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Mehr Mut zur Verantwortung

Von Wilfried Schreiber *

Mehr außenpolitische Verantwortung muss ja von vornherein nichts Schlechtes sein. Die Frage ist nur, wofür und womit Deutschland mehr Verantwortung wahrnehmen soll. Jedenfalls hat die Große Koalition von CDU/CSU und SPD die Frage von der Verantwortung zur zentralen Losung ihrer Außenpolitik gemacht. Sie hat sich dabei wesentlich von einer Studie leiten lassen, die die beiden großen deutschen Think Tanks – die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und German Marshall Fund (GMF) – kurz nach der Bundestagswahl vom September 2013 gemeinsam vorgelegt hatten. Die Studie trägt den Titel „Neue Macht – Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt des Umbruchs“. Mit der Einbeziehung des GMF war von vornherein sichergestellt, dass US-amerikanisches Denken hinreichend zum Tragen kam. Dessen sollte man sich stets bewusst sein, wenn man Koalitionsvertrag und praktische Politik dieser Regierung ins Auge fasst.

In den Tagen nach der Münchener Sicherheitskonferenz Ende Januar/Anfang Februar 2014 gab es viel mediale Erregung über eine „neue“ deutsche Außen und Sicherheitspolitik, die angeblich mit den Reden von Außenminister Steinmeier, Verteidigungsministerin von der Leyen und Bundespräsident Gauck auf dieser Konferenz verkündet worden sei und auf eine stärkere Akzentuierung des militärischen Faktors in der Außenpolitik hinauslaufe. Die medialen Wortführer waren meist bekannte Bellizisten, die einen weiteren Rechtsruck in der Regierungspolitik und einen Schwenk zu mehr Interventionseinsätzen der Bundeswehr herbei zu jubeln versuchten. Aber auch die kritischen Stimmen konzentrierten sich lediglich auf eine solche Interpretation, wonach mit den drei Reden die endgültige Wende zu einer militarisierten Außenpolitik vollzogen sei.

Tatsächlich bewegen sich aber alle drei Reden strikt im Rahmen der Koalitionsvereinbarung. Wenn schon ein außenpolitischer Kurswechsel vollzogen wurde, dann wurde der mit der Koalitionsvereinbarung selbst eingeleitet und bezieht sich darauf, dass die Bundesregierung insgesamt außenpolitisch aktiver und deutlicher positioniert auftreten will. Die Diskussion in der Öffentlichkeit – sowohl im rechten wie im linken Spektrum – beschränkte sich aber zunächst ausschließlich auf die militärische Seite der „neuen“ deutschen Außenpolitik.

Dabei scheint ganz entgangen zu sein, dass sich die deutsche Außenpolitik mit der Großen Koalition in einem weit komplexeren Sinne neu justiert hat. Deutschland will außenpolitisch insgesamt aktiver werden und dabei eine Führungsrolle in Europa übernehmen. Rolf Mützenich, außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, spricht unter Berufung auf seinen Außenminister von einer „europäischen Kultur der Verantwortung“ in der Außenpolitik, bei der Deutschland ein „Impulsgeber“ sein solle. Insbesondere verweist er auf ein größeres Engagement „bei der Unterstützung proeuropäischer Kräfte in Osteuropa, bei der Begleitung gesellschaftlicher Umbrüche in der arabisch-muslimischen Welt und bei der Gestaltung der transatlantischen Beziehungen. [...] Mehr Verantwortung zu übernehmen, bedeutet eben nicht zwangsläufig mehr Truppen in die Welt zu senden. Es gibt viele Wege, Einfluss zu nehmen.“

Lars Brozus von der Stiftung Wissenschaft und Politik, einer der maßgeblichen Autoren der bereits genannten Studie, assistiert Mützenich, dass „die Debatte über deutsches Engagement nicht aufs Militärische beschränkt bleiben“ darf. „Stattdessen geht es um die Unterstützung gewaltloser Demokratiebewegungen, die sich die dauerhafte Transformation staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen zum Ziel gesetzt haben. Dafür brauchen sie Geld, Schutz und Parteinahme auf höchster Ebene.“ Klarer kann man die Aufforderung zu einer nichtmilitärischen Außenpolitik des Interventionismus – vor allem gegenüber den Russland nahestehenden Ländern – nicht formulieren. Die USA haben in der Ukraine eine solche Politik seit über zehn Jahren mehr oder weniger offen praktiziert und dafür nach eigenen Angaben rund fünf Milliarden (!) Dollar eingesetzt. Dabei hat sich gezeigt, wie schmal die Grenze zwischen gewaltfreier und militanter „Demokratiebewegung“ ist.

Außenpolitische Opposition – sowohl innerhalb als auch außerhalb des Bundestages – sollte sich also nicht auf die Ablehnung von Militäreinsätzen der Bundeswehr reduzieren – so wichtig die Auseinandersetzung damit auch sein mag. Die von Brozus favorisierten „innovativen Formen außenpolitischen Engagements“ sind nicht minder fragwürdig und destabilisierend als die meisten Militäreinsätze. Sie sind oft sogar subtiler, weniger deutlich erkennbar und politisch noch brisanter. Die Stellung der deutschen Regierung zum Umsturz in der Ukraine ist eine beredtes Zeugnis dafür. Bereits im Oktober des vergangenen Jahres umarmte der damalige deutsche Außenminister Westerwelle auf dem Kiewer Maidan die Aufständischen gegen die gewählte ukrainische Regierung. Unmittelbar nach dem Putsch deklarierte der heutige Russlandbeauftragte Erler die Installierung der neuen Regierung als Regimewechsel von unten. Und schon Ende März sorgte Bundeskanzlerin Merkel mit dem Empfang der Putschregierung in Berlin für deren vorschnelle staatliche Anerkennung, obwohl all das von vornherein zur weiteren Polarisierung der innerukrainischen Verhältnisse und zur Verschärfung der Differenzen mit Russland beitragen musste. Das gegenwärtige diplomatische Engagement Steinmeiers und Merkels zur Schadensbegrenzung und Eindämmung des Konflikts ist inhärenter Bestandteil dieser Politik der „dauerhaften Transformation“. Aktive Förderung des Regime-Change in den Ländern der östlichen Partnerschaft und aktives Konfliktmanagement zur Vermeidung einer militärischen Eskalation sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Die „neue“ deutsche Außenpolitik ist in sich widersprüchlich. Einerseits will sie zweifellos innerhalb Europas einen militärischen Konflikt vermeiden. Andererseits hat sie durch die Unterstützung der von den USA und der EU betriebenen Politik eines Regime-Change an der sensiblen Nahtstelle zwischen der NATO und Russland objektiv eine destabilisierende Wirkung auf das geostrategische Kräfteverhältnis und die bestehende Friedensordnung in Europa.

An dieser Stelle soll kein Zweifel daran gelassen werden soll, dass die Ursachen für die Krise in der und um die Ukraine in erster Linie in den inneren Widersprüchen der Ukraine selbst zu suchen sind. Angesichts der anhaltenden und eher noch zunehmenden Brisanz der inneren Krise der Ukraine erscheint jedoch die völkerrechtlich zumindest fragwürdige Annexion der Krim durch Russland eher eine Randerscheinung und ein Scheingefecht der internationalen politischen Auseinandersetzung zu sein.

Gewiss gehört die deutsche Bundesregierung nicht zu den Zuspitzern dieser Krise und auch nicht zu den Einpeitschern eines Konfrontationskurses gegen Russland. Aber sie hat als Regierung des stärksten und einflussreichsten europäischen Landes zu dieser Krisensituation beigetragen. Sie hat den verhängnisvollen Kurs der EU-Kommission, von der Ukraine die Alternative abzufordern, sich entweder für das Assoziierungsabkommen mit der EU oder für die Zollunion mit Russland zu entscheiden, mit getragen. Damit hat sie de facto die besonders von den USA forcierte Politik der Eindämmung, Zurückdrängung und Schwächung Russlands unterstützt. Eine solche Politik kann aber nicht im Interesse Deutschlands und der europäischen Sicherheit liegen.

Eine Außenpolitik, die mit missionarischem Sendungsbewusstsein und Weltbeglückungsanspruch die Werte der westlichen Demokratie weltweit durchsetzen will, ist eine expansionistische Außenpolitik. Der Wertebegriff steht hier für das ideelle Gesamtinteresse des transatlantischen Kapitalismus, seine Lebensweise zur Lebensweise der ganzen Welt zu machen. Eine solche Außenpolitik widerspricht schlicht der gewachsenen Verantwortung Deutschlands sowie den deutschen und europäischen Interessen.

Deutsche Verantwortung muss sich gegenwärtig vor allem darin beweisen, einen friedlichen und stabilen Ausweg aus der Krise in der und um die Ukraine zu ermöglichen. Das verlangt weniger Solidarisierung mit der provisorischen Regierung in Kiew als vielmehr politischen Druck auf diese Regierung, damit alle Seiten und gesellschaftlichen Akteure in der Ukraine an einem Runden Tisch zusammenfinden. Das Ziel dieses Prozesses kann nur eine föderale Ukraine sein, die keinem Block angehört und sich als Brücke zwischen der EU und Russland versteht. Deutsche Verantwortung besteht aber auch darin, die mit der Krise angeheizte Konfrontation zu Russland wieder abzubauen und auf den bewährten Weg der partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland zurückzufinden sowie auch innerhalb von NATO und EU in diesem Sinne zu wirken. Das schließt einen Interessenkonflikt mit den USA nicht aus und stellt die traditionelle Nibelungentreue der deutschen Außenpolitik zu den USA auf eine harte Probe.

Im Interesse der europäischen Sicherheit als einer kooperativen, die Konfrontation überwindenden Sicherheit wird dieser Konflikt unerlässlich sein – es sei denn um den Preis des Wiederauflebens von Wirtschaftskrieg, Rüstungswettlauf und neuen sozialen Belastungen für breite Bevölkerungskreise. Es ist also viel Mut gefragt – für eine neue deutsche Außenpolitik der Verantwortung.

* Aus: Das Blättchen, 17. Jahrgang | Nummer 11 | 26. Mai 2014; http://das-blaettchen.de


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