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Die Erstschlagdoktrin und Obamas Glaubwürdigkeit

Die NATO hat ihre Konzeptdebatte vertagt, der atomare Erstschlag ist weiter eine Option des Bündnisses. Sie konterkariert die Ankündigungen des neuen US-Präsidenten

Von Roland L. Heine *

Es war eine forsche Ankündigung der Bundeskanzlerin: Beim NATO-Jubiläumsgipfel Anfang April solle nicht nur gefeiert werden, sondern es müsse "die Überarbeitung des strategischen Konzepts in Auftrag gegeben werden", erklärte Angela Merkel (CDU) in ihrer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag. Es sei "deutlich zu machen: Die NATO gibt sich nicht nur mit dem Blick auf eine 60-jährige Erfolgsgeschichte zufrieden, sondern sie ist auch zu einer Neubestimmung des Kurses für die Zukunft bereit."

Inzwischen ist die Allianz zum Alltag zurückgekehrt, das Treffen in Straßburg und Kehl hat keine Klarheit für die langfristige Ausrichtung des Militärbündnisses gebracht. Wieder wurde die vielfach geforderte inhaltliche Debatte über ein neues strategisches Konzept vertagt.

Die erneute Verschiebung der Strategiedebatte steht allerdings in deutlichem Kontrast zur Ankündigung von US-Präsident Barack Obama, dass sich die Vereinigten Staaten künftig tatsächlich für eine atomwaffenfreie Welt engagieren wollten. Denn Obamas Versprechen eines Kurswechsels wird aus Sicht vieler Staaten ohne Atomwaffen nur glaubhaft, wenn NATO und USA unter anderem auf ihre Doktrin des nuklearen Erstschlages verzichten.

Das aktuelle NATO-Konzept erlaubt den atomaren Erstschlag

Die Option des Ersteinsatzes von Atomwaffen durch die NATO stammt aus den Zeiten des Kalten Krieges. Begründet wurde sie damals damit, dass die Allianz ein abschreckendes Gegengewicht zur konventionellen Überlegenheit des Ostblocks benötige.

Doch auch nach Auflösung des Warschauer Vertrages hielt die NATO an dieser Option fest. Das derzeit gültige strategische Konzept von 1999 erlaubt im Konfliktfall auch den atomaren Erstschlag gegen Staaten, die selbst nicht über Atomwaffen verfügen.

Unter Punkt 62 heißt es im Konzept von 1999 unter anderem: Die nuklearen NATO-Streitkräfte "werden weiterhin eine wesentliche Rolle spielen, indem sie dafür sorgen, dass ein Angreifer im Ungewissen darüber bleibt, wie die Bündnispartner auf einen militärischen Angriff reagieren würden. Sie machen deutlich, dass ein Angriff jeglicher Art keine vernünftige Option ist."

Seinerzeit hatte sich die rot-grüne Bundesregierung kurzzeitig für eine Streichung der Erstschlagoption aus dem NATO-Konzept eingesetzt. Die Bundesregierung hatte das Werben für den Verzicht auf die Erstschlagdoktrin sogar in ihrem Koalitionsvertrag (Kapitel XI) als eines ihrer außenpolitischen Ziele verankert. Sie konnte sich dabei auch auf den Haager Gerichtshof berufen, der 1996 die Androhung des Gebrauchs von Kernwaffen als völkerrechtswidrig bewertet hatte.

Doch der Widerstand im Bündnis, aber auch in Teilen der deutschen Politik war damals zu groß, und der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) erklärte schließlich, "die Diskussion" sei "praktisch beendet".

Militärisch unbrauchbare Waffen

Ausgewiesene Militärexperten wie die früheren NATO-Oberkommandierenden Andrew Goodpaster und John Galvin, bezeichneten damals bereits Atomwaffen als "militärisch unbrauchbar", da ihr Einsatz den Krieg unkontrollierbar mache. Sie betrachteten Pläne über einen "chirurgischen" Atomwaffeneinsatz als unrealistisch, weil eine absolut verlässliche Information und Koordination unter den Bedingungen eines Krieges mit Massenvernichtungswaffen unmöglich sei und Terrorgruppen ohnehin auf diese Weise kaum zu beeindrucken seien.

Unter Obamas Amtsvorgänger Georg W. Bush fassten die USA dennoch sogar eine Ausweitung der Erstschlagoption gegen nichtstaatliche Gegner, Terroristen etwa, ins Auge. Mehrere hohe NATO-Generale, darunter vier Westeuropäer, vertraten Anfang 2008 in einer vielbeachteten Denkschrift eine ähnliche Position.

Für Abrüstungsfachleute steht die Erstschlagdoktrin vor allem im Gegensatz zum Ziel der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen. Tatsächlich stellt sich die Frage, wie man derzeit noch kernwaffenfreie Staaten davon überzeugen will, auch künftig auf die Bombe zu verzichten, wenn Atomwaffenbesitzer behaupten, aus Sicherheitsgründen -- so zum Schutz vor anderen Massenvernichtungswaffen - nicht nur am Besitz von Nuklearraketen, sondern sogar an der Option des Erstschlages festhalten zu müsse.

Die Überprüfungskonferenz für den Atomwaffensperrvertrag im Jahr 2005 scheiterte denn auch vor allem an dieser Grundsatzfrage. Soll bei der nächsten Überprüfungskonferenz im Frühjahr 2010 nicht ähnliches passieren, wird sich auch die NATO bewegen müssen, schon weil mit den USA, Großbritannien und Frankreich drei der Atommächte Mitglieder der Allianz sind.

Druck auf die Atommacht Russland

Ein Verzicht der NATO auf die Erstschlagoption würde schließlich auch Moskau in Zugzwang bringen. Die UdSSR hatte zwar 1982 bereits ihren Verzicht auf den Ersteinsatz nuklearer Waffen verkündet, in den neunziger Jahren jedoch rückte Russland - auch angesichts des unveränderten NATO-Kurses - von dieser Position wieder ab.

Die anderen erklärten Atommächte verfolgen ohnehin bereits eine andere Politik. China erklärte schon 1964 den Verzicht auf atomare Erstschläge, Indien folgte 1999. In Pakistan schließlich erklärte Präsident Asif Ali Zardari im Herbst 2008, dass seine Regierung einen solchen Schritt gehen wolle.

* Aus: Internetzeitung www.ngo-online.de, 21. April 2009


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