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Die Armutsstatistik lügt

Asiatische Entwicklungsbank überrascht Politiker mit alternativen Zahlen und schreibt Statistikgeschichte

Von Hermannus Pfeiffer *

Asiens Wirtschaft boomt. Doch viele Menschen bleiben bitterarm – viele mehr, als bisher offiziell angenommen wurde.

Ein neuer Report der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB) überraschte kürzlich die Regierungen von Peking bis Jakarta. Chefökonom Shang-Jin Wei hatte sich die offiziellen Statistiken über die Armut in Asien vorgeknöpft und gravierende Mängel entdeckt. Bei einem ehrlichen Bild seien die Erfolge beim Abbau der Armut nicht so groß, wie es scheine: Plötzlich sind nicht mehr ein gutes Fünftel der Asiaten »extrem arm«, sondern fast ein Drittel. »Wir brauchen ein besseres Verständnis der Armut, damit die Politiker bessere Gegenmaßnahmen entwickeln können«, so Wei.

Offiziell sah es bisher so aus, als habe die Politik ihre »Jahrtausendziele« erreicht: Dank Wirtschaftswachstum und gesellschaftlicher Entwicklung hatte die Asien-Pazifik-Region 2010 die Armut auf rund 21 Prozent seiner Einwohner gedrückt, die Hälfte des Wertes von 1990. Doch Grundlage für den »Erfolg« ist die 2005 festgelegte Schwelle von 1,25 Dollar täglich. Gemessen wird in Kaufkraftparitäten: Für jedes Land wird je nach Wechselkurs zum Dollar ein entsprechender Wert in nationaler Währung festgelegt. Wer nicht einmal das zur Verfügung hat, gilt als »extrem arm«, kann also nur mit größter Mühe überleben.

Dabei wurde die entscheidende Linie von 1,25 Dollar täglich aus Konsumdaten abgeleitet, die 1999 bis 2005 erhoben wurden – in nur zwei Ländern. Inflationsraten, die etwa in Indien für Lebensmittel über Jahre hinweg zweistellig waren, blieben unberücksichtigt. Wei und die ADB fordern nun eine Anhebung des Grenzwertes auf 1,51 Dollar.

Folgten die Analysten dem Vorschlag, läge der Anteil der extrem Armen an der Bevölkerung nicht bei 21, sondern bei knapp 31 Prozent. Und stiege auf 49,5 Prozent, zählte man jene hinzu, die nur wenig mehr Geld besitzen. Das von nahezu allen Regierungen auch im Westen erklärte Ziel, bis 2025 die extreme Armut in Asien auszurotten, rückt in weite Ferne.

Auf dem am Wochenende zu Ende gegangenen Treffen der Wirtschaftsnobelpreisträger im schwäbischen Lindau schien gar die Meinung vorzuherrschen, dass die Ungleichheit in den Schwellen- und Entwicklungsländern überhaupt nicht sinke. Verschiedene Faktoren trügen dazu bei: So hinkt das Wirtschaftswachstum in vielen Ländern der Bevölkerungsexplosion hinterher. Schlechte Regierungsführung, Korruption und der Einfluss multinationaler Konzerne tue ein Übriges. Harvard-Ökonom Erik Maskin wies auf die veränderten Produktionsprozesse hin: In den für den Weltmarkt produzierenden Fabriken arbeiteten Fachkräfte; die Masse der gering- oder gar nicht qualifizierten Arbeiter verliere den Anschluss.

* Aus: neues deutschland, Montag 25. August 2014


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