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Ein Neu-START für den Abrüstungsdialog

Washington und Moskau streben deutliche Reduzierung ihrer Kernwaffen an

Von Wolfgang Kötter *

Wenn sich die Außenminister der USA und Russlands, Hillary Clinton und Sergej Lawrow, heute (6. März) in Genf treffen, stehen die Atomwaffen beider Staaten ganz oben auf ihrer Gesprächsliste.

Es ist höchste Gefahr im Verzug, denn das in vier Jahrzehnten errichtete Gebäude zur Einhegung des nuklearen Wettrüstens droht einzustürzen. Mit der Aufkündigung des ABM-Vertrages durch die Bush-Regierung war bereits ein wichtiger Baustein des Fundaments weggebrochen. Diese Vereinbarung verbot Defensivsysteme, die das eigene Territorium vor gegnerischen Raketen abschirmen, und ebnete dadurch den Weg zur Verringerung der Angriffswaffen. Der entsprechende Vertrag START-1 aber läuft am 5. Dezember aus. Wenn bis dahin keine Nachfolgeregelung erreicht wird, könnte sich das Wettrüsten erneut verschärfen. Radikaler Abbau von Sprengköpfen?

Durch den Regierungswechsel in den USA scheint sich jedoch eine Chance zu eröffnen. Mehrfach hat Präsident Barack Obama betont, dass er danach strebe, letztlich alle Atomwaffen abzuschaffen. Medienberichten zufolge werden die USA vorschlagen, die Zahl der nuklearen Sprengköpfe radikal um 80 Prozent auf jeweils etwa 1000 Stück zu verringern. Wenn die operativ stationierten Waffen die Ausgangsgröße bilden, bedeutete dies für die USA 2200 und für Russland etwa 2700 Sprengköpfe weniger. Würden jedoch auch die eingelagerten und die zu verschrottenden gezählt, kämen die USA auf 9400 und Russland auf rund 14 000. In jedem Fall sollen Sprengköpfe und Trägersysteme endgültig und unter Überwachung verschrottet und nicht, wie im SORT-Vertrag vorgesehen, nur eingelagert werden.

Hauptstreitpunkt war bisher, welche Waffen wie gezählt werden. Während die USA lediglich die operativ stationierten Nuklearsysteme einbeziehen wollen, fordert Russland, alle potenziell nuklear nutzbaren Waffen und Trägermittel zu zählen. Dahinter verbirgt sich das Bemühen der US-Militärs, bestimmte für konventionelle Einsätze umgerüstete Systeme wie U-Boote, Marschflugkörper oder Raketen, die für das Programm »Prompt Global Strikes« vorgesehen sind, unberücksichtigt zu lassen. Durch die »schnellen globalen Schläge« sollen Ziele in kürzester Zeit mit Präzisionsangriffen bekämpft werden. Praktisch könnten die Systeme bei Bedarf aber schnell wieder atomar umgerüstet werden.

Moskau kann sich den Unterhalt des riesigen und teilweise veralteten Atomarsenals nicht mehr leisten. Außerdem sollen nach Angaben von Vizepremier Sergej Iwanow die strategischen Atomwaffenkräfte bis 2020 modernisiert werden. Deshalb wird angestrebt, die erlaubten Zahlen so niedrig wie möglich zu halten. Aber natürlich nur auf gegenseitiger Basis und ohne das Risiko, von einer plötzlich wieder aufgestockten gegnerischen Atomarmada bedroht zu werden.

Russland wird einer geringen Zahl von Offensivwaffen jedoch nur zustimmen, wenn es auch in der Frage der Defensivwaffen eine Einigung gibt. »Die 1000 Sprengköpfe, über die die Amerikaner verfügen, können mühelos unser Territorium erreichen, denn wir befinden uns nicht im Besitz eines ähnlichen Raketenabwehrsystems«, mahnt der Präsident der russischen Akademie für Geopolitik, Leonid Iwaschow. »Was aber unsere Sprengköpfe anbelangt – hier kann man nicht sicher sein, ob sie ihr Ziel erreichen werden. Daher dürfen wir dieser Reduzierung oder Begrenzung nicht einfach vorbehaltlos zustimmen.«

In diesem Zusammenhang ist auch die geplante Stationierung des US-amerikanischen »Raketenschilds« in Polen und Tschechien zu sehen. Weil Offensiv- und Defensivwaffen in ihrer Wechselwirkung untrennbar zusammenhängen, können die Themen START-Nachfolge und US-Abwehrraketen in Europa nur im Paket behandelt werden. Dmitri Medwedjew hat eine doppelte »Nulllösung« angeboten. Demzufolge wäre Moskau bereit, auf die Stationierung von Raketen in der Exklave Kaliningrad zu verzichten, wenn die USA ihre Pläne aufgäben.

Medwedjew erklärt sich arbeitsbereit

Die neue US-Regierung und der Kongress stehen dem Raketenprojekt ohnehin kritisch gegenüber. Verteidigungsminister Robert Gates kündigte an, man werde das Vorhaben im Kontext der Beziehungen zu Polen, Tschechien, dem NATO-Bündnis und den Beziehungen zu Russland erörtern. Die Vorsitzende des Streitkräfteausschusses im Repräsentantenhaus, Ellen Tauscher, erklärte, der Kongress habe im Verteidigungshaushalt festgelegt, dass »wir keine weiteren Langstrecken-Abwehrraketen stationieren, bis sie ausreichend getestet sind, der Verteidigungsminister ihre Wirksamkeit unter Einsatzbedingungen bestätigt hat und die Länder, mit denen wir verhandeln (...) die Stationierungsabkommen nicht nur unterschrieben, sondern auch ratifiziert haben.« Von all dem aber sei bisher nichts passiert.

In seinem »geheimen« Brief an Medwedjew soll Obama sogar angeboten haben, auf die Aufstellung der Raketenabwehr in Osteuropa zu verzichten. Auch Außenministerin Clinton lockte, man würde »auf die Stationierung verzichten, wenn es mit Moskaus Hilfe gelingt, dass Iran seine Programme zur Entwicklung von Atomwaffen und ballistischen Raketen einstellt«. Zwar dementierten beide Seiten zunächst ein Junktim, aber möglicherweise sieht man in der Verknüpfung eine Möglichkeit zum gesichtswahrenden Ausstieg aus dem Osteuropaprojekt. Laut Vizeaußenminister William Burns »sind die USA offen für die Möglichkeit neuer Formen der Kooperation auf dem Gebiet der Raketenabwehr«. Dabei könne es um eine neue Konfiguration des Abwehrsystems gehen, bei der man die Ressourcen Russlands und der NATO nutzt.

Medwedjew reagierte postwendend: »Was wir in letzter Zeit von Vertretern der neuen US-Regierung über die Zukunft der russisch-amerikanischen Beziehungen gehört haben, löst eine positive Reaktion aus«, ließ er verkünden. Er sei bereit, »an allen Aspekten der bilateralen Kooperation, darunter an den Abrüstungsfragen, bis ins Detail zu arbeiten«.

Umfangreicher Aufgabenkatalog

Mit der Reduzierung von Kernwaffen ist der Katalog verhandlungswürdiger Themen jedoch längst nicht ausgeschöpft. Um die Gefahr eines irrtümlichen Atomkrieges zu verringern, will Obama eine Absenkung der Gefechtsbereitschaft für Nuklearwaffen und eine gegenseitige Verpflichtung zur Nicht-erstanwendung erreichen. Zudem sollte vereinbart werden, kein nukleares Spaltmaterial für militärische Zwecke mehr zu produzieren und bestehende Bestände besser zu sichern. Schließlich wäre man bereit, auf Anti-Satellitenwaffen zu verzichten und das bilaterale Verbot von atomaren Mittelstreckenraketen global auszuweiten.

Im Mai beginnt die letzte Vorbereitungsrunde für die im Frühjahr kommenden Jahres stattfindende Überprüfungskonferenz des Kernwaffensperrvertrages. Ohne substanzielle Fortschritte bei der atomaren Abrüstung dürfte der Vertrag kaum zu retten sein. Um ein Scheitern zu verhindern, wird das Inkrafttreten des Teststoppvertrages dringend gebraucht. Eine Ratifizierung durch die USA könnte möglicherweise auch die übrigen Verweigerer, unter ihnen China, Indien, Pakistan und Israel, zur Kurskorrektur bewegen. Generell erwarten die übrigen Staaten von den USA mehr Kooperation und ein konstruktives Auftreten in den multilateralen UNO-Abrüstungsgremien in New York, Genf und Wien.

Lexikon

START - Strategic Arms Reduction Treaty

START 1: Der erste Vertrag zur Verringerung der Strategischen Nuklearwaffen wurde am 31. Juli 1991 von George Bush sen. und Michail Gorbatschow unterzeichnet. Er trat am 5. Dezember 1994 in Kraft und sah eine Verminderung auf jeweils 1600 Trägersysteme mit maximal 6000 anrechenbaren Nukleargefechtsköpfen vor. Ohne Verlängerung läuft der Vertrag im Dezember 2009 aus.

START 2: Der Vertrag wurde am 3. Januar 1993 von Bush und Boris Jelzin unterzeichnet, trat jedoch nie formal in Kraft. Beide Seiten hielten sich aber weitgehend an die Hauptbestimmungen – den Abbau der strategischen Atomsprengköpfe auf jeweils 3000-3500. Der vereinbarte Verzicht auf Mehrfachsprengköpfe wurde von Moskau nach Aufkündigung des ABM-Vertrages über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen durch die USA für hinfällig erklärt.

SORT - Strategic Offensive Reductions Treaty

Der Vertrag über die Reduzierung Strategischer Offensivwaffen wurde am 24. Mai 2002 von Wladimir Putin und George W. Bush unterzeichnet und trat am 1. Juni 2003 in Kraft. Die USA und Russland verpflichten sich, innerhalb von 10 Jahren ihre strategischen Kernwaffenpotenziale um zwei Drittel auf je 1700 bis 2200 zu verringern. Doch sollen die Sprengköpfe nicht vernichtet, sondern nur eingelagert werden, sodass sie jederzeit für die Umrüstung auf neue Kernwaffen wie Mini-Nukes und Bunkerbrecher verwendet werden können. Zudem gibt es keine Kontrollbestimmungen. Der Vertrag ist innerhalb von drei Monaten kündbar und gilt bis Ende 2012.

W.K.



* Aus: Neues Deutschland, 6. März 2009


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