Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Nach außen gehen

Neue Abschreckungspolitik gegenüber Rußland: Mit dem Projekt "Review 2014" bewirbt das Berliner Außenministerium ein aggressiveres Auftreten Deutschlands in der Welt

Von Jörg Kronauer *

Müßten die NATO-Staaten sich nicht doch mit eigenen Truppen am Syrien-Krieg beteiligen? Wer gehofft hat, diese Debatte sei in Deutschland vorbei, hat sich gewaltig getäuscht. Am vergangenen Mittwoch hatte das Hamburger GIGA (German Institute of Global and Area Studies) in Kooperation mit dem Auswärtigen Amt zur Diskussionsveranstaltung über die »Nicht-Intervention« in Syrien eingeladen. »Der Konflikt scheint außer Kontrolle«, hieß es in der Ankündigung: »Hat der Westen zu lange weggeschaut?« Es diskutierten der ehemalige ARD-Korrespondent Jörg Armbruster und Ministerialdirektor Clemens von Goetze, der im Auswärtigen Amt die Politische Abteilung 3 leitet und damit zuständig für die deutsche Nah- und Mittelost-Politik ist. Am morgigen Dienstag geht es »in Kooperation mit den Osnabrücker Friedensgesprächen und der Deutschen Stiftung Friedensforschung« um »Deutschland und die Schutzverantwortung«. Patricia Flor, Leiterin der Abteilung Vereinte Nationen und Globale Fragen im Auswärtigen Amt, und Arvid Bell von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung fragen »Sind wir bereit zu mehr Engagement?«

Die Events sind Teil einer Serie von Veranstaltungen im Rahmen des Projekts »Review 2014«, das das Auswärtige Amt am 20. Mai offiziell gestartet hat. »Review 2014« läßt sich nicht aus dem Kontext der aktuellen deutschen Weltpolitik-PR lösen. Seit dem vergangenen Herbst dringt das außenpolitische Establishment mit Macht auf aggressivere deutsche Außenaktivitäten. Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und der German Marshall Fund haben zu dem Thema unter dem Titel »Neue Macht. Neue Verantwortung« ein Strategiepapier publiziert, dessen Inhalt von rund 50 »Multiplikatoren« aus Ministerien, Bundestag, Thinktanks, Hochschulen und Medien erarbeitet wurde und seither immer wieder den Weg in die Öffentlichkeit findet (jW berichtete). Der Bundespräsident sekundiert mit der gebetsmühlenhaft wiederholten Forderung, im Ausland künftig energischer aktiv zu werden und dazu auch mehr Militär zu nutzen. Das Auswärtige Amt schaltet sich selbst mit »Review 2014« ein. Das Projekt soll mit öffentlichen Veranstaltungen – zuletzt etwa in einem ökumenischen Studentenwohnheim in München –, mit Videos, Blogbeiträgen und in sozialen Netzwerken die öffentliche Debatte über außenpolitische Themen forcieren. »Was, wenn überhaupt, ist falsch an der deutschen Außenpolitik?« fragt das Steinmeier-Ministerium: »Was müßte geändert werden?«

Unter den »Review 2014«-Blogbeiträgen fallen einige besonders scharfe Stellungnahmen stark ins Auge. Die NATO müsse »eine neue Abschreckungspolitik gegenüber Rußland einleiten«, verlangt Joachim Krause, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität zu Kiel. Das sei »machbar, denn die militärischen Kapazitäten Rußlands sind begrenzt«. »Mit einem feindlich gesinnten Rußland zu leben ist keine Katastrophe«, urteilt Krause: Sofern es gelinge, Moskaus »militärische Ambitionen zu zügeln«, könne »dieser Konflikt kontrolliert gehalten und auch kontrolliert beendet werden«.

Wie üblich gibt auch Michael Wolffsohn, emeritierter Professor an der Münchener Universität der Bundeswehr, den harten Hund. Wolffsohn diagnostiziert eine »fehlende Deckungsgleichheit von politischer Geographie und Demographie« in diversen Ländern, die »Vielvölkerstaaten wie Rußland und China vor Zerreißproben stellen« werde: »Einen Vorgeschmack bieten Tschetschenien, Xinjiang, Tibet.« Auch »noch andere nachsowjetische sowie viele künstliche und daher nicht stabilisierbare Staaten der nachkolonialen Welt« könnten »auseinanderbrechen« – etwa Nigeria oder Mali, Libyen oder Iran. Wolffsohn vergißt nicht zu erwähnen, worin er die Aufgabe Berlins sieht: »Das Sprengen solcher Kunststaaten unblutig zu gestalten, ist die Aufgabe künftiger Politik.« Es geht dabei, wie erwähnt, auch um Rußland und China.

Längst nicht alle Texte, die für »Review 2014« geschrieben und veröffentlicht wurden und werden, folgen einer derart aggressiven Linie. Das Projekt gibt sich betont offen. »Diskutieren Sie mit und mischen Sie sich ein«, hieß es in einem der ersten »Review 2014«-Texte: »Die Bereitschaft mitzumachen ist ja noch keine Zustimmung. Ganz im Gegenteil: Wir freuen uns auf Ihre Kritik!« Das Bemühen, Kritiker in Diskussionen zu verwickeln, um sie perspektivisch zumindest diskursiv einzubinden, ist deutlich erkennbar. Im Mai hat eine Umfrage der Hamburger Körber-Stiftung gezeigt, daß nur 37 Prozent der deutschen Bevölkerung der Forderung des Polit-Establishments zustimmen, Berlin solle sich weltpolitisch »stärker engagieren«, während 60 Prozent das ablehnen. Vor 20 Jahren hatte eine Umfrage noch ein diametral entgegengesetztes Bild ergeben; die Entwicklung läuft also nicht so, wie das Establishment es wünscht. Mehr militärische Einsätze der Bundeswehr befürworten sogar nur 13 Prozent. Soll die deutsche Weltpolitik aggressiver werden und sich dabei nicht vollkommen von der Mehrheitsmeinung abkoppeln, dann muß die Stimmung sich ändern; ohne Kritiker zu ködern und sie schrittweise einzubinden, geht das nicht.

»Die deutsche Politik« müsse ihre Schritte »zu Hause vermitteln können, den eigenen Bürgern«, stellt denn auch Constanze Stelzenmüller in einem Blogbeitrag für »Review 2014« fest. Stelzenmüller arbeitet derzeit beim German Marshall Fund und hat für diesen das erwähnte Kooperationsprojekt mit der SWP geleitet, aus dem das Papier »Neue Macht. Neue Verantwortung« entstanden ist. Zwar dürfe die Politik, zwar dürften »die gewählten Vertreter« nicht »den Bürgern nach dem Mund reden« – täten sie das, dann müßten sie in der Tat auf künftige Bundeswehreinsätze verzichten –, aber sie müßten in Rechnung stellen, daß sie »auf den Rückhalt in der Gesellschaft angewiesen« seien. Was also tun? Nach außen gehen, debattieren, für die eigene aggressive Weltpolitik werben – genau das eben, was das Auswärtige Amt mit seinem Projekt »Review 2014« versucht.

* Aus: junge Welt, Montag 14. Juli 2014


EU-Strategieprozeß: Stärkung der außenpolitischen Fähigkeiten

Von Jörg Kronauer **

Der Forderungskatalog, den Jan Techau, Direktor des Thinktanks Carnegie Europe, auf der »Review 2014«-Website zur Debatte stellt, hat es in sich. Vorab: Techau fordert etwa auch eine »Aufwertung der deutschen auswärtigen Kulturpolitik«. Es geht ihm also um eine breit angelegte Außenpolitikoffensive, nicht nur um die Stärkung »harter« Sicherheits- und Militärpolitik.

Im strategisch-militärpolitischen Bereich aber prescht Techau energisch voran. Eine »Ausweitung der zivilen und militärischen GSVP-Missionen« schwebt ihm vor, zudem die Vorlage »eines deutschen Konzeptpapiers zur internen Flexibilisierung der NATO«, das die »Ermöglichung von institutionell abgesicherten ›Koalitionen der Willigen‹ innerhalb der Allianz« anvisiert. Unumgänglich ist für ihn in diesem Zusammenhang eine »entschlossene Reformierung des sogenannten deutschen Parlamentsvorbehalts hin zu einem Rückrufrecht des Bundestages«.

Darüber hinaus wünscht Techau nicht nur »erhebliche Verbesserungen bei der technischen Ausstattung der deutschen Geheimdienste«. Er will auch Ressourcen bündeln und plädiert deshalb für die »Eingliederung« des Entwicklungsministeriums »in das Auswärtige Amt«. Schlagkraft herstellen soll auch die »Schaffung eines integrierten außen- und sicherheitspolitischen deutschen Planungs- und Analyseinstrumentes« im Berliner Kanzleramt – eines »Nationalen Sicherheitsbüros«, »analog zum National Security Council in den USA«. Die Bundesakademie für Sicherheitspolitik hält Techau für viel zu behäbig. Sie solle in eine »Strategieschule von Weltrang« umgestaltet und dem Nationalen Sicherheitsbüro unterstellt werden; für »›politische‹ Bundesbeamte und Offiziere mit Laufbahnziel Generalstabsoffizier« solle es eine »laufbahnrechtliche Verbindlichkeit zur Ausbildung« an dieser »Strategieschule« geben.

Die EU will Techau ebenfalls für die neue deutsche Weltpolitik in Form bringen. Er wünscht eine »erhebliche Stärkung der europäischen außenpolitischen Fähigkeiten«; dazu müsse man eine »grundlegende Reform des Europäischen Auswärtigen Diensts« vornehmen. Zudem spricht Techau sich für einen »ambitioniert geführten EU-Strategieprozeß« aus, um der Außen- und Militärpolitik der EU schärfere Konturen zu verleihen. Ohnehin strebt er eine weitere Straffung der Kräfte an und fordert die »Präsentation eines Konzepts für die Weiterentwicklung der EU zu einer politischen Union«. Wer in einer solchen politischen Union das Sagen hätte, kann man sich unschwer vorstellen; die deutsche »Führungsrolle«, wie man im außenpolitischen Establishment gern sagt, ist in der EU ja mittlerweile unbestritten.

Techaus Vorschläge bündeln Forderungen, die in der Vergangenheit immer wieder geäußert worden sind – in Debatten an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, von Militärs, in Thinktanks, von Bundestagsabgeordneten. Sie stoßen durchaus auf Interesse. Zuletzt hat etwa die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung sie in dem »Reader« zu ihrer diesjährigen außenpolitischen Jahrestagung zur Diskussion gestellt.

** Aus: junge Welt, Montag 14. Juli 2014

Hintergrund: »Friedensmacht« Deutschland

Manche Mythen sterben nicht. Etwa derjenige, daß die Bundesrepublik sich in der Welt stets allzu bescheiden gebe. Deutschland dürfe sich nicht länger zurückhalten, es müsse nun endlich mehr »Führung« übernehmen, fordert einer der wichtigsten deutschen Thinktanks, die SWP. Er finde es nicht gut, »daß Deutschland sich klein macht«, jammert der Bundespräsident. John Kornblum, US-Botschafter in der Bundesrepublik von 1997 bis 2001, hat für solches Genöle nur Hohn und Spott. Deutschland sei »nie der politische Zwerg gewesen, als der es hingestellt« worden sei, schrieb Kornblum Ende Mai in einem Kommentar für den Thinktank Carnegie Europe. »In den ersten fünf Jahrzehnten nach dem Krieg« seien bundesdeutsche Politiker durchaus »geschickt darin gewesen, den Westen dazu zu bringen, ihre nationalen Ziele zu verfolgen«. Zuweilen habe Bonn nachgeholfen, indem es etwas mehr als nötig gezahlt habe; »langsam und ohne großes Getrommel« sei es ihm damit gelungen, »Europa nach seinem Bild zu formen«. Wenn manche Deutschlands Rolle falsch verstünden, dann liege das auch daran, daß Berlin sehr erfolgreich darin gewesen sei, »seine Ambitionen in ein Gewand der Selbstlosigkeit zu hüllen«. Die öffentliche Führung hätten deutsche Politiker meist anderen überlassen. Tatsächlich aber seien sie so zielstrebig in der Verfolgung ihrer Interessen gewesen wie der französische Präsident Charles de Gaulle.

Auch wenn Deutschland erst im Verlauf der Euro-Krise ab 2010 »aus seinem Kokon geschlüpft« sei und die Vormacht über Europa offen beansprucht habe, so sei doch »die ›Germanisierung‹ Europas« schon »eine ganze Weile im Gange gewesen«, stellt Kornblum fest. 2010 sei dann schlagartig klargeworden, »daß der Euro vorrangig konzipiert worden« sei, »um deutsche Interessen zu fördern«. Nicht nur das: Auch sonst gebe es ständig deutsche Alleingänge, zum Beispiel bei der »Energiewende«, fährt der US-Diplomat fort, der es sich nicht verkneifen kann, auch zu der verlogenen PR-Behauptung Stellung zu nehmen, Deutschland sei eine »Friedensmacht«. »Pläne für die NATO-Erweiterung« seien »im Bonner Verteidigungsministerium und nicht in Washington ausgebrütet worden«, schreibt Kornblum. Und irgendwie müsse man doch auch mal erwähnen, daß die Bundesrepublik mit ihren ach so »friedlichen Absichten« immerhin zum »drittgrößten Waffenexporteur der Welt« geworden sei. (jk)




Zurück zur Seite "Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik"

Zur Seite "Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik" (Beiträge vor 2014)

Zur EU-Europa-Seite

Zur EU-Europa-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage