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Wohin geht die Reise nach dem START?

Russland und die USA verhandeln über den Abbau ihrer Atomwaffen

Von Wolfgang Kötter *

Als Rose Gottemoeller im Mai zur ersten Verhandlungsrunde auf dem Moskauer Flughafen russischen Boden betrat, kam sie in kein fremdes Land. Die Hauptstadt kennt die promovierte Politologin bereits seit Jahren, denn hier war sie bis vergangenen Dezember Direktorin der renommierten Carnegie-Denkfabrik. Sie spricht nicht nur fließend russisch, sondern gilt auch als erstklassige Abrüstungsexpertin. Jetzt verhandelt die Ministerialdirektorin im US-amerikanischen State Department mit ihrem russischen Gegenpart, dem Abteilungsleiter für Sicherheit und Abrüstung im Außenministerium Anatoli Antonow, über die weitere Reduzierung der Atomwaffenarsenale.

Für diese Woche (1.-3.6.) ist in Genf bereits die zweite Runde angesetzt. Eile und höchstes Verhandlungsgeschick sind dringend erforderlich, denn die beiden Unterhändler stehen vor einer riesigen Herausforderung. Soeben kehren sie aus New York von der letzten Vorbereitungsrunde zur Überprüfungskonferenz des Kernwaffensperrvertrages zurück. In den Ohren mag ihnen noch deutlich der Chor der Nichtkernwaffenstaaten nachklingen, der vielstimmig konkrete Abrüstungsergebnisse einfordert. Andernfalls droht das für die internationale Sicherheit existenzielle Abkommen auseinanderzubrechen. Die Vision einer atomwaffenfreien Welt hat US-Präsident Barack Obama in seiner Prager Rede Anfang April entwickelt. Nun folgt ein konkreter Schritt auf dieses Ziel zu. Mit dem russische Staatschef Dmitri Medwedjew wurde vereinbart, bis zum Jahresende, radikale Reduzierungen[externer Link] auszuhandeln. Doch noch bestehen substanzielle Meinungsverschiedenheiten über ein Nachfolgeabkommen für den im Dezember auslaufenden START-Vertrag zur Reduzierung der strategischen Offensivwaffen.

Grundsätzlich sind sowohl die USA als auch Russland an einer Verminderung ihrer Atomwaffen interessiert, denn eine mehrfaches nukleares „Overkill“ macht militärisch keinen Sinn. Zudem werden gerade in der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise die enormen finanziellen Aufwendungen für Unterhalt und Modernisierung der Nukleararsenale dringend zu anderen Zwecken benötigt. Deshalb wollen beide Seiten ihre Abrüstungspläne auch ungeachtet anhaltender außenpolitischer Differenzen fortsetzen, wie US-Außenministerin Hillary Clinton und ihr russischer Amtskollege Sergej Lawrow beim jüngsten Treffen in Washington bekräftigten. Denn es bleibt noch viel zu tun und die atomare Abrüstung sei „zu wichtig für Russland und die USA und den Rest der Welt, um sie zur Geisel werden zu lassen.“ Ausgehandelt werden muss vor allem, bis zu welcher Zahl von verbleibenden Atomwaffen jede Seite ihr Arsenal verringern kann, ohne die eigene Sicherheit gefährdet zu sehen. Dafür sind die Ausgangsbedingungen durchaus unterschiedlich.

Für Moskau bleibt Gleichberechtigung auf Augenhöhe das überragende Ziel. Militärisch bedeutet Parität, aber nicht unbedingt numerische Gleichheit in allen Waffenkategorien. Wie einen Augapfel hüten die Militärs jedoch die sogenannte Zweitschlagskapazität. Sie erfordert, auch nach einem Überraschungsangriff noch genügend Waffen für einen Vergeltungsschlag übrig zu haben. Diese Fähigkeit sehen sie vor allem durch drei Rüstungsbestrebungen Washingtons bedroht. Erstens würde eine effektive Raketenabwehr die Durchschlagskraft russischer Offensivwaffen reduzieren. Zweitens wären die russischen Raketenstellungen durch Waffensysteme im Kosmos zu orten und zu bekämpfen. Und schließlich könnten in Grenznähe stationierte gegnerische Raketen die eigenen Abschusssilos durch zielgenaue Schläge ausschalten.

Deshalb verneinen Skeptiker auf russischer Seite allzu radikale Einschnitte. Die Rede ist von Höchstgrenzen unter 1.500 oder sogar 1.000 Nuklearsprengköpfen. „In der nicht nuklearen Welt wäre die Überlegenheit der USA absolut", fürchtet Sergej Rogow, Direktor des Moskauer Instituts für die USA und Kanada. Ex-Vizebefehlshaber der Strategischen Raketentruppen Viktor Jessin warnt ebenfalls: „Reduzierungen auf ein Niveau von weniger als 1.000 Gefechtsköpfen würden, wenn nicht zugleich die Möglichkeiten des US-Raketenabwehrsystems wesentlich begrenzt werden, gegen das Prinzip der gleichen Sicherheit verstoßen. Die Amerikaner werden imstande sein, mittels ihres Raketenabwehrsystems unsere restlichen Gefechtsköpfe abzufangen, während wir diese Möglichkeit nicht haben werden“, klagt der Generaloberst. Leonid Iwaschow, Generalleutnant a. D. und Präsident der Akademie für Geopolitik, wittert in den niedrigen Zahlen gar die schlaueste Falle der US-Initiative. Damit wolle Washington Moskaus Kernwaffenpotenzial so weit dezimieren, dass es durch die US-amerikanische Raketenabwehr neutralisiert werden könne. Und Professor Jewgeni Koschokin von der Lomonossow-Universität unterstellt Washington die Absicht, „Verhandlungen durchzuführen und das entstandene strategische Kräfteungleichgewicht juristisch festzuschreiben sowie ein Kontrollsystem vorzuschlagen, das der Spionage-, der Weltraum- und der Luftbildaufklärung helfen soll, das Potenzial von Russlands Atomwaffenkräften und ihre Entwicklungsmöglichkeiten bestmöglich aufzuklären.“

Sollten derartige Absichten tatsächlich verfolgt werden, wird sich Russland dem natürlich vehement widersetzen. So fordert Moskau, die Liste der zu berücksichtigenden Waffensysteme zu erweitern. Man sei zu einer radikalen Abrüstung zwar bereit. Diese müsse aber ebenfalls Trägermittel wie Interkontinentalraketen, U-Boote und Langstreckenbomber einbeziehen. Abgerüstete Sprengköpfe wären zu verschrotten und die Reduzierung der atomaren Sprengköpfe dürfe nicht durch konventionelle Präzisionswaffen mit großer Reichweite kompensiert werden. Moskaus gesamteuropäische Vision strebt ein neues Sicherheitssystem von „Vancouver bis Wladiwostok“ an. Russland ist ebenfalls bereit, sich am Aufbau einer Raketenabwehr zu beteiligen. Dafür müssten die USA aber auf die Militarisierung des Weltraums verzichten und kein Raketenabwehrsystem in Polen und Tschechien errichten. Als Alternative steht weiterhin das Angebot, die Frühwarnstation im südrussischen Armawir und die Gabala-Radaranlage in Aserbaidschan gemeinsam zu nutzen. Gottemoeller zumindest zeigt sich aufgeschlossen: „Ich persönlich denke, das ist ein Angebot, das die Vereinigten Staaten prüfen sollten.“ Medwedjew reagierte prompt: „Ich freue mich, dass unsere amerikanischen Partner über dieses Thema sprechen wollen“, verkündete er in Moskau.

Beide Delegationen unterbreiteten in der ersten Verhandlungsrunde konkrete Vorschläge über die quantitativen Reduzierungen von Gefechtsköpfen und ihren Trägermitteln. Medienberichten zufolge werde man als Kompromiss wahrscheinlich eine Höchstgrenze von 1.500 Sprengköpfen anstreben. Außerdem tauschten beide Seiten ihrer Ansichten über die Zählregeln für die atomaren Gefechtsköpfe und ihre Träger aus.

Ein Zwischenbericht soll den Präsidenten bei ihrem Gipfeltreffen vom 6. bis 8. Juli in Moskau vorgelegt werden. Wenn die Parlamente einem neuen Vertrag noch vor Jahresende zustimmen sollen, müsste bis spätestens September ein Ergebnis vorliegen. Immerhin signalisiert die amerikanische Seite Entgegenkommen in einigen Streitpunkten wie bei der Berücksichtigung von Trägermitteln und plädiert dafür, schwierigere wie die Einbeziehung taktischer Atomwaffen auf später zu vertagen. Denn bis zum deklarierten Ziel einer atomwaffenfreien Welt wird es noch einige Verhandlungsrunden geben müssen. Für US-Verteidigungsminister Robert Gates jedenfalls scheint diese Vision in ganz weiter Ferne zu liegen: „Ich schätze, das wird ein langer Marsch“, meint er lakonisch. Das Pentagon jedenfalls erwähnt sie im Entwurf „Nuclear Posture Review“ für eine neue US-Nuklearstrategie mit keinem Wort.

* Vom Autor aktualisierter Text eines im "Freitag" (online) unter dem Titel "Tempo beim Neustart" erschienenen Beitrags (29. Mai 2009).


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