30 Staaten haben Programme zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen
Antwort der USA: Der vorbeugende Nuklear-Angriff
Die Enthüllung der "Washington Post" am 11. September 2005 schlug wie eine Bombe ein: Bereits seit dem 15. März d.J. existiere ein Entwurf für eine neue Nuklear-Doktrin, die von den US-Stabschefs erarbeitet wurde und nun nur noch von Verteidigungsminister Rumsfeld unterzeichnet werden müsse. Diese Doktrin hat es in sich, wie ein Blick in das Dokument "Doctrine for Joint Nuclear Operations" zeigt. Die Berichterstattung in den Medien war - auch hier zu Lande - sehr breit.
Im Folgenden dokumentieren wir einen kleinen Ausschnitt aus Presseberichten und Kommentaren.
"Spiegel-online"
Zuletzt war es um den RNEP gegangen, den Robust Nuclear Earth Penetrator. Die Bunker brechende Atom-Bombe stand bereits Anfang 2003 ganz oben auf der Wunschliste des Pentagon, im April dieses Jahres hatte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld erneut für die Entwicklung der Waffe plädiert, auch wenn Experten eindringlich davor warnten: Beim Einsatz eines nuklearen Bunkerbrechers gäbe es durch frei werdende Radioaktivität Zehntausende Strahlenopfer.
Sollte die neue Verteidigungsdoktrin in Kraft treten, die das Pentagon dem Verteidigungsministerium vorlegen will, könnte der RNEP bald zum festen Bestandteil des nuklearen Arsenals der USA gehören.
Grundlage für die Revision der bisherigen Statuten ist die Empfehlung, gegen Nationen oder terroristische Vereinigungen, die im Besitz von Massenvernichtungswaffen sind, notfalls einen nuklearen Erstschlag zu verüben. Auch die Zerstörung von biologischen, chemischen und nuklearen Waffenlagern soll dann per Atomwaffen möglich sein.
Das Papier soll dem Präsidenten "alle Möglichkeiten" geben, um gegen eine Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen der USA oder ihrer Verbündeten vorzugehen. Die bislang maßgebliche Fassung der Doktrin datiert aus der Zeit Clintons und erwähnt weder den präventiven noch sonst welchen Einsatz von Nuklearwaffen.
Der Neufassung zufolge kommen für einen nuklearen Angriff unter anderem in Frage:
-
ein Aggressor, der Massenvernichtungswaffen gegen die amerikanischen Militärstreitkräfte oder ihre Verbündeten beziehungsweise Teile der Zivilbevölkerung einsetzt oder "deren Einsatz plant";
- ein Aggressor, dessen biologische Waffen nur mit Nuklearwaffen komplett zerstört werden können.
Auch die RNEPs stehen wieder auf der Agenda: Im letzten Jahr vom Kongress noch auf Eis gelegt, werden Entwicklung und Einsatz der Bunkerbrecher für "Angriffe auf feindliche Stellungen, die Massenvernichtungswaffen lagern" und auf "Bunker, die chemische oder biologische Waffen enthalten", empfohlen.
(...)
Aus: Spiegel-online, 11. September 2005
Die Presse (Österreich):
(...) Man müsse Freund und Feind von der Entschlossenheit der USA überzeugen, heißt es nun in dem 69-seitigen Pentagon-Papier. Terroristen und feindliche Staaten müssten überzeugt sein, dass die USA ihnen bei einem Angriff entweder zuvorkommen oder unverzüglich Vergeltung üben würden. "Das Wissen eines potenziellen Feindes, dass die USA die Möglichkeiten und den Willen (zum Einsatz von Atomwaffen, Anm.) haben, trägt zu einer effektiven Abschreckung bei", schreibt Norton Schwartz, Direktor des Generalstabs, in dem Entwurf.
Die Adaption der Nuklear-Doktrin sei trotz des Endes des Kalten Krieges notwendig, weil die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen (Proliferation) die Gefahr erhöht habe, dass die Waffen auch eingesetzt würden. Es gebe etwa 30 Staaten mit Programmen zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen, dazu kämen "nicht-staatliche Akteure", also Terroristen.
Mit der neuen Doktrin wird laut "Washington Post" auch die Herstellung von kleinen Atombomben wieder aktuell, die beispielsweise gegen Bunker eingesetzt werden könnten. Vergangenes Jahr stoppte der Kongress die Finanzierung einer Machbarkeitsstudie, das Pentagon beharrt aber auf der Notwendigkeit solcher Waffen im Kampf gegen den Terrorismus.
Aus: Die Presse, 12. September 2005
"junge Welt":
Obwohl sich die USA auch nach Ende des Kalten Krieges stets das Recht auf Ersteinsatz von Nuklearwaffen vorbehalten hatten, sollte deren Einsatz nach bisher geltender Doktrin nur im Rahmen von bereits laufenden konventionellen Kampfhandlungen erfolgen. Im Ernstfall die Intensität des Krieges durch den Einsatz von Nuklearwaffen nach oben oder nach unten fahren zu können, war z.B. während des Kalten Kriegs ein fester Bestandteil der US-Doktrin, die damals vom Pentagon unter dem Euphemismus der »kontrollierten Eskalation« auch in der NATO durchgesetzt wurde. Weil die Washingtoner Strategen im Gegensatz zu ihren sowjetischen Kollegen davon ausgingen, daß die nukleare Eskalation »kontrolliert« werden könnte, war diese Doktrin eine Bedrohung an sich. Aber nun will Präsident George W. Bush noch eins draufsetzen.
Laut Washington Post hat das Pentagon unter Federführung von General Richard B. Myers, Vorsitzender der Vereinigten Stabschefs, in den letzten Jahren die US-Nuklearwaffendoktrin überarbeitet, um sie mit der Präventivkriegsstrategie kompatibel zu machen, die Bush im Dezember 2002 zum ersten Mal vorgestellt hatte. Der Entwurf der neuen Doktrin muß nur noch von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld abgesegnet werden. Kern ist, dass die US-Spitzenmilitärs den Präsidenten um die Freigabe von Nuklearwaffen bitten können, um einem vermuteten bzw. geplanten Angriff mit Massenvernichtungswaffen auf die USA zuvorzukommen. Da der amerikanische Angriffskrieg gegen Irak unter Zugrundelegung der gleichen Kriterien geführt wurde, ist klar, daß diese jüngste Bedrohung der Welt durch US-Massenvernichtungswaffen keine Fiktion ist. Zudem enthält die neue US-Doktrin eine Option, die auf den aktuellen Konflikt Washingtons mit Teheran zugeschnitten zu sein scheint: Nämlich den »präventiven« Einsatz von Nuklearwaffen, um angebliche Bestände von biologischen, chemischen und nuklearen Waffen in sogenannte Schurkenstaaten zu zerstören.
Aus: junge Welt, 12. September 2005
Der "Tagesspiegel" (Berlin):
(...) Das im Internet veröffentlichte Papier, ein Entwurf im letzten Abstimmungsstadium, trägt das Datum vom 15. März 2005. Nach Angaben der „Washington Post“ entdeckte es Hans M. Kristensen, ein Mitarbeiter der Umweltgruppe Natural Resource Defense Council, auf einer Pentagon-Website. Bisher waren die Entwürfe für eine neue Doktrin unter Verschluss gehalten worden. Nach den Vorstellungen des US-Militärs könnte der Präsident den Einsatz von Atomwaffen gegen einen Aggressor anwenden, der Massenvernichtungswaffen nutzt „oder plant, sie zu benutzen“ und damit Amerika, seine Verbündeten, internationale Truppenverbände oder die Zivilbevölkerung bedroht.
Ein zweites Szenario für einen nuklearen preemptiven Militärschlag sehen die Planer für den Fall eines Angriffes zum Beispiel mit biologischen Waffen, die nur durch Atomwaffen „sicher zerstört werden können“. Schließlich seien die Atombomben nützlich, um sie gegen „feindliche Installationen mit Massenvernichtungswaffen wie tiefe, feste Bunker mit biologischen oder chemischen Waffen“ einzusetzen und so deren Verbreitung in der Atmosphäre zu verhindern. Die US-Militärs gehen bei ihren Planspielen davon aus, dass trotz des Endes des Kalten Krieges die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen „die Gefahr erhöht, dass Atomwaffen benutzt werden“. Sie machten 30 Staaten aus, die Programme für Massenvernichtungswaffen hätten und die zum Teil Terroristen unterstützten.
„Die Doktrin hält sich nicht an das Versprechen der Bush-Regierung, die Rolle der Atomwaffen zu begrenzen“, kritisiert Kristensen, „es liefert die Rechtfertigung für unbewiesene Szenarien und impliziert die Notwendigkeit für Bunker-Buster.“ Die Militärs betonen, dass es wichtig sei, die Welt im Unklaren darüber zu lassen, unter genau welchen Umständen Washington sich zum Nuklearschlag entschließe. Die US-Regierung müsse nach außen entschlossen auftreten und den Eindruck vermitteln, sie habe die militärischen Mittel und den Willen, jeder Bedrohung schnell zu begegnen. (...)
Aus: Der Tagesspiegel, 12. September 2005
Der Standard (Wien):
(...) Ein Sprecher der Behörde sagte, der Entwurf sei noch nicht Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vorgelegt worden. Auf der Website des Ministeriums selbst war es zunächst als nicht verfügbar aufgelistet.
Da Terroristen oder Staaten in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommen könnten, bräuchten die USA ein umfangreiches Potenzial, um "Freund und Feind von ihrer Entschlossenheit zu überzeugen", heißt es in dem 69-seitigen Papier, dessen letzte Fassung auf den 15. März datiert ist.
Die US-Streitkräfte müssten über eine glaubwürdige Abschreckung gegen potenzielle Gegner verfügen, die Zugang zu moderner Militärtechnologie hätten, so der Entwurf. Zu dieser Technologie gehörten auch Massenvernichtungswaffen und die Möglichkeiten, sie zu liefern. Potenzielle Gegner müssten überzeugt sein, dass die USA die Möglichkeit und den Willen hätten, "ihnen zuvorzukommen oder unverzüglich Vergeltung zu üben", und zwar "mit Reaktionen, die glaubwürdig und effektiv sind". Abschreckung solle auch gegen Staaten gerichtet sein, die die Bemühungen von Einzelpersonen oder Gruppen unterstützen, an Massenvernichtungswaffen heranzukommen, heißt es weiter.
Die Regierung in Washington will außerdem einen nuklearen Sprengkopf entwickeln lassen, der Ziele tief unter der Erde zerstören kann. Der Kongress hatte sich im vergangenen Jahr dagegen ausgesprochen, der Senat hat im Juli jedoch die Wiederbelebung dieses Programms beschlossen. (APA/AP)
Diskussion um atomare "Präventivschläge"
Aus: Der Standard, 11. September 2005 (online-Ausgabe)
Der "Blick" (Schweiz):
Das US-Verteidigungsministeriums liebäugelt mit dem vorbeugenden Nuklear-Angriff: Weil das Risiko der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen massiv zugenommen hat, spielt die Atom-Option für die Supermacht wieder eine ernsthafte Rolle.
In einem jetzt bekannt gewordenen Dokument des Pentagons heisst es, die Entscheidung über solche Einsätze zur Abschreckung von Terroristen liege bei Präsident George W. Bush. Die «Doktrin für gemeinsame Nuklearoperationen» wurde zuletzt vor zehn Jahren aktualisiert.
Da Terroristen oder Staaten in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommen könnten, bräuchten die USA ein umfangreiches Potenzial, um «Freund und Feind von ihrer Entschlossenheit zu überzeugen», heisst es in dem 69-seitigen Papier, dessen letzte Fassung auf den 15. März datiert ist.
Ferner sollten die USA unter Umständen auch gegen Staaten mit Atomwaffen vorgehen, die versuchen, ABC-Waffen an Extremistengruppen weiterzureichen. Die Doktrin würde das Pentagon zudem ermächtigen, Atomwaffen in allen Regionen der Welt zu stationieren.
Aus: Blick, 11. September 2005 (online-Ausgabe)
Die Welt
(...) Der Entwurf fordert die Befehlshaber der verschiedenen US-Einheiten weltweit auf, spezielle Pläne für den Einsatz nuklearer Waffen zu entwickeln. Er beschreibt Szenarien, unter denen es gerechtfertigt sein könne, die Erlaubnis vom Präsidenten für den Einsatz dieser Waffen einzuholen. So könnte dem Entwurf zufolge ein präventiver Atomangriff auf Staaten oder Extremistengruppen ratsam sein, die einen Angriff mit Massenvernichtungswaffen auf die USA oder verbündete Kräfte planen. Der Einsatz von Nuklearwaffen könne aber auch beschlossen werden, um konventionelle Kriege rascher zu beenden oder "den Erfolg von US- und multinationalen Operationen zu gewährleisten". Auch könnten Atomsprengköpfe zum Einsatz kommen, um Bunkeranlagen mit chemischen und biologischen Waffen beziehungsweise die Kommandozentrale für deren Einsatz zu zerstören. Dabei sollten die USA mit Atomwaffen auch gegen feindliche Staaten vorgehen, die versuchten, militante Extremisten mit ABC-Waffen auszurüsten. (...)
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Aus: Die Welt, 12. September 2005
Kommentare
Politische Steinzeit
Von René Heilig
Der US-Präsident zögerte allzu lange, um den Flutopfern, also seinen Landsleuten, die Hilfe zu schicken, die sie brauchen. Doch daraus abzuleiten, dass Bush generell ein zurückhaltender Mensch wäre, ist absurd. Vor gut zwei Jahren hatte er seine Militärs angewiesen, doch mal zu überlegen, was man mit den so sorgsam gepflegten und weltweit aktivierbaren Atomwaffen anstellen könnte – jetzt, da ein globaler Krieg nicht mehr lukrativ ist. Und da es um ihre Bedeutsamkeit ging, schrieben die Generale ganz schnell 69 Seiten mit »präventiven« Anwendungsmöglichkeiten voll. Fazit der Pentagon-Studie: Keiner, egal ob Terrorist oder »Feindstaat«, ist vor nuklearer US-Gewalt sicher. Dass dabei »ein paar« Unbeteiligte mehr ins Gras beißen müssten – ja und? Selbst in New Orleans zeigten die Bush-Gewaltigen, dass ihnen Mensch und Mensch nicht gleich viel gelten...
Die USA finden wieder Anschluss an die politische Steinzeit. Auch ohne dass eine Systemauseinandersetzung droht oder jemand Angst vor einer »roten« oder »gelben« Gefahr haben müsste. Es geht schlicht und einfach darum, dass der, der die Keule hat, zuschlagen darf, wenn es eigenen Interessen entspricht. Ungestraft. Ohne Gegenwehr zu fürchten. Doch gerade das ist fraglich. Wer anderen mit Atomwaffen droht, zieht Hass auf sich. Die jüngsten Drohungen von »Al Qaida« – oder wer immer sich dafür ausgeben mag – erinnern daran, dass auch vorgeblich Schwache gnadenlos stark sein können.
Aus: Neues Deutschland, 13. September 2005
Neue Doktrin
Der Washington Post zufolge erwägt das Pentagon eine Änderung der US-Atomwaffendoktrin - Von Christoph Winder
In einem Zusammentreffen, wie man es symbolträchtiger kaum hätte arrangieren können, hat die Washington Post exakt am vierten Jahrestag der 9/11-Anschläge mit bemerkenswerten Neuigkeiten aus dem US-Verteidigungsministerium aufgewartet. Der Zeitung zufolge erwägt das Pentagon eine Änderung der US-Atomwaffendoktrin, die dahin geht, dass Nuklearwaffen auch zu Präventivschlägen eingesetzt werden sollen, um einen Angriff mit Massenvernichtungswaffen zuvorzukommen. Bemerkenswert ist auch, woher die Zeitung ihre Informationen hat: Von der Internetseite des Pentagon nämlich, wo die entsprechenden Pläne wie auf einem schwarzen Brett einzusehen waren. Aus diesem Weg wird sich die Botschaft wohl auch schnell nach Pjöngjang und Teheran verbreitet haben.
Das modifizierte Regelwerk, das die Bedingungen solcher Präventivschläge festlegen würde, hat noch keinen offiziellen Charakter, sondern steckt erst irgendwo in der Pipeline zwischen den Generälen, die das Papier ausgearbeitet haben, und Ressortchef Donald Rumsfeld, der es noch nicht abgesegnet haben soll. Es ist allerdings kaum anzunehmen, dass die Militärs bei Rumsfeld auf großen Widerstand stoßen werden. (...)
Aus: DER STANDARD, 13. September 2005
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