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Versuchskaninchenstall "Dritte Welt"

Pharmafirmen testen ihre Produkte billig und praktisch unkontrollierbar in den ärmsten Regionen

Von Jan Pehrke *

Pharma-Multis lassen Arzneimittelstudien immer häufiger in den ärmsten Ländern durchführen.

»Auch als Ressource wird Indien für die Pharma-Sparte interessant«, schrieb das »Handelsblatt« schon 2007 über die Aktivitäten des Pharmakonzerns Bayer auf dem Subkontinent. »Er lässt dort bereits sechs neue Medikamente testen. Das bringt deutliche Ersparnisse und ein schnelleres Entwicklungstempo.« Die Firmen, die für den Leverkusener Multi klinische Studien übernehmen, sprechen eine ähnliche Sprache: Igate verweist auf ein »Rohmateriallager« von 40 Millionen AsthmatikerInnen, 34 Millionen DiabetikerInnen und 8 bis 10 Millionen HIV-Infizierten, das Institut Parexel wirbt mit »Rich-World-Illnesses« (Wohlstandskrankheiten) sowie Indiens genetischer Vielfalt als Standortfaktor, und CSC Pharmaceuticals hat »große Quantitäten« im Angebot, »die für klinische Tests offeriert werden können«.

Für diese Tests, die meist neue Anwendungsbereiche für alte Medikamente suchen, reicht das »Rohmateriallager Indien« aber nicht. Darum erschließt Bayer als zusätzliche »Ressourcen« Kolumbien, Pakistan, Moldawien, die Philippinen, China, Russland und andere Nationen mit hoher Armut. Mitbewerber gehen ähnlich vor, was Arzneitests in solchen Ländern rasant zunehmen lässt. Auf 18 000 bis 24 000 jährlich schätzt eine Untersuchung des niederländischen konzernkritischen Forschungszentrums SOMO ihre Zahl.

Weltweit führt die Pharmalobby nach SOMO-Schätzungen pro Jahr ca. 60 000 Erprobungen durch. Vor der eigenen Haustür finden sich dafür kaum genug KandidatInnen. In den armen Staaten stehen ihnen ausreichend ProbandInnen zur Verfügung - noch dazu pflegeleichte. Sie sagen öfter zu und verabschieden sich auch nicht so häufig wieder aus den Kliniken wie ihre KollegInnen aus dem Westen. »Die Chinesen sind nicht so emanzipiert wie die US-Bürger. Sie zeigen sich eher bereit, Versuchskaninchen zu spielen«, heißt es in einer Studie der Beratungsfirma Centerwatch.

Die chronisch unterfinanzierten Kliniken gehen ebenfalls gern auf die Angebote von Bayer & Co. ein. Und die Regierungen der ökonomisch schwachen Länder betrachten die Testreihen gleichfalls als Einnahmequelle. Ums Geld geht es auch den Firmen, die für die Pharma-Multis die Probeläufe organisieren. Rund 60 Prozent aller Versuche wurden von den Pillen-Riesen ausgegliedert - sie kaufen Arzneitests mittlerweile als Dienstleistung ein. Sogenannte CROs (Organisationen für Auftragsforschung) haben sich darauf spezialisiert und bieten Komplettlösungen mit Ethikkommission und allem Drum und Dran an. Ihr Auftrag lautet, ein neues Produkt möglichst schnell und kostengünstig zu erproben und nicht etwa, es im Sinne des vorsorglichen Gesundheitsschutzes genau zu prüfen. Da bleibt nach Beobachtungen der Anthropologin Adriana Petryna »taktische Flexibilität« in ethischen Grundsatzfragen nicht aus. Und einige CROs rühmen sich sogar damit: »Bei der Rekrutierung von Probanden kann ich die Kriterien so setzen, dass es unmöglich sein wird, Nebenwirkungen zu identifizieren«, prahlt etwa der Geschäftsführer einer US-amerikanischen CRO.

Und all das hat Folgen: Immer wieder kommt es zu Zwischenfällen. So starben etwa bei den 42 Tests, welche die Kinderabteilung des »All India Institute of Medical Sciences« für diverse Firmen von 2006 bis 2008 durchführte, insgesamt 49 junge ProbandInnen. Trotzdem bekannte der Bayer-Konzern, der an dieser Testreihe nicht beteiligt war, sich auf der letzten Hauptversammlung weiter zur umstrittenen Praxis. Von der Coordination gegen Bayer-Gefahren zur Rede gestellt, antwortete Vorstand Werner Wenning nur knapp, das Unternehmen würde sich streng an regulatorische Auflagen halten. Und von Risiken und Nebenwirkungen der Tests will er ebenfalls nichts gewusst haben.

* Unser Autor gehört dem Vorstand der Coordination gegen Bayer-Gefahren an.

Aus: Neues Deutschland, 23. Juni 2010



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