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Neu-START für atomare Abrüstung

Obamas Besuch in Moskau brachte zumindest eine Rahmenvereinbarung über eine Reduzierung der strategischen Nuklearwaffen

Am 6. Juli 2009 besuchte US-Präsident Barack Obam zum ersten Mal die Hauptstadt Russlands, wo er mit seinem russischen Amtskollegen Dmitri Medwedew Gespräche über eine Verminderung der beiderseitigen Atomwaffenarsenale sprechen wollte. Im Folgende dokumentieren wir drei Artikel sowie einen Kommentar über das Ereignis.
Die Rede Obamas in der Rossiyskaya Ekonomicheskaya Shkola haben wir hier dokumentiert: "Die Vereinigten Staaten wollen ein starkes, friedliches und wohlhabendes Russland".



"Zahlreiche Berührungspunkte"

Obama setzt beim heute beginnenden Rußland-Besuch auf Entkrampfung

Von Rainer Rupp *

Barack Obamas erster Staatsbesuch in Rußland, zu dem der US-Präsident am heutigen Montag (6. Juli) in Moskau erwartet wird, dient einer Entkrampfung des Verhältnisses zwischen den beiden Staaten. Der russische Präsident Dmitri Medwedew ist daran ebenso interessiert wie Premierminister Wladimir Putin – und auch Obama. »Ich denke, daß in den letzten Jahren die Beziehungen zwischen Rußland und den USA nicht so fest gewesen sind, wie sie sein sollten. Und das Ziel meines Besuches ist es, gerade auf die Reset-Taste in unseren Beziehungen zu drücken«, sagte der US-Präsident in einem Interview für die Sendung »Westi w subbotu« (Nachrichten am Samstag) des Fernsehsenders »Rußland«. Und weiter meinte Obama: »Wir haben zahlreiche Berührungspunkte in der Wirtschaft und im Militärbereich.«

Das Verhältnis Washingtons zu Moskau hatte zuletzt nach dem georgischen Angriff auf Südossetien im August 2008 einen seit dem Ende des Kalten Kriegs nicht mehr erlebten Tiefpunkt erreicht. Dazu mag auch die militärische Lektion, die Rußland daraufhin Georgien als US-amerikanischem Schützling in Südossetien erteilt hatte, beigetragen haben. Doch bereits im Februar dieses Jahres zeigte dann der neue US-Vizepräsident Joseph Biden Bereitschaft, auf Moskau zuzugehen. Dabei soll nach seinen Vorstellungen der Neuanfang der Beziehungen auf dem alten, in den neunziger Jahren erreichten Niveau gestartet werden. Rußland dagegen will einen veränderten Modus, hat sich doch das internationale Kräfteverhältnis – auch unter dem Einfluß der von den USA ausgegangenen Wirtschaftskrise – signifikant zuungunsten Washingtons verändert.

Der Versuch der USA, nach dem Kalten Krieg als einzige Supermacht unilateral die globalen Spielregeln zu ändern, notfalls auch militärisch, ist gescheitert. Das hat den Auftritt neuer Mächte auf der Weltbühne erleichtert. Diese stehen weder unter der Kontrolle der USA noch sind sie Teil der westlichen Ordnung. Vor dem Hintergrund des veränderten Machtgefüges scheint sich im Kreis der Obama-Berater die Einsicht durchgesetzt zu haben, daß viele, auch für die USA problematische Entwicklungen in der Welt nicht ohne und schon gar nicht gegen Rußland gelöst werden können. Dazu gehören unter anderem die Konflikte im Nahen und Mittleren Osten, im Kaukasus sowie in Zentral- und Südwestasien, die strategische nukleare Abrüstung und die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen. Auch die Bewältigung der Wirtschaftskrise samt Schaffung eines neuen, stabileren Weltwährungssystems stehen auf der US-Agenda.

Dementsprechend kommt Charles Kupchan vom einflußreichen US-Council for Foreign Relations (Rat für Auslandsbeziehungen) in der jüngsten Ausgabe der vom Militärbündnis herausgegebenen Zeitschrift NATO-Brief zu dem Schluß, »daß die Expansionspolitik der NATO zweifelsohne auf Kosten der US-Beziehungen zu Rußland gegangen ist«. Zudem, so stellten beispielsweise die ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger und George Shultz in einem gemeinsamen Artikel (Washington Post, 8.10.2008) fest, sei Rußland für die US-Außenpolitik in vielerlei Hinsicht sehr wichtig. Vor dem Hintergrund eines internationalen Systems, das sich zunehmend »in eine pluralistische Richtung entwickelt«, möchte sich Washington mit Unterstützung Rußlands seine alte Führungsrolle sichern.

Allenthalben wurde von Obama-Beratern im Vorfeld seines Rußland-Besuchs empfohlen, die USA müßten jetzt die Gelegenheit eines Neuanfangs der Beziehungen zu Moskau zu nutzen. Auf jeden Fall aber müsse verhindert werden, daß Rußland »Quertreiber und Außenseiter« bleibe. Das setzt ein Entgegenkommen der USA bei den kritischen Fragen der russischen nationalen Sicherheit voraus, wie beispielsweise beim US-Raketensystem in Polen und Tschechien oder die NATO-Expansion nach Georgien und in die Ukraine.

Dennoch sind richtungsändernde politische Abschlüsse bei Obamas Besuch in Moskau nicht zu erwarten. Doch werden sich beide Seiten bemühen, die Atmosphäre zu verbessern. Dazu gehört auch die im Vorfeld des dreitägigen Obama-Besuches signalisierte Bereitschaft Rußlands, den Transport von US-Waffen nach Afghanistan über russisches Territorium zuzulassen.

* Aus: junge Welt, 6. Juli 2009


Chancen für einen Neu-START

Drastischer Atomwaffen-Abbau im Visier

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Kernwaffen und die Kontrolle über deren Nichtweiterverbreitung werden das Hauptthema beim russisch-amerikanischen Gipfel vom 6.- 8. Juli in Moskau sein.

Große Worte wie Neustart, mit denen USA-Präsident Barack Obama und sein russischer Amtskollege Dmitri Medwedjew bei ihrer ersten Begegnung am Rande des G 20-Gipfels am 1. April in London so großzügig umgingen, verkneifen sich beide Seiten inzwischen. Der Grund sind fortbestehende Differenzen zu fast allen globalen Problemen. Auch der Konflikt zwischen Georgien und dem abtrünnigen Südossetien im vergangenen August, den viele Beobachter als Stellvertreterkrieg Russlands mit den USA interpretierten, macht deutlich, wie groß das Misstrauen ist, das sich in der Ära Putin-Bush aufgebaut hat.

Ein Folgeabkommen für den im Dezember auslaufenden START-I-Vertrag zur Begrenzung strategischer Kernwaffen ist dennoch realistisch. Beide Seiten, meint Sergej Rogow vom USA-Kanada-Institut in Moskau, seien allein schon deshalb zum Konsens verdammt, weil niemand sonst in der Welt die Spielregeln für den Umgang mit Massenvernichtungsmitteln diktieren könne. Zusammen verfügen Russland und die USA über 95 Prozent aller Atomwaffen. Ein START-I-Folgeabkommen, so Rogow, würde auch die Erfolgschancen der 2010 fälligen turnusmäßigen Konferenz zum Atomwaffensperrvertrag deutlich verbessern und verhindern, dass sich weitere Staaten illegal Zugang zum Klub der Atommächte verschaffen.

Als Zwischenlösung werden in Moskau 1500 Gefechtsköpfe pro Seite angepeilt. Endziel sind Obergrenzen von 600 bis 700 Sprengköpfen. Ähnlich drastische Reduzierungen bewirkte bereits der START-I-Vertrag. Weil es damals mehr Raketen als Ziele gab, so Generaloberst Viktor Jesin, habe das Pentagon diese sogar auf Parteikomitees in sowjetischen Landkreisen mit einer Bevölkerung von weniger als 50 000 Menschen ausgerichtet. Jesin, zwischen 1994 und 1996 Stabschef der russischen Raketentruppen, gehörte in den 1980er Jahren zu einer aus fünf Experten bestehenden Gruppe, die das Politbüro bei der Diskussion zu möglichen START-Varianten beriet. Am Ende wurden die Kernwaffenarsenale nach zähen Verhandlungen um jeweils 70 Prozent reduziert.

Die Mühe habe sich also gelohnt, die Abschreckungspotenziale beider Seiten würden sich heute in etwa die Waage halten. Moskau und Washington hätten bei der Entwicklung strategischen Kernwaffen jedoch zwei völlig unterschiedliche Konzepte verfolgt, erklärt Jesin. Washington habe sich auf Interkontinentalraketen, die von strategischen Bombern der Typen B-2 und B-52 abgefeuert werden, und auf mobile, seegestützte Raketen wie Trident-2 konzentriert. U-Boote der Ohio-Klasse werden mit bis zu 24 Trägern dieses Typs bestückt. Jede Rakete hat bis zu acht atomare Gefechtsköpfe.

Zwar hätten auch die Sowjetunion und später Russland in mobile Systeme investiert, wegen der Größe des Landes aber vor allem auf landgestützte Raketen gesetzt. Auf Typen wie Topol, Stilett, Skalpell und vor allem auf Wojwoda, NATO-Name Satan. Sie ist mit einer Startmasse von mehr als 210 Tonnen, einer Nutzlast von bis zu 8,8 Tonnen und 11 000 Kilometern Reichweite weltweit konkurrenzlos unter den Interkontinentalraketen.

Eben diese beiden unterschiedlichen Konzepte sind auch einer der größten Stolpersteine für den Folgevertrag. Zumal Russland ihn nur im Paket mit einem juristisch verbindlichen Verzicht Washingtons auf eine globale Raketenabwehr verhandeln will. Denn potenzielle Angreifer, so Alexej Arbatow, Direktor des Zentrums für Internationale Sicherheit beim Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der russischen Akademie der Wissenschaften, könnten nach einem Präventivschlag das relativ geringe Potenzial, das dem Gegner dann noch verbliebe, mit ihrer Abwehr problemlos neutralisieren. Dadurch wachse die Gefahr eines Erstschlags um Größenordnungen.

** Aus: Neues Deutschland, 6. Juli 2009


Abrüstungssignale aus Moskau

Präsidenten der USA und Russlands unterzeichneten Rahmenvereinbarung für neuen Vertrag

Von Irina Wolkowa, Moskau ***


Präsident Barack Obama hat bei seinem Antrittsbesuch in Moskau die Gemeinsamkeiten der USA mit Russland hervorgehoben. »Wir haben mehr Verbindendes als Trennendes«, sagte er zum Auftakt seiner Gespräche mit Präsident Dmitri Medwedjew.

Seine kleine Tochter an der Hand und sichtbar gut gelaunt entstieg Barack Obama am Montag (6. Juli) um 13.35 Uhr Moskauer Zeit auf dem Regierungsflughafen Wnukowo-2 der Air Force One. Bereits an Bord hatte ihn die Botschaft über den Stand der Verhandlungsvorbereitungen erreicht. Sergej Prichodko, der außenpolitische Berater Dmitri Medwedjews, verkündete sie in Moskau der versammelten Presse: Beide Präsidenten würden im Verlauf von Obamas dreitägigem Besuch eine Rahmenvereinbarung zu Grundprinzipien eines neuen Vertrags zu strategischer Abrüstung unterzeichnen. Dies geschah dann bereits am Montag.

Das war noch in der Nacht zuvor alles andere als sicher, Chancen für eine Einigung hatten russische Diplomaten mit maximal 60:40 beziffert und dafür mehrere Gründe geltend gemacht: Unterschiedliche Vorstellungen zur Zählweise der Trägermittel, das sogenannte regenerierbare Potenzial – Kernsprengköpfe, die nicht zerstört, sondern lediglich demontiert und in weniger als 24 Stunden erneut gefechtsbereit gemacht werden – sowie Forderungen Moskaus, die Reduzierung von Offensiv- und Defensivwaffen im Paket zu verhandeln. Gemeint war eine globale US-amerikanische Raketenabwehr. Denn die vergrößert aus hiesiger Sicht die Gefahr eines atomaren Erstschlags. Akut bedroht sieht Moskau sich vor allem durch Abwehrstellungen, die Washington in Mittelosteuropa und damit direkt vor Russlands Haustür plant. Belastet wurden die Verhandlungen auch durch eine tiefe Vertrauenskrise, an der aus Sicht von Experten beide Seiten gleichermaßen schuld sind. Die Einigung über eine Rahmenvereinbarung werten Beobachter daher als ersten Schritt zurück in die Normalität.

Beide Seiten streben nun eine Verringerung der strategischen Nuklearwaffen von bisher maximal 2200 auf je 1500 bis 1675 an. Dies teilte die US-Regierung am Montag in Moskau nach dem Treffen von Obama mit Medwedjew mit. Nach dem auslaufenden Vertrag konnten beide Seiten bisher über maximal 1600 Trägersysteme verfügen, diese Zahl soll jetzt auf 500 bis 1100 reduziert werden. Über Einzelheiten werden Expertengruppen auf der Ebene von Vizeaußenministern die bereits Mitte Mai begonnenen Verhandlungen fortführen. Hiesige Beobachter gehen davon aus, dass der neue Vertrag eine relativ kurze Laufzeit hat. Denn Medwedjew gelang es nicht, Obama zu einem definitiven Verzicht auf die Raketenabwehr zu bewegen. Diese, glaubt Alexej Arbatow, der Direktor des Zentrums für Internationale Sicherheit beim Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der russischen Akademie der Wissenschaften, würde jedoch frühestens 2015 einsatzbereit sein. Eben dann müsse auch der neue Vertrag zur Begrenzungen strategischer Offensivwaffen enden. Das sei jedoch kein Drama, weil beide Seiten damit ein Polster von mehreren Jahren bekämen, um ein Folgeabkommen auszuhandeln. Sollte ein Junktim zwischen Angriffs- und Verteidigungswaffen dabei erneut misslingen, müsse Moskau sich den Kompromiss bei der Raketenabwehr durch Überlegenheit bei Langstreckenraketen und gefechtsbereiten atomaren Sprengköpfen vergüten lassen, meinte Senatspräsident Sergej Mironow in einem Interview.

Obama kündigte einen weltweiten Nukleargipfel 2010 in den USA an. Daran sollen alle Staaten teilnehmen, die mit der nuklearen Aufrüstung konfrontiert sind.

*** Aus: Neues Deutschland, 7. Juli 2009


Hoffnungen

Von Olaf Standke ****

Glaubt man den gestern in Moskau veröffentlichten Meinungsumfragen, misstrauen nur zwölf Prozent der russischen Bürger Barack Obama. Aber es ist auch lediglich jeder fünfte, der Hoffnungen in den neuen USA-Präsidenten setzt. Ob sein Antrittsbesuch im Kreml diese Zahl signifikant erhöht, bleibt noch demoskopisch zu erforschen. Zumindest zeigte sich Obama gestern fest entschlossen, nach »einer Reihe schwieriger Kapitel« in den bilateralen Beziehungen »neue Seiten aufzuschlagen«.

Ganz oben steht dabei das Thema Abrüstung: Beide Seiten wollen verstärkt kooperieren, um die Verbreitung von Atomwaffen und etwaige nukleare Terroranschläge zu verhindern. Vor allem aber geht es um eine Nachfolgeregelung für den Ende des Jahres auslaufenden START-I-Vertrag über die Reduzierung strategischer Kernwaffen. Seit gestern gibt es die grundsätzliche Einigung über eine zehnjährige Vertragsdauer und Obergrenzen. Die Zahl der Trägermittel soll auf je 500 bis 1110 schrumpfen, ihre tödliche Fracht auf jeweils 1500 bis 1675 Sprengköpfe reduziert werden. Doch auch bei diesem Neu-START steckt der Teufel in den Details, die in den nächsten Monaten noch verhandelt werden müssen. Dabei soll in dem Abkommen auch ein Statut über den Zusammenhang von strategischen Angriffs- und Abwehrwaffen verankert werden. Die von Moskau abgelehnte US-amerikanische Raketenabwehr vor der russischen Haustür dürfte wohl weiter für Misstrauen sorgen.

**** Aus: Neues Deutschland, 7. Juli 2009 (Kommentar)


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