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Warum jetzt?

Gastkommentar von Steve Leeper

Fünf Monate nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima lag der Philosophieprofessor Ichiro Moritaki mit seinen Verletzungen im Krankenbett. Er ging in seinen Gedanken der Frage nach, welche Sinn diese neue Waffe hat, die seine Stadt in Schutt und Asche gelegt hatte. Er kam zum Schluss, der Sinn der Atombombe liege letztlich darin, dass die Menschheit auf Gewalt als Mittel der Konfliktlösung verzichten müsse.

Moritaki war schon 1945, also noch vor der Wasserstoffbombe, klar, dass die Menschen jetzt lernen müssten, unser Gewaltpotential unter Kontrolle zu halten, oder wir machen unseren Planeten unbewohnbar. Daher erklärte er, die Atombombe markiere das Ende der »Zivilisation von Macht« und den Beginn einer neuen »Zivilisation der Liebe«.

Moritaki stand fast 40 Jahre lang an der Spitze von Hidankyo, dem größten Zusammenschluss von Atombombenopfern. Als er im Alter von 93 Jahren starb, war es vor allem sein Verdienst, dass die Wut von Hiroshima sich zunehmend weg von den USA und auf die Atomwaffen selbst richtete. Er hinterließ der Welt auch das Konzept einer »Friedenskultur«. Die Hiroshima Peace Culture Foundation hat zwei Ziele: das eine ist sicherzustellen, das die Welt nie vergisst, was am 6. August 1945 geschah; das andere ist mitzuhelfen bei der Transformation unserer Gattung von der momentanen Kultur des Krieges zu einer Kultur des Friedens.

Der Menschheit fällt es äußerst schwer, sich die Gewalttätigkeit abzugewöhnen. In den nächsten zwei oder drei Jahren werden wir entscheiden, ob Atomwaffen abgeschafft werden oder sich weiter verbreiten. Wenn wir die Weiterverbreitung zulassen, werden sie schließlich auch eingesetzt. Wenn Atomwaffen erneut eingesetzt werden, dann verlieren wir rasch den dünnen Zivilisationsfirnis, der unser zerbrechliches, interdependentes, globales sozio-politischökonomisches System zusammenhält. Dann stürzen wir in einen Strudel der Gewalt, neben dem der Zweite Weltkrieg wie ein Honiglecken wirken wird.

Die Entscheidungen über unseren weiteren Umgang mit Atomwaffen, die bei der Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages im Mai 2010 gefällt werden, haben Konsequenzen weit über die Zukunft dieser Waffensysteme hinaus. Wir entscheiden gleichzeitig, ob wir die zahlreichen, unser Leben bedrohenden globalen Probleme durch Dialog, Verhandlungen, Abkommen und Völkerrecht lösen oder durch eine radikale und gewalttätige Reduktion der menschlichen Bevölkerung.

Das US-Imperium bricht momentan zusammen. Historisch wurde der Zusammenbruch eines Imperiums immer von Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten lang währender Gewalt begleitet. Die Destabilisierungswirkung der Veränderungen, die wir jetzt erleben, gehen aber weit über den bloßen Zusammenbruch eines Imperiums hinaus. Die Jahrhunderte lange Dominanz der weißen Menschen kommt zum Ende. In den nächsten 20 Jahren werden sich die globalen ökonomischen und kulturellen Machtzentren von den USA und Europa nach China und Asien verschieben. Die Ära des billigen Öls geht zu Ende. Der Konkurrenzkampf umÖl, andere Rohstoffe, Land und sogar Wasser wird sich rasch verschärfen. Unser heutiger Lebensstil hängt, insbesondere in den USA, vollständig von billigem Öl ab. Dieser Zustand ist ganz offensichtlich nicht nachhaltig. Wie gelingt uns der Übergang? Durch friedlichen Dialog und Teilhabe? Oder in einem wahnsinnigen, gewalttätigen Kampf um die Macht?

Wenn wir uns für letzteren entscheiden, machen wir unseren Planeten unbewohnbar. Selbst wenn wir zunächst den Einsatz von Atomwaffen noch vermeiden, verfügen wir doch über chemische und biologische Waffen, Agent Orange, abgereichertes Uran und ein riesiges Arsenal vonWaffen mit entsetzlichen und langanhaltenden Folgen. Und wenn Atomwaffen weiterhin einsatzbereit gehalten werden, ist es nicht schwer, sich eine rasante Eskalation vorzustellen, die die Erde zu kalt oder zu radioaktiv macht, um menschliches Leben zu ermöglichen.

Und sogar wenn wir diese tödliche globale Gewalt vermeiden, wird unsere industrialisierte und wachstumsbasierte Zivilisation dafür sorgen, dass unser Planet unbewohnbar wird, wenn wir einfach so weitermachen wie bisher. Unsere Meere sterben. Unsere Regenwälder verschwinden in Rekordtempo. Der Sauerstoffgehalt in unserer Atmosphäre sinkt stetig, und die Erderwärmung schreitet fort. Keines dieser Probleme lässt sich durch Kontrolle von oben durch reiche Banker, mächtige Generäle oder sonst jemanden lösen. Das Überleben unserer Gattung erfordert weltweite Kooperation in einem bislang unerreichten Maß.

Deshalb müssen wir die Atomwaffen jetzt abschaffen. Atomwaffen sind das einfachste Problem, vor dem wir stehen, und das Thema ist höchst dringlich. Wenn wir uns nicht einmal auf die Abschaffung dieser überflüssigen, völkerrechtswidrigen und obszönen Bedrohung unserer Existenz einigen können, woher nehmen wir dann die Hoffnung, dass wir Antworten auf die viel subtileren und schwierigeren Probleme finden, vor denen die Besatzung des Raumschiffs Erde steht? Wenn wir uns hingegen auf die Abschaffung der Atomwaffen einigen, dann sagt die Weltgemeinschaft damit: „Lass uns das Gesetz des Dschungels abschaffen und für unser gemeinsames Überleben zusammenarbeiten.“ Damit eröffnen wir den Weg zu anderen Formen der Kooperation, die möglicherweise unseren Kindern und Kindeskindern die Zeit gewährt, die sie brauchen, um unsere Hinterlassenschaften aufzuräumen.

Das ist die Wahl, die wir jetzt treffen müssen. Wählen wir Gewaltlosigkeit oder die Bombe. Alle, die sich mit Abrüstung beschäftigen, müssen im kommenden Jahr ihre Anstrengungen verdoppeln und darauf hin wirken, dass im Mai 2010 die richtige Entscheidung fällt.

* Steve Leeper ist Vorsitzender der Hiroshima Peace Culture Foundation

Übersetzung: Regina Hagen


Dieser Beitrag erschien in: Wissenschaft & Frieden 1/2009

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