein Skandal. In der ganzen Diskussion um Pegida kommt mir die Verantwortung der CDU in Sachsen viel zu kurz. Diese Partei regiert dort schon seit 25 Jahren. Sie ist besonders aktiv, wenn es um die Verfolgung von Antifaschisten geht. Den Aufstand der Anständigen hat es innerhalb der sächsischen CDU nie gegeben. Ich finde es gut, dass Die Linke im sächsischen Landtag auch einen Antrag eingebracht hat, den 8. Mai zum Gedenktag zu erklären. So wie es Die Linke schon in Mecklenburg-Vorpommern durchgesetzt hatte und wie es die SPD-Linke- Regierung in Brandenburg vorhat.

Sie machen sich nicht nur in der »großen Politik«, sondern vor allem auch im Alltag gegen Faschismus, Rassismus und Ausgrenzung stark. Auch in diesem Jahr hat der von Ihnen ins Leben gerufene Verein »Zivilcourage vereint« einen Wettbewerb ausgeschrieben. Junge Menschen können noch bis zum 8. Mai eigene Projekte zum Thema Antifaschismus bei Ihnen einreichen. In den vergangenen Jahren haben sich viele Jugendliche und junge Erwachsene an dem mittlerweile traditionellen Wettbewerb beteiligt. Trügt der Eindruck, dass die Teilnehmer bezüglich der Erinnerung an die Verbrechen des Faschismus deutlich sensibler sind als die Bundesregierung?

Schon öfter habe ich von Jugendlichen gehört, dass sie im Geschichtsunterricht bis zum Überdruss den Zweiten Weltkrieg behandeln. Wenn ich dann wissen will, was sie dort gelernt haben, dann erfahre ich meist nicht viel. Die Jugendlichen, die mit mir auf den Spuren der Partisanen in Griechenland, Italien, Spanien, Belgien, Frankreich, Österreich und Slowenien waren, wissen überdurchschnittlich viel über die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Aber sie sagten mir auch, dass der Spanische Bürgerkrieg kein Thema in der Schule war. Das hat mich doch sehr verwundert. Ich stelle immer wieder fest, dass viele Jugendliche besonders beeindruckt sind, wenn sie erfahren, mit welchem Widerstandswillen die Menschen in den von der Wehrmacht besetzten Ländern für ihre Freiheit gekämpft haben. Häufig waren die Partisanen nicht älter als die mitreisenden Jugendlichen.

Und wie sehr macht es Ihnen ganz persönlich Mut, dass es in Zeiten, in denen vielerorts Krieg geführt wird, neofaschistische Parteien erstarken und Rassismus und soziale Ausgrenzung zunehmen, gerade junge Menschen sind, die sich noch für Werte wie Frieden, Solidarität und Gleichheit stark machen?

Ich bin bei jeder Reise fasziniert von den Menschen, die für ihre und unsere Freiheit gekämpft haben und bereit waren, ihr Leben zu lassen. Die Jugendlichen lernen bei den Reisen nicht nur etwas über den antifaschistischen Widerstand, sondern auch etwas über Zivilcourage. Die brauchen wir heute, wenn wir uns für den Erhalt unserer eigenen Freiheit einsetzen.

In diesem Jahr führt die Reise nach Serbien. Welche Orte sollen dort aufgesucht werden, welche Begegnungen sind geplant?

Die Reiseplanung ist noch im vollen Gange. Wir kooperieren vor Ort mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem Goethe-Institut. Geplant ist derzeit eine Stadtführung durch Belgrad zum Thema Besatzung und antifaschistischer Widerstand sowie eine Besichtigung des jüdischen Museums und des Konzentrationslagers Staro Sajmiste. Wir überlegen derzeit noch, ob wir es zeitlich schaffen, auch Kroatien und Bosnien-Herzegowina mit in die Reiseplanung zu integrieren, um Jajce und Zagreb thematisch mit einzubinden. Ich bin mir sicher, auch diese Reise werden die Jugendlichen nicht vergessen.

Gab es bei den vergangenen Studienreisen ein Erlebnis, welches Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?

Im vergangenen Jahr waren wir mit Beate Klarsfeld in Paris und Oradour-sur-Glane. Die Jugendlichen waren beeindruckt vom Beates Mut. Sie hat ihr Leben riskiert, um Nazikriegsverbrecher ausfindig zu machen. Sie hatte mit ihrem Mann Serge den »Schlächter von Lyon«, Klaus Barbie, in Bolivien aufgespürt und dafür gesorgt, dass dieser Massenmörder vor ein französisches Gericht gestellt wurde. Beate Klarsfeld ist ein Beispiel für Zivilcourage. Sie wollte nicht das Staatsversagen der Bundesrepublik bei der Verfolgung von Nazikriegsverbrechen hinnehmen und wurde selbst aktiv. Dass Beate Klarsfeld für ihr antifaschistisches Engagement in der ganzen Welt ausgezeichnet wurde, aber bis heute noch nicht das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland erhalten hat, sagt sehr viel über den herrschenden Geist in unserem Land aus.

Wer genau kann sich an dem Wettbewerb beteiligen?

Bewerben können sich alle Jugendlichen zwischen 16 und 26 Jahren, die sich im Bereich Antifaschismus, Antirassismus, Antisemitismus und Toleranz engagieren. Ich finanziere in jedem Jahr die Reise von zwei junge Menschen aus Berlin-Lichtenberg. Doch auch andere Abgeordnete und Privatpersonen nehmen daran teil und freuen sich auf Bewerbungen aus ganz Deutschland. Uns liegt es am Herzen, sich einmal bei denjenigen zu bedanken, die tagtäglich im Hintergrund Projekte, Demonstrationen oder Zeitzeugengespräche organisieren. Ich finde es wichtig, diese Arbeiten zu würdigen und den jungen Menschen Mut zu machen.

Traditionell haben Sie außerdem maßgeblich das »Lesen gegen das Vergessen« organisiert, welches am 10. Mai in Berlin stattfinden wird. Wer wird in diesem Jahr daran teilnehmen?

Wie jedes Jahr habe ich im Auftrag meiner Fraktion vor allem Menschen eingeladen, die etwas mit Kunst und Kultur zu tun haben, die viele Bücher lesen und auch schreiben. Es sind auch wieder Schülerinnen und Schüler der Gustav-Heinemann-Schule dabei. Ich habe auch eine Zusage von Andreas Nachama und Beate Klarsfeld. Das Lesen findet wieder am 10. Mai auf dem Bebelplatz in Berlin statt. Um 15 Uhr geht es los. Wir freuen uns auf viele Zuhörer.

Anmeldungen für die Linke-Veranstaltung zum 70. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Faschismus am 7. Mai 2015, 18 Uhr, im Paul-Löbe-Haus, bitte per Mail an:
veranstaltung@linksfraktion.de
Bitte Vornamen, Nachnamen und Geburtsdatum angeben. Diese Angaben sind für die Anmeldung im Bundestag erforderlich.


Interview: Markus Bernhardt

* Aus: junge Welt, Samstag, 14. März 2015


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