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Die neue Maxime lautet Ernährungssicherheit

EED-Agrarexperte Rudolf Buntzel fordert, die Forschung in den Dienst der Armen zu stellen / Rudolf Buntzel ist Beauftragter des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED) für Welternährungsfragen



Neues Deutschland: Die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel steigen stetig. Indien hat die Reisexporte gedrosselt, in Haiti gab es Hungerrevolten. Ist es Zeit für eine neue Agrarpolitik?

Buntzel: Wir stehen derzeit an einem Wendepunkt. Eine vergleichbare Situation hat es in der Geschichte so noch nicht gegeben. Die Preise steigen und das Niveau der Weltgetreidelager sinkt dramatisch. Wir erleben nach Jahren des Überflusses eine Situation der Knappheit. Und um mit dieser Situation umzugehen, brauchen wir neue Instrumente. Die neue Maxime muss die der Ernährungssicherheit sein. Wir müssen uns von der bedingungslosen Liberalisierung des Marktes verabschieden.

Hieße das, dass die Länder des Südens wieder eine eigene Agrarpolitik entwickeln dürfen, statt mit hochsubventionierten Lebensmitteln aus aller Welt konkurrieren zu müssen?

Genau, armen Ländern muss das Recht auf Selbstversorgung zugebilligt werden. Das wird ihnen seit Jahren von internationalen Institutionen wie der Welthandelsorganisation (WTO) vorenthalten. Die hat schließlich die Position der exportierenden Agrarländer eingenommen, Exportoffensiven gebilligt und viele Länder gezwungen, Hürden zum Schutz des eigenen Marktes abzubauen.

Was bedeutet das für die Europäische Union, die zu den großen Exporteuren von Nahrungsmitteln gehört?

Unsere Agrarpolitik muss verantwortlicher, schädliche Subventionen müssen abgebaut werden. Und man muss den Ländern des Südens helfen, ihre Landwirtschaft wiederzubeleben. Ich plädiere dafür, die Flächenprämien von 320 Euro pro bebautem Hektar, die EU-Bauern derzeit erhalten, angesichts der hohen Preise zu streichen. Dieses Geld könnte man gut im Süden investieren, denn dort ist der Investitionsbedarf enorm.

Die UNO sorgt sich ernsthaft um die Nahrungsmittelversorgung im Süden. Muss sich aber nicht auch deren Politik ändern?

Oh ja, das haben die Vorschläge des Weltagrarrats gerade bestätigt. Das Gremium hat zahlreiche Empfehlungen erarbeitet, die in die richtige Richtung gehen. Im Kern lautet die Botschaft: Fördert die Kleinbauern, denn die sind für die Ernährung im Süden ausschlaggebend. Dazu muss sich die internationale Agrarforschung mehr an deren Bedürfnissen orientieren. Es gibt in Afrika rund 2000 Hirsesorten, doch kaum systematische Forschung, dabei lassen sich die Erträge oftmals vervielfachen, wenn nur gesundes und geeignetes Saatgut ausgesät wird.

Demzufolge müssten auch der IWF und die Weltbank ihre über Jahre verfolgten falschen Konzepte ändern.

Diese Institutionen sind mitschuldig an der Krise, denn die Deregulierung und Liberalisierung des Agrarmarktes hat dazu geführt, dass die Landwirtschaft im Süden vernachlässigt wurde. Derzeit werden im Norden hochsubventionierte Überschüsse erzeugt, die vom Süden importiert werden. IWF und Weltbank haben diese Abhängigkeit mitproduziert und sorgen heute mit Nahrungsmittelhilfen für die Alimentierung des Südens. Davon profitieren nur die vier oder fünf Exportnationen, die den Weltmarkt beliefern.

Das Agrarmodell des Nordens muss demnach durch ein Agrarmodell des Südens ersetzt werden?

Wir müssen die Forschung in den Dienst der Armen stellen. Komplexe Gentechnik-Labors sind nicht das richtige Rezept, sondern die Förderung klassischer Kulturen, die den lokalen Bedingungen angepasst sind.

Fragen: Knut Henkel

Hintergrund - Ein stiller Tsunami

Das Welternährungsprogramm (WFP) hat die Folgen der steigenden Preise für Nahrungsmittel mit einem »stillen Tsunami« verglichen. Die hohen Kosten drohten auf allen Kontinenten der Erde mehr als 100 Millionen Menschen in den Hunger zu treiben, teilte das WFP letzte Woche mit. »Dies ist das neue Gesicht des Hungers - Millionen Menschen, die vor sechs Monaten noch nicht unter akutem Hunger leiden mussten, tun es nun«, erklärte WFP-Direktorin Josette Sheeran.

UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon hat die Nahrungskrise zur Chefsache gemacht. Der weltweite Anstieg der Lebensmittelpreise soll im Mittelpunkt des jährlichen Treffens der UNO-Einrichtungen stehen, das unter seiner Leitung heute in der schweizerischen Hauptstadt Bern stattfindet. An der jährlichen Zusammenkunft nehmen Vertreter von UNO-Einrichtungen sowie vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank teil.

Der UNO-Generalsekretär denke überdies darüber nach, einen Weltgipfel zur Nahrungsmittelkrise einzuberufen, sagte Bans Sprecherin Michèle Montas kürzlich in New York. Dem Problem würden zudem zwei weitere UN-Veranstaltungen gewidmet - eine Diskussion im Wirtschafts- und Sozialrat im Mai und ein Gipfel der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) im Juni.

Mit anderen UN-Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und Regierungen will das WFP einen Drei-Stufen-Plan gegen die Nahrungsmittelkrise umsetzen. Kurzfristig sollen Schulspeisungen ausgebaut und Projekte zur Ernährungssicherheit finanziert werden. Mittelfristig will das WFP Hilfsorganisationen seine logistischen Kapazitäten zur Verfügung stellen, um lebensrettende Maßnahmen zu unterstützen. Langfristig sollen unter anderem Reformen unterstützt und Regierungen bei landwirtschaftlichen Projekten beraten werden. AFP/ND



Aus: Neues Deutschland, 28. April 2008


Kritik an industrieller Anbauweise

Weltagrarrat fordert "radikalen Wandel"

Von Kurt Stenger *


Einen »radikalen Wandel« beim Nahrungsmittelanbau fordert der Weltagrarrat (IAASTD). Das 2005 auf Initiative der Weltbank und der UN-Ernährungsorganisation FAO gegründete Expertengremium legte Mitte April seinen Abschlussbericht vor, an dem rund 400 Wissenschaftler aus aller Welt mitgeschrieben haben.

Der Weltagrarrat übt scharfe Kritik an den Strukturen der »modernen« Landwirtschaft. Zwar wurde die Nahrungsmittelproduktion gesteigert, doch die Ergebnisse seien ungleich verteilt. Und der Preis, den Kleinbauern, Landarbeiter, ländliche Gemeinden und die Umwelt zahlten, sei »nicht tolerierbar«. Zudem seien die ärmsten Länder die Verlierer der Handelsliberalisierung, heißt es in dem Bericht.

Die Herausforderung ist gewaltig. Der Weltagrarrat rechnet mit einer Verdoppelung der Nachfrage nach Nahrungsmitteln in den nächsten 25 bis 50 Jahren, vor allem in Entwicklungsländern. Mit der jetzigen Anbauweise und unter Berücksichtigung der Folgen des Klimawandels (Dürren, Wasserknappheit, Überschwemmungen) drohen ein sozialer und ein Umweltkollaps. Um dies zu vermeiden, müssten statt der »energieintensiven, toxischen Landwirtschaft« Kleinbauern und agroökologische Anbaumethoden gefördert werden. Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung müssten mit dem Erhalt der natürlichen Ressourcen wie Boden, Wasser, Wälder und Artenvielfalt verknüpft werden. Die Staaten müssten Forschung und Bildung stärker fördern, wobei es um die Verbindung moderner Technologien mit lokalem, traditionellem Wissen gehe.

Die Analyse hat es in sich. Kein Wunder, dass bei der Abschlusssitzung des IAASTDRegierungspanels in Johannesburg die Vertreter dreier Staaten gegen die »Ansichten« des Berichts votierten: Australien, Kanada und die USA.

Aus: Neues Deutschland, 28. April 2008


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