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Es war mehr als eine Lüge

Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999 überlagert die außenpolitische Bilanz von Rot-Grün

Von Lutz Herden*

Bisher steht die Außenpolitik im Schatten anderer Wahlthemen. Vermutlich wird sich daran bis zum Wahltermin nur wenig ändern. Aber allein die Frage, welche Irak-Politik eine CDU/CSU-geführte Bundesregierung verfolgen wird, ist von mehr als nur theoretischem Interesse. Sie berührt eine tiefe Zäsur, die sich unter Rot-Grün im außenpolitischen Denken seit 1998 vollzogen hat: Krieg ist als Mittel der Politik wieder grundsätzlich anerkannt.

Ich verstehe meine Fraktion nicht, die für mehr Frieden in der Welt angetreten ist, die eine Friedenspolitik machen will - sie setzt sich hier hin und ist damit einverstanden, daß - wenn von deutschem Boden nach 54 Jahren wieder Krieg ausgeht - darüber hier nicht einmal geredet wird. Von deutschem Boden sind die Tornados gestartet, die jetzt gerade Belgrad bombardieren. Ich halte das für völlig unwürdig für dieses Haus ..." (zit. aus: Stenographischer Dienst des Deutschen Bundestags, 25.3. 1999)

Mit diesem Statement eröffnet der grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele am 25. März 1999 gegen 10.00 Uhr die für diesen Tag anberaumte Sitzung des Parlaments, um eine Änderung der Tagesordnung zu erzwingen. Er will nicht über das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz reden, sondern darüber, was sich seit wenigen Stunden an der deutschen Nachkriegs-Identität geändert hat. In der Nacht vom 24. zum 25. März 1999 nämlich haben Luftangriffe der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien begonnen: 80 Maschinen, darunter vier deutsche Tornados, sind aufgestiegen, um Ziele in Serbien, im Kosovo und in Montenegro zu bombardieren. In der Adria stationierte Kampfschiffe der NATO feuern zudem 100 Marschflugkörper auf serbisches Territorium. Was man zum Zeitpunkt von Ströbeles Intervention im Parlament noch nicht weiß - schon in dieser ersten Nacht des unerklärten Luftkrieges der westlichen Allianz gegen einen souveränen Staat in Südosteuropa sind zehn Todesopfer, serbische Soldaten und serbische Zivilisten, zu beklagen.

Schnee von gestern

Was da am 24. März 1999 geschieht, kann in einem Satz resümiert werden: Erstmals seit 1945 führen die Deutschen wieder Krieg. Sie tun das - wie die anderen NATO-Partner auch - außerhalb jeglicher Legitimation durch das Völkerrecht, sie intervenieren ohne UN-Mandat und ohne offizielle Kriegserklärung. Die Zäsur für die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland kann kaum größer sein und lässt erkennen, wie die Rückkehr zu der seit dem 3. Oktober 1990 oft beschworenen "Normalität eines souveränen deutschen Staates" offenbar gemeint ist und wie schnell die gleichermaßen oft beschworene Kultur der Zurückhaltung obsolet sein kann. Durchgesetzt wird dieser Bruch durch die regierende Sozialdemokratie des Kanzlers Schröder und die Bündnisgrünen, die erklärte Friedenspartei, die sich in ihrem Friedenswillen nur ungern von anderen übertreffen lässt und sich so viel auf ihren pazifistischen Gründungsimpuls zugute hält, den sie nun gegen einen Gewaltimpuls ausgetauscht hat.

Ob eine von der CDU geführte Bundesregierung ähnlich gehandelt hätte, ist weniger die Frage als vielmehr, ob sie so hätte handeln können. Nicht nur die grüne "Friedenspartei", vermutlich auch die SPD - von den Gewerkschaften, Kirchen und der PDS einmal abgesehen - hätten sich als Oppositionsparteien gegen den Krieg gestellt und den Präzedenzfall bekämpft, der nun an Jugoslawiens Himmel geschaffen wird.

Er besteht in der militärischen Selbstermächtigung der NATO, die außerhalb ihres Bündnisgebietes und außerhalb ihres Rechts auf Selbstverteidigung für jene vollendeten Tatsachen sorgt, wie sie - genau einen Monat nach Beginn der Luftschläge - am 24. April 1999 auf dem NATO-Gipfel in Washington durch die neue NATO-Doktrin bestätigt werden sollen. Der Nordatlantik-Pakt will sich künftig das Recht auf "Out-of-Area-Operationen" nehmen und damit das Aggressionsverbot der UN-Charta (im Übrigen auch den Nordatlantikvertrag) unterlaufen. In Deutschland - und das ist gewissermaßen die nationale Spielart des Präzedenzfalls - wird die rot-grüne Regierung zum Protagonisten einer Politik, die ausgerechnet in der Frage von Krieg und Frieden die rechtlichen Bindungen von staatlicher Gewalt aufhebt und mit dem Völkerrechtsvorbehalt des Grundgesetzes (Artikel 25) bricht. Die Begründung dafür lautet im Klartext (auch wenn der natürlich im Frühjahr 1999 von Schröder, Fischer & Scharping so nicht gesprochen wird): Der in der Krisenprovinz Kosovo herrschende humanitäre Notstand rechtfertigt den außergesetzlichen Notstand im Handeln der deutschen Exekutive. Ein Argumentationsraster, dem am 13. Mai 1999 auf einem grünen Sonderparteitag in Bielefeld bei der Abstimmung über einen Antrag zur Legitimation des Fischer-Kurses eine Mehrheit von 444 : 318 folgt. Darf man, ja muss man das Völkerrecht nicht vorübergehend wie einen "toten Hund" behandeln, wenn es eine "humanitäre Katastrophe" wie im Kosovo zu verhindern gilt? - wird in Bielefeld von vielen Delegierten sinngemäß gefragt.

Muss man, ja darf man die Moral zum Richter über das Recht erheben? - kann darauf mit einer Gegenfrage geantwortet werden. Oder will man mit dem Völkerrecht nur dann etwas zu tun haben, wenn es den eigenen (nationalen) Interessen dient?

Im Übrigen weiß man heute, dass sich die ethischen Motive der "humanitären Interventionisten" seinerzeit auf manipulierte, inszenierte und verfälschte Tatsachen (s. Scharpings "Hufeisenplan") stützten. Eine Rekonstruktion der Ereignisse zwischen März und Juli 1999 zeigt, dass bei allen - durch die Politik Serbiens mit verschuldeten - Spannungen im Kosovo, die Vertreibungsexzesse (gegen die Kosovo-Albaner im April 1999, gegen die Kosovo-Serben und -Roma im Juli 1999) vorwiegend durch den Luftkrieg der NATO provoziert und von der offenbar zynisch einkalkuliert waren. Und überhaupt, wann eigentlich gab es Kriege, die nicht im Namen moralischer Imperative und eines idealistisch verbrämten Wertekanons geführt wurden? Johnson und Nixon verbrannten Vietnam mit Napalm, um das Land "als Teil der freien Welt" vor dem Kommunismus zu retten. Die Sowjets intervenierten in Afghanistan, um dessen Unabhängigkeit "vor dem Zugriff des US-Imperialismus" zu schützen.

"Bombt Gysi!"

Mit dem Kosovo-Krieg vollzieht sich im Frühjahr 1999 freilich nicht nur ein Paradigmenwechsel in der deutschen Außenpolitik. Es wird zugleich deutlich, dass die demokratischen Institutionen nicht auf der Höhe der Ereignisse und außerstande sind oder sein wollen, ihrem Verfassungsauftrag gerecht zu werden. Über Nacht führt Deutschland wieder Krieg, der quasi durch die Hintertür Einlass begehrt, und Verfassungsorgane wie der Bundestag (in seiner erschlagenden Mehrheit) und das Bundesverfassungsgericht tun nichts, um wenigstens eine öffentliche Debatte darüber anzustoßen, geschweige denn der Regierung in die Parade zu fahren. Stattdessen tolerieren und billigen sie einen gleich dreifachen Rechtsbruch: Neben der bereits beschriebenen Verletzung des Völkerrechts und des Grundgesetzes wird mit dem Jugoslawien-Krieg schließlich auch der Nordatlantikvertrag verletzt, der in Artikel 1 alle Mitgliedsstaaten der NATO ausdrücklich verpflichtet, "in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen zu handeln" und "jeden internationalen Streitfall", an dem sie beteiligt sind, "auf friedlichem Wege zu regeln".

Ausgerechnet die Bündnisgrünen, die sich stets als Galionsfiguren des Rechtsstaates hofiert haben, behandeln dessen Rechtsgut nun wie Geschichtsschrott, den man bedauerlicherweise entsorgen muss. Man hält sich dabei für realistisch, regierungsfähig und vor allem modern, und steht trotz aller rabulistischen Selbstbeweihräucherung mit einem Bein wieder im 19. Jahrhundert. Die als Gesinnungsethiker auftretenden Überzeugungstäter erweisen sich bei Lichte besehen als überzeugte Täter, die Gesinnungen wie Monstranzen vor sich her, aber nicht in sich tragen. Die größte politische Lebenslüge dieses Frühjahrs, die von Schröder, Fischer & Scharping verbreitet wird, ist die Behauptung, es gäbe zur Bombardierung Jugoslawiens und der deutschen Beteiligung daran keine Alternative.

"Ich schäme mich für mein Land, das jetzt wieder im Kosovo Krieg führt und das wieder Bomben auf Belgrad wirft", hatte Ströbele am 25. März 1999 seine kurze Erklärung im Bundestag beendet und dank des "wieder" angedeutet, dass Deutschland nach einer ihm von historischer Schuld auferlegten, mehr als 50-jährigen Pause wieder die Fesseln zivilisatorischen Handelns abstreift und bereit ist, das "Naheliegende" zu tun. Ein gnädiges Gedächtnis verhindert heute möglicherweise die Erinnerung daran, wie im Frühjahr 1999 diese Rückkehr zur "Normalität" vom Terror der Hysterie orchestriert ist. Nach der Belgrad-Reise von Gregor Gysi und seinem Gespräch mit Slobodan Milos?evic´ am 14. April fehlt nicht mehr viel, um das "Bombt Milos?evic´!", mit dem Bild den "Killer-Serben" täglich einheizt, zeitweise durch ein "Bombt Gysi!" zu ersetzen.

Die politische Kultur nimmt nicht nur deshalb Schaden, weil die Verfassungsorgane die Verfassung nicht schützen wollen, auch die öffentliche Debatte über den Krieg verliert an Contenance und Toleranz. Man denke nur an den damaligen Verteidigungsminister Scharping, der den Primat der Politik durch den Primat der Agitation zu ersetzen weiß - oder an den unseligen Auschwitz-Vergleich von Außenminister Fischer.

Rückblickend bemerkte die Publizistin Bettina Gaus in einem Interview vom September 2002: "Die Grünen haben es geschafft, Kritik an bestimmten militaristischen Entwicklungen der Außenpolitik in einen realitätsfernen ideologischen Rahmen zu verbannen und die Leute als ewiggestrig zu diskreditieren... Rot-Grün ist dafür verantwortlich, dass wir zwar im Einzelfall noch darüber diskutieren, ob wir einen Krieg für sinnvoll halten, dass Krieg als Mittel von Politik aber inzwischen grundsätzlich anerkannt ist." - Vom Jugoslawien-Krieg zu Schröders "uneingeschränkter Solidarität" mit den USA nach dem 11. September 2001 und dem mit der Vertrauensfrage erzwungenen deutschen Militärengagement am Hindukusch bleibt nur ein kleiner Schritt.

Die Außen- und Sicherheitspolitik von Rot-Grün

Koalitionsvereinbarung 1998Realität 1998 – 2005
NATO Die NATO soll Teil einer »stabilen gesamteuropäischen Friedensordnung« sein; bei der geplanten NATO-Reform sollen jene Aufgaben, die über das bisherige Bündnismandat hinausgehen »an die Normen und Standards von VN und OSZE« gebunden sein. Die neue NATO-Strategie, verabschiedet auf der Jubiläumskonferenz 1999 in Washington, ermöglicht Out-of-Area-Einsätze auch ohne UN-Mandat; Interventionen sind nun möglich zur Sicherung von Rohstoffquellen, bei ethnischen Konflikten, Staatskrisen etc. auch außerhalb des NATO-Gebietes.
OSZEDie OSZE soll »rechtlich und strukturell gestärkt« über eine größere Handlungsfähigkeit verfügen.Die OSZE-Beobachtermission im Kosovo 1998/99 wird beendet, bevor sie in dem Maße stattfinden kann, in dem sie geplant ist. Heute ist die OSZE als Dependance der UNO weitgehend marginalisiert.
Auslandseinsätze der Bundeswehr »Die Beteiligung deutscher Streitkräfte an Maßnahmen zur Wahrung ... der internationalen Sicherheit ist an die Beachtung des Völkerrechts und des deutschen Verfassungsrechts gebunden. Die neue Bundesregierung wird sich aktiv dafür einsetzen, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu bewahren.« Die deutschen Streitkräfte beteiligen sich sowohl am NATO-Luftkrieg gegen Jugoslawien 1999, für den es kein UN-Mandat gibt, als auch im Rahmen der US-Operation »Enduring Freedom« an der Intervention gegen Afghanistan Ende 2001, für die es erst mit dem ISAF-Einsatz ein UN-Mandat gibt.
Europäische Außen- und SicherheitspolitikDie EU soll in ihren internationalen Beziehungen »handlungsfähig« sein. Die »Fähigkeit der EU zur zivilen Konfliktprävention und friedlichen Konfliktregelung« ist zu steigern. Die EU soll durch ihre internationale Präsenz helfen, OSZE und UNO zu stärken. Unter deutscher Ratspräsidentschaft wird 1999 die Umwandlung des »Eurokorps« zur EU-Krisenreaktionstruppe beschlossen. Der Einsatz der 60.000-Mann-Formation soll laut Verfassungsvertrag auch ohne UN-Mandat möglich sein. Am 22. 11. 2004 wird die Bildung von 13 »battle groups« (kleiner Kampfeinheiten) beschlossen, an denen Deutschland beteiligt ist; eine »Europäische Rüstungsagentur« soll die EU-Rüstungsexporte/-produktionen verzahnen.
Rüstungsexporte Die Bundesregierung will »in präventiver Rüstungskontrolle« bestehende Programme zur militärischen Ausstattungshilfe »überprüfen« und »grundsätzlich keine neuen Verträge in diesem Bereich abschließen«.
Rüstungsexporte außerhalb von EU und NATO sind restriktiv zu handhaben, der Menschenrechtsstatus möglicher Empfängerländer ist »ein zusätzliches Kriterium«.
2004 ist Deutschland weltweit der viertgrößte Waffenexporteur; der jährliche Durchschnittswert deutscher Rüstungsausfuhren liegt mit 830 Mill. Euro/ Jahr um 30 Prozent über dem Durchschnittswert, den die Kohlregierung zwischen 1995 und 1998 erzielte (635 Mill. Euro/Jahr). Allein 2003 sind die deutschen Waffenexporte innerhalb eines Jahres um 49 Prozent gestiegen.


* Aus: Freitag 27, 8. Juli 2005


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