Europa und die US-Nuklearpolitik
Auseinandersetzungen wie in den 80er Jahren? Eine Analyse von Jürgen Wagner (IMI e.V.)
Den folgenden Text von Jürgen Wagner veröffentlichte die Wochenzeitung "Freitag" am 19. April 2002 unter dem Titel "Out of business". Wir dokumentieren den Beitrag leicht gekürzt.
... Die Europäer müssen erleben, dass die USA auch für den im März vorlegten Nuclear
Posture Review (NPR) Bündnistreue reklamieren. Die Planungen
der Bush-Regierung zeugen von einer klaren Wende hin zu einer
atomaren Präventiv-Strategie. Sagen die Europäer Nein, winkt der NATO eine Zerreißprobe.
China und Russland gelten weiterhin als mögliche Ziele eines
US-Atomangriffes - doch nicht allein darin besteht die Brisanz des vom
US-Kongress in Auftrag gegebenen, vom Pentagon verfassten und
inzwischen in wesentlichen Teilen veröffentlichten Nuclear Posture Review
(NPR) der Bush-Regierung. Die Amerikaner behalten sich danach auch die
Möglichkeit vor, als Vergeltung für einen Angriff mit chemischen oder
biologischen Kampfstoffen gegen Nicht-Nuklearstaaten Kernwaffen
einzusetzen. Formal hatte Washington zuletzt 1995 erklärt, sich von
solchen Optionen verabschieden zu wollen. Stattdessen zielt der NPR nun
auf "präventive Eliminierung" feindlicher Lager- oder Produktionsstätten für
Massenvernichtungsmittel. Neben Russland und China gilt das den
Nicht-Atomwaffenstaaten Irak, Iran, Libyen, Syrien und Nordkorea. Sofern
die Wirkung konventioneller Waffen nicht ausreiche, fordert der NPR, tief
verbunkerte Arsenale notfalls mit Kernwaffen zu zerstören. ...
In Europa wird mit Kritik an derartigen Szenarien nicht gespart. Am
drastischsten äußerte sich hierzu die britische Labour-Abgeordnete Alice
Mahon: "Die Wahnsinnigen haben im Weißen Haus die Kontrolle
übernommen. Nach dem Nuclear Posture Review müssten überall in der
NATO die Alarmglocken läuten ..."
Verständlich, denn in Washington wächst offenbar die Bereitschaft, die
Zukunft der westlichen Allianz in Frage zu stellen, falls die nicht
bedingungslos hinter der Bush-Strategie im "Anti-Terror-Krieg" wie hinter
einer Non-Proliferations-Politik steht, die atomare Präventivschläge
einschließt. Zwei Statements des republikanischen Senators Richard G.
Lugar, die ohne Abgleich mit George Bush kaum vorstellbar scheinen, sind
in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Im Dezember formulierte
Lugar, dass "die Vereinigten Staaten - ohne jeden Zweifel - ihre komplette
militärische, diplomatische und ökonomische Macht einsetzen werden, um
sicherzustellen, dass Massenvernichtungsmittel global erfasst,
eingedämmt und hoffentlich zerstört werden." In seiner
State-of-the-Union-Rede Ende Januar zog der Präsident nach und ließ an
der Bedeutung des "Kampfes gegen die Proliferation" keinen Zweifel: "Wir
müssen verhindern, dass Terroristen und Regimes, die chemische,
biologische oder nukleare Waffen erlangen wollen, die Vereinigten Staaten
und die Welt bedrohen. ..." ...
Der Grund für den hohen Stellenwert des Themas Proliferation liegt nicht
primär im möglichen Transfer gefährlicher Waffensysteme an Terroristen,
sondern - was auch durch die Bush-Administration nicht bestritten wird -
im möglichen Versuch der "Schurken- oder Achsen-Staaten" mittels
nuklearer, vor allem aber chemischer und biologischer Kampfstoffe die
einzige Weltmacht von einem Angriff auf das eigene Land abhalten zu
wollen. Augenscheinlich sind die USA auch dann zum Präventiv-Einsatz
von Atomwaffen bereit.
Das ist Sprengstoff für die NATO, hat doch Senator Lugar die Allianz
nachdrücklich aufgefordert, sich derartigen Überlegungen zu öffnen. "Die
NATO-Länder sollten darauf vorbereitet sein, sich den USA anzuschließen
... Alte Unterscheidungen zwischen "in" und "out of area" werden
bedeutungslos. Aufgrund der globalen Natur des Terrorismus sind
Beschränkungen irrelevant. [...] Falls die NATO nicht dabei hilft, die
drängende Bedrohung für unsere Länder wirksam abzuwehren, [...] wird sie
aufhören, die wichtigste Allianz zu sein, die sie immer war, und
zunehmend marginalisiert werden." Und an anderer Stelle heißt es bei
Lugar: "Wenn die NATO die Herausforderung, effektiv im Kampf gegen den
Terrorismus zu sein, nicht erfüllt, könnten sich unsere politischen Führer
dazu veranlasst sehen, sich nach etwas umzusehen, das ihren
Bedürfnissen entspricht."
Diese Aussage des Senators, ... darf wohl als explizite Warnung an die
Alliierten in Europa verstanden werden.
Die Europäer stehen damit in nächster Zeit vor gravierenden
Entscheidungen, die mit folgende Fragen verbunden sind: Gibt man die
operative Beschränktheit der NATO - möglicherweise schon in Kürze bei
einem Angriff auf den Irak - gänzlich auf und unterstützt die USA
vorbehaltlos? Die Signale aus Washington sind eindeutig: Entweder der
Irak wird mit Hilfe der NATO angegriffen oder im Alleingang (mit
Großbritannien). Letzteres wäre ein Schritt hin zur von Lugar prophezeiten
Marginalisierung der Allianz. Ist man bereit die US-Nuklearstrategie zu
übernehmen, die atomare Präventivschläge als legitimes Mittel akzeptiert?
Drittens schließlich: Gelingt der technologische Durchbruch bei der
Raketenabwehr (NMD) - wo werden die Systeme und Subsysteme - von
den Vereinigten Staaten abgesehen - eigentlich disloziert? Auch in
Westeuropa oder bieten sich die neuen osteuropäischen NATO-Partner wie
Polen oder Ungarn als Stationierungsraum (selbst) an? Wie verhalten sich
die Westeuropäer in diesem Fall, wenn sich dadurch die Balance innerhalb
des europäischen Teils der NATO verschiebt? Die heraufziehenden
Entscheidungen erinnern an die Stationierung von Pershing-II-Raketen und
Cruise Missiles nach dem sogenannten NATO-Doppelbeschluss von 1979.
Auch damals hatten die Amerikaner keine Skrupel, die Europäer in ihrem
nationalen Interesse auf das nukleare Gefechtsfeld zu schicken.
Vorerst stehen die europäischen Verbündeten noch vor einer anderen
folgenschweren Wahl: Sechs NATO-Staaten, - darunter Deutschland -
verfügen derzeit über Flugzeuge, die zum Abwurf von US-Atomwaffen in der
Lage wären. Im Rahmen der "nuklearen Teilhabe" könnten die USA in
absehbarer Zukunft gemeinsame Einsätze nach Kriterien der neuen
US-Nukleardoktrin fordern. Aus ihrer Sicht kann die Frage nur lauten:
Können wir mit den Europäern rechnen, wenn staatliche, aber auch
nichtstaatliche Akteure, die nach Massenvernichtungsmitteln streben,
notfalls mit Atomwaffen attackiert werden?
Schon auf dem Treffen der NATO-Verteidigungsminister am 6./7. Juni in
Brüssel, wenn über die Zukunft der NATO-Nuklearpolitik entschieden
werden soll, könnte es um eine Antwort gehen. Da man in Washington
weiß, dass diese Pläne auf Widerstand stoßen, werden die Europäer
gerade jetzt an ihre Bündnispflicht erinnert, was seine Wirkung nicht
verfehlt. Vor kurzem erklärte der britische Außenminister Jack Straw: "Es
gibt sicher Staaten, die abgeschreckt werden können. [...] Bei
besorgniserregenden Staaten bin ich mir dabei viel weniger sicher. Sie
können auf alle Fälle davon ausgehen, dass wir unter den richtigen
Umständen dazu bereit sein werden, unsere Nuklearwaffen zu benutzen."
Hat man in Berlin oder Paris den politischen Willen, dem zu widerstehen
und - wenn ja - auch das Rückgrat, dafür eine wachsende Kluft mit
Washington zu riskieren? ...
Wolfgang Wagner ist Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V., Tübingen.
Aus: Freitag, 19. April 2002
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