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Frage der Produktivität

EU-Subventionen nicht ursächlich schuld an der Nahrungsmittelkrise. Entwicklungspolitik muß Infrastruktur und technische Basis im Süden stärken

Von Thorsten Hild *

In der Diskussion über die gegenwärtige Nahrungsmittelkrise wird immer wieder ein Hauptschuldiger genannt, die EU-Agrarpolitik. So forderte Renate Künast von den Grünen: »Die EU-Exportsubventionen sollten wir lieber heute als morgen ersatzlos streichen.« Hans-Michael Goldmann (FDP) kam zum Schluß, »das Schlimmste, was wir machen können, ist, so weiterzumachen wie bisher, also unseren Nahrungsmitteln Exporthilfen an die Seite zu stellen…« Ähnlich äußerte sich Thilo Bode von der Verbraucherschutzorganisation foodwatch: »Die Agrarpolitik der Europäischen Union hat einen entscheidenden Anteil am Hunger in der Welt«, und der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler: »Die Subventionen der EU fabrizieren den Hunger in Afrika.« Auch Heribert Scharrenbroich von der Hilfsorganisation CARE sieht die »Ursachen für die Hungerkatastrophe überwiegend bei den Industriestaaten«. Die EU-Subventionen für die hiesige Landwirtschaft, hätten diejenige in den Entwicklungsländern zerstört, weil die Bäuerinnen und Bauern dort ihre Erzeugnisse nicht zu den künstlich niedriggehaltenen Preisen der importieren Waren aus Europa anbieten könnten und daher aus dem Markt gedrängt würden.

Gern wird in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, daß die Ausgaben für Landwirtschaft in der Europäischen Union über die Hälfte des EU-Budgets in Anspruch nehmen. Daß der Agrarhaushalt der einzige ist, der im Rahmen einer gemeinsamen Landwirtschaftspolitik bisher von nationaler auf die EU-Ebene übergegangen ist, wird dabei verschwiegen. Die Agrarsubventionen des Bundes befinden sich mit 0,91 Milliarden Euro (das sind lediglich vier Prozent der gesamten, vor allem auf das verarbeitende Gewerbe entfallenden Subventionen) auf einem historischen Tiefpunkt. Der Anteil der EU-Agrar­ausgaben am EU-Bruttonationaleinkommen ist von 0,54 Prozent Anfang der neunziger Jahre auf zuletzt 0,44 Prozent gefallen. Nimmt man die häufig zitierten EU-Agrarausgaben von 50 Milliarden Euro und verteilt sie auf die rund 500 Millionen Menschen in der Staatengemeinschaft, kommt man zum Ergebnis, daß täglich pro Kopf rund 30 Cent für gesunde Ernährung gezahlt werden. Würde der Abbau von Subventionen für die Landwirtschaft tatsächlich zur Lösung der Probleme in den Entwicklungsländern beitragen, müßten wir heute die Nahrungsmittelkrise gar nicht diskutieren: Der Anteil aller Marktstützungsmaßnahmen der EU (Ausfuhrerstattungen, Lagerhaltung) am gesamten EU-Agrarhaushalt ist von 91 Prozent 1991 auf 14 Prozent im vergangenen Jahr gesunken.

Zu einer gänzlich anderen Einschätzung der Nahrungsmittelkrise führt ein Vergleich der landwirtschaftlichen Produktivität in Industrie- und Entwicklungsländern. Nimmt man das, was die Landwirte in den Industrieländern pro Kopf produzieren, als Maßstab, öffnet sich zu den Entwicklungsländern ein Abstand, der schockieren muß. Besonders erschreckend ist die niedrige Produktivität in den Ländern Afrikas südlich der Sahara. Vergleicht man die Wertschöpfung je Beschäftigten in der Landwirtschaft, erreichen die Länder des subsaharischen Afrikas rund ein Prozent der Produktivität in den Industrieländern. Die Menschen in dieser Region sind weltweit am schlimmsten von Unterernährung betroffen. Laut Weltbank leidet dort jede dritte Person unter ständigem Hunger. Selbst Lateinamerika und die Karibik, die als Gruppe unter den Entwicklungsländern die höchste Produktivität ausweisen, erreichen nicht einmal 15 Prozent des Niveaus der Industriestaaten. Die Kluft in der Produktivität hat sich dabei in den vergangenen Jahren noch weiter vertieft. Ein Trend, der anhalten dürfte. Während die Industrieländer ausgehend von einem ohnehin überragenden Niveau ihre Leistungsfähigkeit in den vergangenen zehn Jahren noch einmal steigern konnten, gelang dies den meisten Entwicklungsländern nicht. Das belastet auch die landwirtschaftliche Produktivität in der Welt insgesamt.

Was würde vor diesem Hintergrund passieren, wenn die Entwicklungsländer billige Nahrungsmittelimporte aus den Industrieländern verbieten oder einschränken würden? Aufgrund der niedrigen Produktivität der dortigen Landwirtschaft würden die Preise in die Höhe schnellen. Die allgemeine Annahme, daß die steigenden Preise zu einer entsprechenden Ausdehnung der Produktion führen würden, werden die Bäuerinnen und Bauern in den Entwicklungsländern nicht erfüllen können. Die geringe landwirtschaftliche Produktivität erlaubt es ihnen gar nicht, mit einer spürbaren Ausdehnung der Produktion auf Preissteigerungen zu reagieren. Und selbst wenn, wer sollte sich dann diese Nahrungsmittel noch leisten können? Hungerkatastrophen und Aufstände vor allem in den Städten würden sich häufen. Die Reallöhne der Beschäftigten in der ohnehin nur in Ansätzen vorhandenen verarbeitenden Industrie, aber auch im Dienstleistungssektor würden durch den Anstieg der Nahrungsmittelpreise nicht länger zum Überleben reichen.

Anstatt sich auf die EU-Subventionen zu stürzen, sollte Deutschland lieber verstärkt die technische Ausstattung der Landwirtschaft und den Ausbau von Verkehrswegen und anderer Infrastruktur (Lagerhaltung, Agrarforschung) in den ärmsten Ländern unterstützen und hierfür auch vermehrt Hermes-Bürgschaften bereitstellen.

* Unser Autor ist Volkswirt und Mitarbeiter des Fraktionsvorsitzenden der Linken im Deutschen Bundestag, Oskar Lafontaine

Aus: junge Welt, 14. Mai 2008



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