Im Wortlaut: Der Leitantrag des Bundesvorstands von Bündnis 90/Die Grünen
"Internationalen Terrorismus bekämpfen, in kritischer Solidarität handeln, die rot-grüne Koalition fortsetzen"
Die Delegierten von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatten auf ihrer 17. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz am 24.-25. November 2001 in Rostock über die Frage des außenpolitischen Kurses der rot-grünen Bundesregierung und des weiteren Verbleibs in der Koalition zu entscheiden. Am Abend des 24. November kam es zur Abstimmung über den im Folgenden dokumentierten Leitantrag des Bundesvorstands, den dieser zwei Tage vorher verabschiedet hatte. Eine große Mehrheit entschied sich für den Leitantrag. Damit, so war in vielen Kommentaren zu hören und zu lesen, hätte die Partei der Grünen einen historischen Schritt hin zur endgültigen Politik- und Regierungsfähigkeit getan. Kritiker sehen in der Entscheidung dagegen das Ende des grünen pazifistischen Projekts.
Internationalen Terrorismus bekämpfen,
in kritischer Solidarität handeln,
die rot-grüne Koalition fortsetzen
Der Deutsche Bundestag hat am 16.11.2001 mit der Mehrheit von 336 Stimmen beschlossen,
dem Einsatz deutscher bewaffneter Kräfte im von der UNO mandatierten Kampf gegen den
internationalen Terrorismus zuzustimmen und zugleich dem Bundeskanzler das Vertrauen
auszusprechen. Um die rot-grüne Koalition nicht in dieser Abstimmung scheitern zu lassen,
stimmten mehrere bündnisgrüne Abgeordnete zu, auch wenn sie das Mandat ablehnten. Vier
grüne Nein-Stimmen brachten einen Widerspruch zum Ausdruck, den mehr als vier
Abgeordnete teilten. Die Mehrheit unserer Bundestagsfraktion stimmte aus der Sache heraus
zu. Dies hatte der Bundesvorstand empfohlen, nachdem es gelungen war, die vom Parteirat am
12.11.2001 formulierten Voraussetzungen für eine solche Zustimmung durchzusetzen und in
einem gemeinsamen rot-grünen Entschließungsantrag des Bundestages zentrale politische
Ziele des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus festzuschreiben.
Daß der Kanzler die Abstimmung über die Bereitstellung von Bundeswehreinheiten mit der
Vertrauensfrage verband, war nach der Verfassung möglich, aber weder unvermeidlich noch in
der Wirkung Vertrauen fördernd. Es nicht nur von sehr vielen in unserer Partei, sondern auch
von einem großen Teil der Bevölkerung als Zumutung empfunden worden. Hätte es zwei
getrennte Abstimmungen gegeben, wäre die Vertrauensfrage trotz der zur Sache vorhandenen
Positionsunterschiede von unserer Fraktion einstimmig und einhellig bejaht worden.
Der Bundestagsbeschluß bedeutet nicht nur die Bereitstellung zum Einsatz deutscher
Soldaten im Kampf gegen den internationalen Terrorismus, sondern zugleich eine
Einschränkung und Beschränkung. Die Bundesregierung wurde nicht ermächtigt zur
Beteiligung an Luftangriffen, zum Einsatz von Bodentruppen, obwohl es wenigstens zu
Letzterem Vorstöße aus der Bundeswehr gab. Gegen einen Einsatz im Irak, in Somalia oder
anderen Ländern über Afghanistan hinaus gibt es eine wirksame Sperre. Das vom Bundestag
beschlossene Mandat erlaubt der Bundesregierung, Sanitätskräfte zur Rettung verwundeter
Zivilisten und Soldaten einzusetzen, Lufttransporteinheiten zum Transport ziviler Hilfsgüter und
militärischer Geräte, Fuchsspürpanzer zum defensiven Aufspüren von ABC-Waffen,
Marineeinheiten zum Schutz ziviler Seeschifffahrt am Horn von Afrika und 100 Mann
Spezialkräfte, die Zugriffe ausführen können, um identifizierte mutmaßliche Täter dingfest zu
machen und vor Gericht zu bringen. Es geht um humanitäre, um Defensiv- und
Schutzfähigkeiten und polizeiähnliche Aufgaben. Dies entspricht den Maßstäben, die der
Länderrat beschlossen hat. Repressive Mittel sollen nur eingesetzt werden unter Einbindung in
ein politisches Konzept, unter dem Grundsatz der Zielgerichtetheit und Verhältnismäßigkeit, in
Übereinstimmung mit der Charta und den Beschlüssen der UNO einschließlich des Rechts auf
Selbstverteidigung und unter Vermeidung eines "Kampfes der Kulturen". Wir begrüßen, daß
die Bundestagsfraktion Präzisierungen und Klarstellungen zu dem Mandat durchgesetzt hat.
Das gilt für den Täterbezug, für die polizeilich-militärische Verwendung der Spezialkräfte, für
örtliche Beschränkung des Einsatzes. Es gilt auch für die Berichterstattungspflicht. Dadurch
ist es dem Bundestag möglich, sein verfassungsmäßiges Recht zur Selbstbefassung mit der
weiteren Mandatsgestaltung wirksam auszuüben.
Da sich die Lage in Afghanistan sieben Wochen nach Beginn der militärischen Angriffe der
USA und Großbritanniens gegen Al Quaida und Taliban für die Menschen positiv entwickelt,
wächst die Hoffnung, daß nun in Afghanistan und darüber hinaus politische Lösungen mehr ins
Zentrum rücken. Zum ersten Mal seit Jahren besteht die Chance, die wegen Dürre, Bürgerkrieg
und Taliban-Regime schlimme humanitäre Situation grundlegend zu verbessern. Aus Sorge vor
einer drohenden humanitären Katastrophe und vor den Rückwirkungen eines militärischen
Vorgehens, das infolge der Bombardements immer mehr zivile Opfer forderte, in der
islamischen Welt sowie aus scharfer Kritik insbesondere am Einsatz international geächteter
Streubomben haben wir die USA mehrfach offen kritisiert. Genau so offen nehmen wir jetzt zur
Kenntnis, daß der weitgehende Sturz der Taliban nun ermöglicht, den Großteil der Bevölkerung
wirksam humanitär zu versorgen und mit dem Neuaufbau des Landes zu beginnen. Die in der
kommenden Woche in Bonn stattfindende Afghanistan-Konferenz der UNOsoll eine tragfähige,
alle Ethnien einschließende Nach-Taliban-Lösung eröffnen, da eine einseitige Dominanz der
Nord-Allianz den Frieden nicht sichern kann. Mit der Wahl des Tagungsortes anerkennt die
UNO die besondere, positive Rolle, die Deutschland und insbesondere Außenminister Joschka
Fischer bei der Arbeit an einer politischen Lösung für das geschundene Land spielen.
In dem vom Bundestag verabschiedeten Entschließungsantrag haben die vom grünen Länderrat
im Oktober formulierten politischen Ziele im Kampf gegen den internationalen Terrorismus ihren
Niederschlag gefunden. Diese Entschließung ist geprägt von der Einsicht, daß der Kampf
gegen den Terrorismus nicht allein und auch nicht überwiegend militärisch zu gewinnen ist. Er
kann nur gelingen, "wenn vor allem auch politische, ökonomische und humanitäre Maßnahmen
ergriffen werden". Der Bundestag fordert eine Verstärkung der Anstrengungen, um lang
schwelende Regionalkonflikte zu lösen. Er spricht sich für eine konsequente zivile
Konfliktbearbeitung und Konfliktprävention aus. Er verlangt, "den Ausgleich zwischen Arm und
Reich ins Zentrum einer globalen Friedenspolitik zu Rücken". Er bekennt sich zum Dialog
zwischen den Kulturen und mit den Religionen als Voraussetzung für das friedliche
Zusammenleben in multikulturellen Gesellschaften.
Bündnis 90/Die Grünen erwarten, daß diesen Selbstverpflichtungen nun Taten folgen. Die
Bundestagsfraktion wird aufgefordert dafür zu sorgen, daß insbesondere die erforderlichen
Haushaltsmittel bereitgestellt werden, damit gemeinsam mit der FAO ein gemeinsamer Fonds
zur Stärkung ländlicher Räume in den ärmsten Regionen der Welt aufgelegt und gemeinsam
mit dem World Food Program die Hilfe für die notleidenden Menschen in Afghanistan und
angrenzenden Ländern deutlich aufgestockt werden; damit wirklich substantielle Hilfe für den
Wiederaufbau in Afghanistan geleistet werden kann; damit nach langen Jahren endlich das
vereinbarte Ziel schrittweise umgesetzt wird, 0,7% des BIP für Entwicklungszusammenarbeit
bereitzustellen; damit bei der Konferenz "Financing for Development" im März 2002 oder beim
Johannesburg-Gipfel im September Fortschritte in der Armutsbekämpfung gemacht werden.
Insgesamt kommt die Bundesdelegiertenkonferenz zu folgender Bewertung der
Bundestagsabstimmung. Wir respektieren ausdrücklich, daß unsere Abgeordneten in dieser
Entscheidung, die Gewissensfragen genau so berührt wie politische Grundsatzfragen, zu
unterschiedlichen Ergebnissen kamen. Niemand hat sich die Entscheidung leicht gemacht.
Wir akzeptieren, daß unsere Abgeordneten mehrheitlich der Bereitstellung von Einheiten der
Bundeswehr zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus zugestimmt haben. Wir halten
es für richtig, daß die vorhandene Kritik an dem Einsatz, die in unserer Partei ihren Platz hat,
in der Abstimmung zum Ausdruck gebracht wurde. Wir begrüßen, daß von der
Bundestagsfraktion gemeinsam zivile Prioritäten im Kampf gegen den internationalen
Terrorismus voran gebracht wurden.
Es ist gut, daß die Bundestagsfraktion einen Weg fand, die Entscheidung in der Sache, die
Freiheit der Kritik und eine klare Entscheidung für die Koalition zu verbinden. Wir würdigen die
Haltung aller, die das mit ermöglicht haben, obwohl sie persönlich anderer Meinung gewesen
sein mögen. Unsere Antwort auf die Frage nach der Koalition ist eindeutig: Bündnis 90/Die
Grünen wollen die rot-grüne Koalition fortsetzen, weil sie gut ist für die Menschen und für
dieses Land. Der SPD sagen wir: Wir sind ein fairer Partner und wir erwarten faire
Partnerschaft.
Staatsangehörigkeitsrecht und gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften bis zu unseren
jüngsten Erfolgen beim Bundesnaturschutzgesetz und der Einwanderungspolitik reichen. Wir
Grüne können selbstbewußt sagen: vieles von dem, das der Kanzler bei seinem Parteitag als
Erfolg gefeiert hat, bis hin zur Haushalts- und Steuerpolitik, hätte es ohne uns nicht gegeben.
Ebenso wichtig wie die bisherigen Erfolge ist, was wir noch vorhaben. In der laufenden
Legislaturperiode wollen wir noch das Atom-Ausstiegsgesetz beschließen, die Anerkennung
geschlechtsspezifischer und nichtstaatlicher Verfolgung erreichen, ethische Grenzziehungen
bei den Entscheidungen zur Gentechnik sichern und zusätzliche grüne Anstöße für eine
energischere Politik gegen die Massenerwerbslosigkeit setzen. Wir haben noch viel vor. Nur
mit uns Grünen wird es die Umsetzung des Atomausstiegs und aktive Klimapolitik samt
Fortentwicklung der Ökosteuer, die Abschaffung der Wehrpflicht, die Verkehrswende und
Lärmbekämpfung, mehr Geld für Kinder und ihre Bildung, die Durchsetzung der Agrarwende
und die Neuordnung der sozialen Sicherung mit Einführung einer Grundsicherung geben.
Doch auch aus außenpolitischer Verantwortung wollen wir dieses Land nicht der heutigen
Opposition überlassen. Grüne Außenpolitik setzt auf eigenständige Perspektiven.
Sie setzt auf eine neue Friedenspolitik für das 21. Jahrhundert. Diese zeichnet sich dadurch
aus, daß sie angesichts der Gefahren privatisierter Gewalt die Stärkung der UNO, die
Universalität der Menschenrechte, Gewaltprävention und zivile Konfliktbearbeitung sowie die
Geltung des Rechts in den internationalen Beziehungen ins Zentrum rückt. Wir wissen, daß
sich Gewalt als ultima ratio leider nicht immer ausschließen läßt. Wir anerkennen das Recht
auf Selbstverteidigung nach Artikel 51 der Charta der UNO. Die Bundeswehr darf aber nicht im
Kontext klassischer Interventionen eingesetzt werden. Dagegen kann sich die Bundeswehr an
internationalen Einsätzen zur Bewahrung und Wiederherstellung des Friedens, die mit einem
Mandat der Vereinten Nationen durchgeführt werden, beteiligen. Bündnis 90/Die Grünen
bleiben eine militärkritische Partei mit hoher Friedenskompetenz.
Grüne Außenpolitik setzt sich auch ein für eine andere, positive Gestaltung der Globalisierung.
Es gilt, neue internationale Ordnungsstrukturen zu schaffen, die der wirtschaftlichen
Globalisierung ökologische, soziale und menschenrechtliche Leitplanken setzen. Eine
internationale Strukturpolitik ist dafür notwendig.
Grüne Außenpolitik setzt auf die Stärkung Europas, auf machtpolitische Selbstbeschränkung
und internationale Einbindung statt auf machtpolitische Sonderwege, auf Hegemonie oder auf
Nationalismus.
Grüne Außenpolitik setzt im transatlantischen Verhältnis auf enge und gute Beziehungen zu
den USA. Bei allen Differenzen und Auseinandersetzungen setzen wir auf die freundschaftliche
Haltung der kritischen Solidarität.
Wir Grüne folgen der Vision einer Völkergemeinschaft weltoffener Demokratien. Die weltweite
Betroffenheit, die durch die terroristische Gewalt des 11. September ausgelöst wurde, hat
deutlich gemacht, wie sehr die Welt, in der wir leben, real zu einer Weltgesellschaft
zusammenwächst. Mit unserem Einsatz für die Förderung von Menschenrechten, Demokratie,
Toleranz und internationaler Gerechtigkeit tragen wir dazu bei, dem Terrorismus den Boden zu
entziehen. Wir setzen auf die Perspektive einen "Weltinnenpolitik" mit der Eingrenzung der
Gewalt durch internationale Herrschaft des Rechts. Der gemeinsame Kampf der Staaten und
Völker gegen den Terrorismus bietet die Chance, neben dem Selbstverteidigungsrecht der
Entwicklung internationalen Rechts einschließlich entsprechender Sanktionsgewalt ein
erhöhtes Gewicht einzuräumen. Wenn terroristische Aggressoren nicht nur Feinde eines
Staates oder Bündnisses sind, sondern der gesamten internationalen Gemeinschaft, dann wird
es langfristig möglich sein, sie als Verbrecherorganisationen einem zu schaffenden globalen
Rechtssystem zuzuführen. Wir setzen uns mit dieser Perspektive dafür ein, das internationale
Recht systematisch weiter zu stärken. Dazu gehört, daß alle Staaten dem Internationalen
Strafgerichtshof beitreten, wie es Joschka Fischer vor der UNO-Generalversammlung auch von
den USA gefordert hat.
Es gehört auch zur unverzichtbaren Rolle unserer Partei in der rot-grünen Außenpolitik, klar
für Positionen einzutreten, die beim SPD-Parteitag noch nicht einmal zur Abstimmung gestellt
wurden: Unsere Solidarität ist nicht gleichbedeutend mit bedingungsloser Unterstützung der
US-Militärstrategie. Wir lehnen insbesondere den Einsatz von Streubomben auch bei diesem
Kampf gegen den internationalen Terrorismus ab. Die Verhältnismäßigkeit muß gewährleistet
sein; der Zweck heiligt nicht die Mittel. Wir wollen den Einsatz von Massenvernichtungswaffen
auch weiterhin eindeutig ausgeschlossen sehen. Es darf keine Eskalationsstrategie geben.
Das Völkerrecht deckt Rache nicht ab. Die Koalition gegen den Terrorismus muß auch eine
Koalition für Humanität sein. Wir halten den gezielten Zugriff auf die mutmaßlichen Täter des
11. September für richtig und nötig, wollen sie aber vor ein Strafgericht gestellt und nicht
liquidiert sehen. Es geht nicht um Krieg gegen ein Land, eine Kultur oder eine Religion.
Wir bleiben dabei: Die USA verdienen unsere Solidarität, denn sie wurden angegriffen. Die
terroristische Bedrohung der USA und anderer Staaten, auch der Bundesrepublik, hat mit dem
11.9.2001 nicht aufgehört, sondern hält an. Wir stehen in der Verantwortung, bestmöglich für
den Schutz der Bevölkerung, der internationalen Sicherheit und den Frieden sowie den Erhalt
der offenen Gesellschaft zu sorgen. Wir sind bereit, dies im Rahmen einer breiten
internationalen Koalition gegen den Terrorismus zu tun. Verantwortung aber gibt es nicht ohne
Eigenständigkeit. Deshalb sind wir für kritische Solidarität. Deshalb treten wir dafür ein, die
rechtsstaatliche Demokratie so zu verteidigen, daß nicht ihre eigenen Prinzipien dabei verletzt werden.
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