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Die Friedensdividende wurde leichtfertig verspielt

Alles schien möglich - doch der Westen schlug die historische Abrüstungschance aus

Von André Brie *

Alles schien möglich 1989. Ein halbes Jahrhundert hatten sich die beiden Supermächte mit militärischen Vernichtungspotenzialen gegenüber gestanden, die sich jeder Vorstellungskraft entzogen. Man hatte ausgerechnet, dass die Zerstörungskraft allein ihrer Nuklearwaffen ausreichte, um 103 Jahre lang jeden Tag einhundert Hiroshimabomben explodieren zu lassen. Nach der apokalyptischen Kuba-Krise hatten sie zwar gelernt, »eine relativ verlässliche Kohabitation von zwei konträren Machtsystemen« zu organisieren (Peter Scholl-Latour), doch ihr Wettrüsten ließ die Volkswirtschaften und die Umwelt ausbluten, das Gleichgewicht des Schreckens wurde immer wieder durch Kriege (Korea, Vietnam, Afghanistan) und neue Waffentechnologien bedroht und ließ Millionen und Abermillionen Menschen jahrzehntelang in den Friedensbewegungen gegen die Barbarei vernichtungsgestützter »Sicherheit« auf die Straßen gehen. Dass Sicherheit nur gemeinsam, kooperativ und durch weit reichende Abrüstung und eine Welt frei von Massenvernichtungswaffen zu haben war, Krieg nach Jahrtausenden endlich von der Erde verbannt werden musste, bestimmte das Denken der großen Mehrheiten in Ost und West, Nord und Süd.

Ein Jahr der Widersprüche

Das Jahr 1989 begann auch in der Rüstungs- und Abrüstungspolitik extrem widersprüchlich. Die sowjetisch-amerikanische Grundsatzvereinbarung von Reykjavik (Oktober 1986), einen umfassenden nuklearen Abrüstungsprozess zu starten, war angesichts US-amerikanischen Widerstands und Ronald Reagans Festhalten an den abenteuerlichen »Sternenkriegsplänen« bereits wieder dem üblichen Pragmatismus gewichen. Immerhin hatten beide Regierungen 1987 den Vertrag über die Liquidierung ihrer Raketen kürzerer und mittlerer Reichweite unterzeichnet. Auf ihren Gipfeltreffen in Malta am 2. Dezember 1989 vereinbarten Gorbatschow und Bush den raschen Abschluss der strategischen START-Verhandlungen (das Abkommen wurde jedoch erst am 31. Juli 1991 unterzeichnet und bis heute nicht von den USA ratifiziert). Am 15. Februar verließ der letzte sowjetische Soldat Afghanistan. Am 9. März begannen in Wien die neuen Verhandlungen über Konventionelle Waffen in Europa (KSE), die am 19. November 1990 zu einem umfassenden Rüstungsbegrenzungs- und Abrüstungsabkommen führten (dessen aktuelle Fassung von den westlichen Staaten ebenfalls nicht ratifiziert worden ist).

Im Januar 1989 wurde die abrüstungspolitische Gegensätzlichkeit schlagartig deutlich: Am 11. Januar unterzeichneten 149 Staaten die Verpflichtung, auf den Einsatz chemischer Waffen zu verzichten. Sie gaben nach den entsetzlichen Erfahrungen mit C-Waffen im irakisch-iranischen Krieg und in Irak selbst dem Genfer Protokoll von 1925 (das den Einsatz von C-Waffen verbot) neue Wirksamkeit. Gleichzeitig begannen in der Genfer Abrüstungskonferenz nach jahrelangem Stillstand endlich ernsthafte und praktische Verhandlungen zum Verbot der Produktion und zur weltweiten Beseitigung chemischer Waffen, die Anfang 1993 zum umfassendsten, inzwischen aber immer wieder von den USA angegriffenen Abrüstungsvertrag der Geschichte führten.

Doch schon vor den Umbrüchen in Mittel- und Osteuropa im Herbst dieses aufrührenden Jahres war eine bis dahin nicht gekannte Dynamik in die Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik gekommen. SED und SPD diskutierten Möglichkeiten einer gegenseitigen strukturellen Angriffsunfähigkeit. Die SED-Führung, die ihre in der Bevölkerung und der eigenen Partei immer unpopulärer werdende Gegnerschaft zur sowjetischen Perestroika und zu jeder gesellschaftlichen Reformpolitik durch eine populäre und eigenständigere Außen- und Abrüstungspolitik kompensieren wollte, gestattete sogar Forschungsarbeiten zu den Möglichkeiten einseitiger Abrüstung, die noch ein Jahr zuvor vehement abgelehnt worden war. Ebenso wurden Arbeitskontakte der SED-Experten mit politisch oppositionellen und kirchlichen Experten aus der DDR, wie dem äußerst detailreich und empirisch arbeitenden Wissenschaftler Walter Romberg, zugelassen. Als sich im Herbst 1989 die Leidenschaften der gesellschaftlichen und internationalen Umstürze auch in fundamentalen Abrüstungsforderungen und Konzepten niederschlugen, waren sie geistig längst vorbereitet. Albert Einsteins und Bertrand Russells Vision einer atomwaffenfreien Welt waren nie aus den Diskussionen gewichen. Beharrliche und machtvolle Friedensbewegungen hatten sie politisch wirkungsvoll und konkret werden lassen.

Keine »Argumente« mehr für Hochrüstung

So problematisch die sowjetische Abrüstungspolitik auf einzelnen Gebieten gewesen war (insbesondere ihre Haltung zu effektiven Kontrollen von Vereinbarungen und zur Abrüstung konventioneller Waffen), mit ihren immer neuen Vorstößen zur atomaren Abrüstung genoss sie Zustimmung weit über die eigenen Grenzen hinaus. Auch die Faszination, die Gorbatschow zunächst in Ost und West auslöste, hatte nicht nur mit seinen gesellschaftspolitischen Reformvorstellungen, sondern auch mit seinem überzeugenden Eintreten für Abrüstung zu tun.

Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Länder und des Ostblocks aber waren nun alle so lange scheinbar oder tatsächlich wirkungsvollen Argumente für die gegenseitige militärische Konfrontation, die beiden Militärblöcke und ihre Hochrüstung abhanden gekommen. Die 1989/90 viel beschworene »Friedensdividende« - Abrüstung, kooperative und nichtmilitärische Sicherheit durch die Beseitigung von Vernichtungsdrohung, finanzieller, wirtschaftlicher und ökologischer Verschwendung - sollte endlich eingefahren werden. Die schon lange überlebensnotwendige Utopie vollständiger Abrüstung schien im Herbst 1989 ihren Ort gefunden zu haben. In der Schweiz war bereits in den Monaten zuvor ein Volksentscheid zu einem Tabu-Thema auf den Weg gebracht worden. Der Forderung nach einer »Schweiz ohne Armee« stimmten am 26. November mehr als ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger zu. Um den sensationellen Charakter einschätzen zu können, muss man den quasimilitaristischen Umgang dieser Gesellschaft mit ihrem Militär und der Militärdienstpflicht kennen.

In der DDR wurde dieser Gedanke durch die »Initiative der 89« für eine DDR ohne Armee aufgegriffen. »Frieden schaffen ohne Waffen!« war die grundlegende und unter den neuen Bedingungen realistische Idee. Zugleich wollte ein Teil der Initiatoren mit einem gesetzlichen und sozialen Konversionsprozess die Alternativität der DDR in der Neugestaltung des deutsch-deutschen Verhältnisses und in einem Vereinigungsprozess stärken. Bei den meisten NVA-Offizieren rief dieser Vorschlag, ich erlebte es im Volkskammerwahlkampf 1990, Zorn und soziale Ängste hervor. Seine Verwirklichung jedoch hätte nicht nur den späteren Vormarsch der NATO nach Osteuropa erschwert, sondern den Druck zugunsten einer gesellschaftlich organisierten positiven Perspektive für die Berufssoldaten und die Garnisonsstandorte der NVA wesentlich erhöht.

Die vom »Minister für Verteidigung und Abrüstung« der letzten DDR-Regierung, Rainer Eppelmann, eingeleitete Reduzierung der NVA lief stattdessen darauf hinaus, die verringerte NVA als Vehikel für die Ausdehnung der NATO zu nutzen. Auf der letzten Sitzung des Komitees der Verteidigungsminister des Warschauer Vertrages 1990 ließ Eppelmann den Chef des Hauptstabes der NVA wahrheitswidrig erklären, dass im Vereinigungsprozess die Sicherheitsinteressen aller beteiligten Staaten, vor allem der UdSSR, berücksichtigt würden »und ein vereintes Deutschland seine Nachbarn niemals bedrohen und die Stabilität in Europa nicht beeinträchtigen darf. Das heißt, wir sind für keinerlei Bündnisverschiebung, um das Kräfteverhältnis in Europa nicht zu stören, sondern für eine schrittweise Bündnisüberwindung auf beiden Seiten.« Ähnliches versprachen Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher auch Gorbatschow, der sich das auf politisch dilettantischste Weise jedoch nicht vertraglich garantieren ließ.

Es erübrigt sich fast, auf die Tatsachen hinzuweisen: Der Warschauer Pakt löste sich auf, die NATO dagegen marschierte nicht nur auf das Territorium der früheren DDR vor, sondern inzwischen bis an die russische Grenze, wurde zum Instrument einer militärischen Einkreisung Russlands, suchte mit unseriösen neuen Bedrohungsszenarien, die selbst Umweltgefahren einschlossen, eine fortgesetzte Existenzberechtigung, ja sie beanspruchte vertrags- und völkerrechtswidrig ein weltweites Interventions- sprich Kriegsführungsrecht, beschloss 1999 in Montreal eine Nuklearstrategie, deren offensive Aggressivität eine neue Qualität aufwies, startete 1999 die Aggression gegen Jugoslawien, rief 2001 zum ersten Mal in ihrer Geschichte den »Verteidigungsfall« aus und marschierte als Hilfstruppe der USA in Afghanistan ein.

Die USA und Russland halten seit einigen Jahren einen großen Teil ihrer Kernwaffen in ständiger Alarmbereitschaft, so dass technische und Informationsfehler jederzeit zum Auslöser eines Nuklearschlages werden können. Die Bundesrepublik klammert sich bis heute an die »nukleare Teilhabe«, den Besitz von Kernwaffeneinsatzmitteln und an Verfügungsrechte über US-Atomwaffen, obwohl sie damit den Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen eindeutig verletzt. Überhaupt zertrümmerten die USA den Großteil des bestehenden Abrüstungs- und Rüstungskontrollsystems. Der für die strategische Stabilität unerlässliche Vertrag über die Beschränkung der Raketenabwehrsysteme wurde gekündigt, die Sicherheitsgarantien für Nichtkernwaffenstaaten aufgehoben (auch durch Großbritannien), der START- und der KSE-Vertrag ebenso nicht ratifiziert wie der Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen. Die Genfer Abrüstungsverhandlungen wurden blockiert. Die Pläne zur Entwicklung von Weltraumwaffen, ein klarer Verstoß gegen das bestehende Abkommen, werden fortgesetzt.

Neuer Akteur im Kampf für dauerhaften Frieden

Die Hochrüstung der USA (und ihrer Partner) hat ein selbst in der Hochzeit des »Kalten Krieges« nicht gekanntes Ausmaß erreicht. 48 Prozent aller weltweiten Militärausgaben und 80 Prozent ihrer jährlichen Steigerung entfielen 2006 nach Berechnungen des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstituts auf die USA.

Die 1989/90 entstandene, von den Bürgerinnen und Bürgern erstrittene Chance auf Abrüstung und dauernden Frieden wurde von der NATO zugunsten globaler Macht- und Militärambitionen und starker Interessen von Rüstungskonzernen zerstört. Sie wiederzugewinnen, ist nicht nur eine weiter bestehende, sondern eine existenzielle Aufgabe. Mag sein, dass USA-Präsident Barack Obama in der Abrüstung konstruktiver verfahren wird als seine Amtsvorgänger. Die Hoffnung sollte man aber nicht darauf setzen, sondern in geistige und politische Bewegung. Immerhin ist nach dem Ende der Sowjetunion auch ein neuer Akteur beim Zustandekommen konkreter Abrüstungsverträge auf der internationalen Bühne erschienen. Die Verträge über das Verbot der Landminen und der Clustermunition sind die ersten Abrüstungsverträge in der Geschichte, die nicht nur unter dem Druck der internationalen Friedensbewegung, sondern auch durch die konkrete und praktische Initiative von nichtstaatlichen Organisationen zustande gekommen sind. Und mit der von Costa Rica vorgelegten, aber ebenfalls in der Zivilgesellschaft ausgearbeiteten Modell-Konvention für das Verbot aller Kernwaffen liegt ein komplexer Vertragsvorschlag auf dem Tisch, für den es sich lohnte, energisch zu kämpfen.

* Dr. Andre Brie war Dozent und Lehrstuhlleiter am Institut für Internatonale Beziehungen in Potsdam-Babelsberg und Berater der DDR-Delegation bei der Genfer Abrüstungskonferenz. Zuletzt saß er für die LINKE im Europaparlament.

* Aus: Neues Deutschland, 31. August 2009


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