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Nuklear-Terrorismus: Das Fenster der Verwundbarkeit ist weit aufgestoßen

Der Eigenbau von Atomsprengköpfen ist heute ebenso möglich wie der konventionelle Angriff auf ein Kernkraftwerk

Von Wolfgang Kötter*

Seit den Attentaten vom 11. September 2001 häufen sich die Warnungen vor terroristischen Anschlägen mit atomaren, biologischen oder chemischen Waffen, die noch verheerendere Folgen hätten als die Zerstörung der Twin Towers in New York. Nach dem Urteil des Internationalen Instituts für Strategische Studien (IISS) in London hat der Irak-Krieg die Wahrscheinlichkeit derartiger Anschläge noch erhöht. "Das Risiko, dass al-Qaida Massenvernichtungswaffen erwirbt und einsetzt, steigt weiter", heißt es auch in einem UN-Bericht. Angriffe mit ABC-Waffen könnten sich gegen Chemiefabriken oder Atommeiler richten, doch auch Sportstadien, Stadtzentren, U-Bahn-Schächte oder zentrale Klimaanlagen sind potenzielle Ziele. Wie real sind diese Gefahren - welches wären die möglichen Szenarien? Wir beginnen heute eine dreiteilige Folge zu diesem Thema.

Besonnene Stimme warnten nach dem 11. September 2001 die USA und den Westen überhaupt vor Rache und Vergeltung. Dies geschah nicht nur, weil erkennbar war, dass Operationen wie die Intervention gegen Afghanistan im Oktober/November 2001 mit den Normen des Völkerrechts nicht vereinbar waren, sondern auch die Rückwirkungen für hoch entwickelte und daher hoch verwundbare Gesellschaften wie in Nordamerika oder Westeuropa auf der Hand lagen. Die Gefahr, ins Visier terroristischer Kommando-Unternehmen zu geraten, wurde und wird nicht zuletzt mit dem Begriff "Nuklearterrorismus" auf den Punkt gebracht. Es ist heute weniger denn je auszuschließen, dass es zum Eigenbau nuklearer Sprengsätze kommt oder konventionelle Angriffe auf Kernkraftwerke zu "Worst-Case-Szenarien" führen.

Noch befinden sich keine Atomwaffen in den Händen von Terroristen, versichert die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien, auch sei deren Herstellung bislang noch zu aufwendig und zu teuer, um sie außerhalb tradierter staatlicher Strukturen betreiben zu können. Sehr viel anders stelle sich die Lage allerdings dar, wenn potenzielle Täter auf die mögliche Unterstützung durch Staaten rechnen könnten, die über Kernwaffen verfügen beziehungsweise diese entwickeln.

Unabhängig davon ist es nie auszuschließen, dass terroristische Kommandos in den Besitz nuklearer Sprengköpfe gelangen - keine abwegige Dramaturgie bei einem Arsenal von über 30.000 Atomwaffen (siehe Übersicht) weltweit. Expertisen bestätigen überdies, dass Terroristen grundsätzlich in der Lage wären, einen nuklearen Sprengsatz auch selbst zu bauen. Die dafür nötigen Kenntnisse sind frei verfügbar, spezifische theoretische Grundlagen sogar im Internet nachzulesen. Relativ mühelos rekonstruierbar wäre ein nuklearer Sprengkörper, der zunächst nur die Fähigkeit besäße, eine Kernexplosion auszulösen. Wie die Hiroshima-Bombe 1945 bräuchte er ein einfaches Design und beträchtliche Mengen an Nuklearmaterial, würde allerdings über ein solches Gewicht verfügen, dass nur ein Transport per Schiff, Flugzeug oder Lastwagen denkbar wäre - keinesfalls jedoch mit einer ballistischen Rakete. Zudem wäre nicht mit absoluter Sicherheit garantiert, dass ein solcher Sprengkopf tatsächlich detoniert.

Auf dem nuklearen Supermarkt

Eine der größten Hürden für Terroristen bleibt der Erwerb des atomaren Brennstoffs, denn nur metallisches Plutonium oder hochangereichertes Uran (HEU) können direkt in Kernwaffen eingesetzt werden. Grob geschätzt benötigt man für einen Sprengkopf mindestens 20 Kilogramm HEU oder acht Kilogramm Plutonium. Nach Angaben des Bulletin of the Atomic Scientists gibt es derzeit auf der Welt 3.755 Tonnen nukleares Spaltmaterial (siehe Übersicht).

Nicht eindeutig beantworten lässt sich die Frage, ob Terroristen nicht teilweise bereits im Besitz dieser waffenfähigen Ausgangsstoffe sind. Seit 1993 hat die IAEA immerhin 630 offiziell bestätigte Fälle von illegalem Handel mit radioaktivem Material registriert. Wie der internationale Schmuggelring um den pakistanischen Atomwissenschaftler Abdul Quader Khan zeigt, ist gegen entsprechende Bezahlung auf dem globalen Schwarzmarkt von der Blaupause für den Bau der Bombe bis zur Urananreicherungs-Technik und nuklearem Spaltmaterial alles zu haben. Osama bin Laden soll wiederholt Interesse an Kernwaffen geäußert und vermutlich auch versucht haben, sich hochangereichertes Uran zu verschaffen. Laut Aussage des al Qaida-Aussteigers Jamal Ahmed al-Fadl vor einem New Yorker Bundesgericht war er von der al Qaida-Führung beauftragt, nukleares Spaltmaterial in Südafrika zu kaufen. Das US-Magazin Time schreibt in seiner Novemberausgabe, al Qaida habe gleichfalls geplant, atomares Material von Europa aus über Mexiko in die USA zu schmuggeln - verifizieren lassen sich derartige Angaben freilich nicht.

Die "schmutzige" Bombe

Experten halten momentan die Fabrikation radiologischer Waffe, bei denen Strahlungsmaterial durch eine herkömmliche Explosion verbreitet wird, für wahrscheinlicher als den illegalen Bau von Kernwaffen durch terroristische Gruppierungen. Durch den Einsatz dieser sogenannten "schmutzigen" Bombe ließen sich durch weiträumig verteilten radioaktiven Staub in den dicht besiedelten Metropolen des Nordens ganze Stadtbezirke verstrahlen - eine Verseuchung mit verheerenden Folgen. Zunächst einmal wäre die sofortige Evakuierung der Bevölkerung an einen enormen logistischen und materiellen Aufwand gebunden. Außerdem müssten die kontaminierten Gebiete gereinigt, vor allem die kontaminierten Gebäude mit Wasser abgespritzt werden, das danach wie extrem gefährlicher Giftmüll zu behandeln wäre. Millionen Kubikmeter hätte man unter extrem restriktiven Sicherheitsvorkehrungen zu lagern.

Wer die "schmutzige" Bombe wirft, will primär Panik und Angst auslösen, aber nicht minder für ruinöse wirtschaftliche Folgewirkungen sorgen. Einen bestürzenden Eindruck über Konsequenzen eines solchen Infernos vermittelt ein Vorfall, der sich 1987 in der brasilianischen Stadt Goiânia ereignete. Ein für die Strahlentherapie gebräuchliches Gerät wurde auf einem Schrottplatz entdeckt und geöffnet. Die Finder malten sich mit dem leuchtend blauen Staub - es handelte sich um radioaktives Cäsium-137 - die Gesichter an. Vier Menschen starben, zwischen 40.000 und 50.000 wurden verstrahlt.

Relativ leicht zu beschaffen sind im Übrigen die für eine "schmutzige" Bombe nötigen radioaktiven Substanzen aus der Wiederaufbereitung in Atomkraftwerken oder Forschungsreaktoren. Cäsium, Strontium oder Kobalt werden zudem in Hospitälern, Fabriken, Universitäten oder Privatlabors verwendet und verschwinden zuweilen spurlos. Vorzugsweise in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion mangelt es häufig an Geld, Personal und Überwachungstechnik für eine gesicherte Lagerung nuklearen Materials. Aber auch in den USA gelten die Verwahrungspraktiken wie Sicherheitsbestimmungen als unzureichend. Eine Prüfungskommission des US-Kongresses fand heraus, dass seit 1989 in den USA mehr als 1.300 Strahlungsquellen verloren, gestohlen oder abgeschrieben wurden. Um Nukleardiebstahl zu verhindern, hat die IAEA ein umfangreiches "Antiterror-Programm" aufgelegt und einen Sonderfonds eingerichtet, um die Sicherheitsdefizite rechtzeitig zu identifizieren und in den betreffenden Ländern Schutzmaßnahmen veranlassen zu können.

Angriffsziel Atommeiler

Immer wieder werden auch Befürchtungen laut, es könnte konventionelle Angriffe gegen die Atomwirtschaft geben, um dadurch eine radioaktive Verseuchung großer Territorien auszulösen. Würde ein vollgetanktes Passagierflugzeug in eines der weltweit 440 Atomkraftwerke gesteuert, könnte die dadurch verursachte Katastrophe mit ziemlicher Sicherheit die Havarie von Tschernobyl um ein Vielfaches übertreffen, weite Landstriche verstrahlen und auf lange Zeit unbewohnbar machen. Die meisten Reaktoren sind nach dem Urteil von Fachleuten aus bautechnischer Sicht nicht gegen Attacken aus der Luft geschützt. Berechnungen Schweizer Wissenschaftler zufolge wären bei einem Anschlag auf einen Atommeiler unter Umständen Millionen von Menschen zu evakuieren, während in einem Gebiet von etwa 20.000 Quadratkilometern die Existenzgrundlagen schwer geschädigt würden. Auch die deutschen Atomkraftwerke - so eine Studie der Gesellschaft für Reaktorsicherheit - seien gegen Attentate mit Flugzeugen nur schlecht gesichert, so dass in keinem der 19 Meiler eine Nuklearkatastrophe auszuschließen wäre.

Laut Untersuchungen des Sandia National Laboratory in New Mexico müssten Bomben nicht einmal auf dem Kraftwerksgelände selber zur Explosion gebracht werden, um Kühlung und Notkühlung von Atomreaktoren außer Funktion zu setzen. Bereits seit Jahren weisen Wissenschaftler wie der Chef des Nuclear Control Institute in Washington, Paul Leventhal, auf diese Gefahr hin, doch bleibe ihre Studien bisher unter Verschluss.

Koalition der Willigen

Allerdings wird inzwischen immer häufiger versucht, sich durch Katastrophenübungen auf Worst-Case-Szenarien einzustellen. So testeten die US-Behörden im Mai 2003 mit einer "Top off 2" genannten Anti-Terrorübung Schutzmaßnahmen bei atomaren Anschlägen. Eine Woche lang waren Hunderte Feuerwehrleute, Polizisten und Mitarbeiter von Rettungsdiensten im Einsatz und hatten sich einem terroristischen Kommando des Namens Glodo zu erwehren, das am 13. Mai 2003 eine "schmutzige" Bombe im Industriegebiet von Seattle gezündet hatte. Dabei wurden - so das simulierte Geschehen - 150 Menschen getötet oder lebensgefährlich verletzt. Radioaktive Wolken zogen kilometerweit über die Innenstadt. Eine zweite radiologische Autobombe detonierte im 65 Kilometer entfernten Tacoma, während ein Terrorist in die Universitätsgebäude der Stadt eindrang und Geiseln nahm.

Heimatschutzübungen wie die von Seattle sind bestenfalls ein Appendix des internationalen "Antiterrorkrieges", den die US-Armee bekanntlich seit mehr als drei Jahren führt und bei dem nach der präemptiven Strategie der "Counterproliferation" gilt: Gegebenenfalls sind durch den Einsatz von Kernwaffen Staaten oder terroristische Gruppierungen daran zu hindern, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu kommen. Mit dem gleichen Anspruch schart die Bush-Administration in der Proliferation Security Initiative eine weitere "Koalition der Willigen" um sich, die den Transfer von Massenvernichtungswaffen, Trägersystemen und waffenfähigem Material auf dem See-, Luft- und Landweg gleichfalls durch präemptives Handeln zu unterbinden gedenkt. Kritiker halten derartige Operationen für kontraproduktiv. "Wir können Sicherheitsprobleme nicht mit militärischen Mitteln lösen und keinesfalls mit militärischen Mitteln allein", meint Jeffrey Sachs, Direktor des Earth Institute an der New Yorker Columbia University. "Die Welt wäre sicherer, wenn mehr Menschen genug zu essen hätten sowie Zugang zu medizinischer Versorgung, sauberem Trinkwasser und die Aussicht auf eine bessere Zukunft." Und der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) Mohammed el-Baradei wurde noch deutlicher: "Ich würde mir wünschen, dass wir Atomwaffen genauso bewerten wie Sklaverei oder Völkermord - nämlich als Tabu".

* Dr. habil. Wolfgang Kötter ist Dozent für Politikwissenschaft und lehrt Internationale Politik an der Universität Potsdam. Er arbeitete zuvor mehrere Jahre im Sekretariat der Vereinten Nationen in New York.

Kernwaffenarsenal weltweit

LandAnzahl der Sprengköpfe
Russland19.480
USA10.000
China420
Frankreich350
Großbritannien200
Israel200
Indien95
Pakistan50
Nordkorea2
Gesamt30.618

Quelle: Arms Control Association

Vorräte an nuklearem Spaltmaterial weltweit (in Tonnen)

Materialzivilmilitärisch
Plutonium1.700155
hochangereichertes Uran1751.725

Quelle: Bulletin of the Atomic Scientists

Aus: Freitag 50, 3. Dezember 2004


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