"Das schließt auch die Beteiligung an militärischen Operationen ein"
Aus der Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder vom 11. Oktober 2001
Im Folgenden dokumentieren wir große Teile der denkwürdigen Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder vom 11. Oktober 2001.
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Ich denke, wir haben Grund, bei der Formulierung undDurchsetzung unserer Außenpolitik - vielleicht spüren Sie, dass es mir darum geht, dass man in dieser Frage soweit wie irgend möglich Gemeinsamkeiten, die entwickelt wurden, bewahrt - das eine oder andere zu verändern. Das war auch Kern der Gespräche, die ich in Washington und New York geführt habe. Es gibt sicher viele Gründe, warum Deutschland in der aktuellen Situation seine Präsenz und seine aktive Solidarität unseren Freunden in den Vereinigten Staaten und in der internationalen Allianz gegen den Terrorismus zeigen muss: Historische, gegenwärtige, aber auch Gründe, die mit der Positionierung Deutschlands in der Zukunft zu tun haben.
Nach dem Ende des Kalten Krieges, der Wiederherstellung der
staatlichen Einheit Deutschlands und der Wiedererlangung
unserer vollen Souveränität haben wir uns in einer neuen Weise
der internationalen Verantwortung zu stellen, einer
Verantwortung, die unserer Rolle als wichtiger europäischer und
transatlantischer Partner, aber auch als starker Demokratie und
starker Volkswirtschaft im Herzen Europas entspricht. Noch vor
zehn Jahren hätte niemand von uns erwartet, dass Deutschland
sich anders als durch so etwas wie "sekundäre Hilfsleistungen" -
also Zurverfügungstellung von Infrastruktur oder Gewährung
von Finanzmitteln - an internationalen Bemühungen zur
Sicherung von Freiheit, Gerechtigkeit und Stabilität beteiligt. Ich
sage das durchaus auch auf mein eigenes Denken und Handeln
bezogen. Diese Etappe deutscher Nachkriegspolitik - darauf
habe ich bereits unmittelbar nach dem 11. September
hingewiesen - ist unwiederbringlich vorbei.
Gerade wir Deutschen, die wir durch die Hilfe und Solidarität
unserer amerikanischen und europäischen Freunde und Partner
die Folgen zweier Weltkriege überwinden konnten, um zu
Freiheit und Selbstbestimmung zu finden, haben nun auch eine
Verpflichtung, unserer neuen Verantwortung umfassend gerecht
zu werden. Das schließt - und das sage ich ganz
unmissverständlich - auch die Beteiligung an militärischen
Operationen zur Verteidigung von Freiheit und Menschenrechten,
zur Herstellung von Stabilität und Sicherheit ausdrücklich ein.
Bei den gezielten Militärschlägen, die im Augenblick von den
Vereinigten Staaten und Großbritannien durchgeführt werden,
haben unsere amerikanischen und britischen Freunde deshalb
nicht nur unsere uneingeschränkte Solidarität verdient. Diese
Militärschläge stehen - das kann gar nicht oft genug betont
werden - völlig im Einklang mit der Beschlussfassung des
Weltsicherheitsrates über die Anwendung legitimer
Selbstverteidigung, also mit den Resolutionen 1368 und 1373.
In seiner wegweisenden Resolution 1373 hat der Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen in beeindruckender Weise das
Völkerrecht im Hinblick auf die neu entstandenen Bedrohungen
angepasst. Das Völkerrecht angepasst zu haben heißt für uns,
es innerhalb bestimmter Zeit im Inneren wirksam umzusetzen
und es als Richtschnur für nationales und internationales
Handeln zu begreifen.
Diese Bedrohungen und Angriffe überschreiten das Maß dessen,
was in der internationalen Politik, aber vor allem im
Zusammenleben der Menschen, in der Geschichte menschlicher
Zivilisation bisher als Angriff von einzelnen Terroristen und
terroristischen Gruppen vorstellbar gewesen und tatsächlich
realisiert worden ist.
Bürgermeister Giuliani hat mich vorgestern an den Ort dieser
Katastrophe geführt, an den Ort, an dem noch vor wenigen
Wochen Tausende von Menschen ihrer Arbeit im World Trade
Center nachgingen. Die Erschütterung, die jeden denkenden,
fühlenden und mitfühlenden Menschen beim Anblick dieses
"Ground Zero" erfasst, kann man kaum beschreiben; denn -
gestatten Sie mir, diese Erfahrung kurz mitzuteilen - die
Fernsehbilder, die wir alle gesehen haben, gehen gnädig mit den
Zuschauern um, weil sie Distanz schaffen. Wenn man es
unmittelbar sieht und erlebt, kann man eigentlich nur zu der
Überzeugung kommen, das wir alles, aber auch wirklich alles tun
müssen, damit sich diese grausamen Anschläge nicht
wiederholen können.
Unsere Verbündeten haben uns bisher nicht um einen direkten
militärischen Beistand im Kampf gegen den Terrorismus gebeten.
Präsident Bush hat mir versichert, wie hoch er und das
amerikanische Volk den Beitrag schätzen, den wir bisher in der
nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit, bei der Austrocknung
der Finanzquellen und vor allem bei der Herstellung der
internationalen Allianz gegen den Terrorismus geleistet haben.
Ich habe gegenüber dem amerikanischen Präsidenten deutlich
gemacht, dass Deutschland seiner Verantwortung auf allen
Gebieten nachkommen wird. Das schließt auch die militärische
Zusammenarbeit ausdrücklich ein. Eine solche Verpflichtung
ergibt sich für uns aus Art. 5 des NATO-Vertrages, dessen
Anwendbarkeit auf die aktuelle Situation vom NATO-Rat
festgestellt worden ist.
Die Bereitschaft, auch militärisch für Sicherheit zu sorgen, ist ein
wichtiges Bekenntnis zu Deutschlands Allianzen und
Partnerschaften. Aber nicht nur das: Die Bereitschaft, unserer
größer gewordenen Verantwortung für die internationale
Sicherheit gerecht zu werden, bedeutet auch ein weiter
entwickeltes Selbstverständnis deutscher Außenpolitik.
International Verantwortung zu übernehmen und dabei jedes
unmittelbare Risiko zu vermeiden kann und darf nicht die Leitlinie
deutscher Außen- und Sicherheitspolitik sein.
Mit Bezug auf die innenpolitische Diskussion sage ich auch: Wir
sollten versuchen, nachzuvollziehen und zu verstehen, dass es
viele Menschen gibt, die sich Sorgen um Tatsache und Umfang
eines militärischen Beitrags zur Bekämpfung des Terrorismus
machen. Mit den Menschen, die sich einer solchen Entwicklung
noch verweigern wollen, müssen und werden wir die Diskussion
aufnehmen.
Im Übrigen: Dass unsere zivile Gesellschaft gegenüber der
Notwendigkeit militärischer Optionen und ihrer Ausübung
zurückhaltender als jemals in der deutschen Geschichte
geworden ist, begreife ich als einen zivilisatorischen Fortschritt,
auch wenn es die eigene Argumentation bezüglich bestimmter
Notwendigkeiten schwerer macht. Mir ist - ich glaube, da spreche
ich den meisten aus den Herzen - die Zurückhaltung einer
Gesellschaft, die sich zu Recht etwas auf ihren zivilen Charakter
einbildet, allemal lieber als jede Form von Hurrapatriotismus. Wir
Deutschen stehen - auch das hat der Generalsekretär der
Vereinten Nationen sehr deutlich gemacht - an vorderster Front
bei der konsequenten Sicherung des Friedens in der Welt, aber
ebenso bei der konsequenten Herstellung von Sicherheit und
Stabilität, die auf Menschenrechten und Menschenwürde basiert.
Die Bundesregierung hat immer gesagt, dass unser
Hauptaugenmerk auf die Krisenprävention und die
Krisenregulierung gerichtet ist und dass unter Umständen
erforderliche militärische Beiträge in der internationalen Politik
gelegentlich notwendige, aber keineswegs hinreichende
Bedingung für internationale Stabilität sind. Ich sage dazu: Das
war nie eine Ausflucht, nicht auch militärisch handeln zu wollen,
wenn wir das müssen. Das wird auch so bleiben.
Die vergangenen Wochen haben uns nicht nur schockiert,
sondern sie haben uns auch klar gemacht, dass wir etwas sehr
Wertvolles zu verteidigen haben: Das Streben nach Glück, wie es
die Amerikaner sagen, oder, wie es bei uns im Grundgesetz
heißt, die Würde des Menschen, die bei uns und nicht nur bei uns
Maßgabe und Maßstab jeglicher Politik sein muss. Es geht um
Rechtssicherheit, Gerechtigkeit und Teilhabe, die wir nicht nur
national, sondern auch international durchsetzen oder bei deren
Durchsetzung wir Hilfe leisten müssen.
Die Bundesregierung begegnet jener namenlosen Barbarei, der
in New York und Washington Tausende zum Opfer gefallen sind,
mit Entschlossenheit, aber auch - das wissen Sie - mit
Besonnenheit. Durch intensive Bemühungen und vielfältige
Aktivitäten ist es gelungen, eine breite internationale Koalition
gegen den Terrorismus herzustellen. Das ist ein hohes Gut und
wir müssen sehr viel politische Kraft einsetzen, um es zu
bewahren. Die internationale Gemeinschaft ist so entschlossen
wie nie, mit vereinten Anstrengungen den Durchbruch zum
Frieden im Nahen Osten zu erreichen. Auch damit machen wir
klar, dass der Terrorismus keine wie auch immer geartete
Legitimation hat und haben kann.
Mir liegt daran, dass deutlich wird: Die Aufteilung der Welt in Arm
und Reich ist ein bedauerliches Übel. Die Situation im Nahen
Osten und die Auseinandersetzungen, von denen wir tagtäglich
erfahren, sind es auch. Aber die Aufteilung der Welt in Arm und
Reich ist keine und darf nicht verstanden werden als
monokausale Begründung für den Terrorismus. Worum es geht,
ist zu erkennen, dass der Terrorismus auf der einen Seite eine
ganz eigene Qualität hat, auf der anderen Seite aber solche
Konflikte, die ich erwähnt habe, wenn wir sie nicht lösen, es den
Terroristen und ihren Helfershelfern gestatten, die Massen, die
mit diesen Konflikten in Berührung kommen, für ihre
verbrecherischen Ziele zu missbrauchen. Das ist der
Zusammenhang, der hergestellt werden muss.
Deshalb wird der Bundesaußenminister, der dort sehr viel
geleistet hat, seine Bemühungen, zum Frieden im Nahen Osten
beizutragen, in völliger Übereinstimmung mit dem Präsidenten
der Vereinigten Staaten unbeirrt fortsetzen. Dies ist ein Teil der
Arbeitsteilung, die wir vornehmen.
Unser Konzept wird das einer umfassenden Sicherheit sein:
materielle Sicherheit, soziale Sicherheit, aber auch
Rechtssicherheit und in diesem Zusammenhang auch
Wehrhaftigkeit. Diese Konzeption, die wir bereits in den
Balkankonflikten vorgeschlagen und, soweit das möglich ist,
umgesetzt haben, hat auch etwas genuin Europäisches.
Wir sagen heute stolz: Das Projekt der europäischen Integration
ist die größte Erfolgsgeschichte des 20. und, ich denke, auch des
21. Jahrhunderts. Die daraus resultierenden Erfahrungen in der
Bewältigung und Lösung von Konflikten wollen wir gern anderen
Völkern in anderen Regionen zur Verfügung stellen.
Ich will aber auch einen anderen Stolz zum Ausdruck bringen:
Die Solidarität der deutschen Bevölkerung mit den Opfern des
Terrorismus und die Bereitschaft der Menschen bei uns, gegen
jeden Extremismus und Terrorismus zu kämpfen, dabei aber
nicht in falschen Eifer zu verfallen, sind beispielhaft. Das ist ein
großes Kompliment, das sich die Menschen in unserem Land
verdient haben.
Die Menschen in Deutschland, unsere zivile Gesellschaft wissen sehr genau, was auf dem Spiel steht. Deshalb rufen sie nicht nach Rache und Vergeltung. Aber sie sind bereit, unsere Gesellschaft und die Zukunftsfähigkeit unserer einen Welt in einem wirklich umfassenden Sinne zu verteidigen. Dafür müssen wir ihnen dankbar sein.
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