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925 Millionen werden nicht satt

Welthungerindex 2010: 29 Länder von großer Nahrungsmittelknappheit betroffen

Bei der Bekämpfung des Hungers in der Welt hat das vergangene Jahr keinen Fortschritt gebracht. Noch immer herrscht in 29 Ländern der Erde große Nahrungsmittelknappheit. 2,2 Millionen Kinder sterben jährlich durch Mangel- und Unterernährung. Das teilte die Welthungerhilfe bei der Vorstellung ihres diesjährigen Welthungerindex am Montag (11. Okt.) in Berlin mit.

Knapp ein Jahr nach Amtsantritt der Bundesregierung hat die Deutsche Welthungerhilfe eine »ernüchternde« Zwischenbilanz der Entwicklungspolitik gezogen. »Kurzfristige außenwirtschaftliche Interessen« dürften nicht wichtiger sein als Investitionen in ländliche Entwicklung und Ernährungssicherheit, kritisierte die Präsidentin der Hilfsorganisation, Bärbel Dieckmann, am Montag in Berlin. Anlass war die Veröffentlichung des Welthunger-Index 2010 zum Welternährungstag am Samstag (9. Okt.).


Hier geht es zur Weltkarte: Welthunger-Index 2010 nach Schweregrad.



Trotz spürbarer Fortschritte in Südasien und Lateinamerika hungern demnach immer noch mehr Menschen als vor 20 Jahren. Seit 1990 stieg die Zahl der Hungernden um 75 auf 925 Millionen. Besonders gravierend habe sich die Lage in der Demokratischen Republik Kongo, auf den Komoren sowie in Burundi und Nordkorea verschlechtert, hieß es im Index, der von der Welthungerhilfe und dem Washingtoner Forschungsinstitut für Ernährungspolitik IFRI zum fünften Mal erstellt wurde. Insgesamt 29 Ländern der Erde bescheinigt der Index eine »sehr ernste« oder gar »gravierende« Hungersituation. Die Weltgemeinschaft hatte sich 2000 in den sogenannten »Millenniumszielen« darauf verständigt, den Anteil der Hungernden bis 2015 im Vergleich zu 1990 zu halbieren.

Dieckmann kritisierte, dass Vereinbarungen des Koalitionsvertrags bislang nicht umgesetzt worden seien. Auch setze sich die Kürzungspolitik fort, sagte die langjährige SPD-Politikerin und Bonner Oberbürgermeisterin. Bereits unter der Großen Koalition seien die Mittel für ländliche Entwicklung 2009 im Vergleich zum Vorjahr um rund zehn Prozent gekürzt worden. In diesem Jahr habe die Regierung die Zuschüsse für das Welternährungsprogramm um über die Hälfte auf 59 Millionen Euro und die Ausgaben für humanitäre Hilfe um 20 Prozent auf knapp 77 Millionen Euro gekürzt.

Auf dem Millenniumsgipfel in New York im September habe Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) betont, dass nicht die Höhe der finanziellen Mittel in der Entwicklungszusammenarbeit wichtig sei, sondern vielmehr deren Wirkung. »Nach fast 50 Jahren praktischer Erfahrungen in den Ländern des Südens wissen wir, dass weniger nicht mehr ist«, sagte Dieckmann.

Der Welthunger-Index erfasst nicht nur die unzureichende Deckung des Kalorienbedarfs, sondern bezieht auch weitere Faktoren von Unterernährung mit ein, wie etwa Gewicht und Sterblichkeit von Kleinkindern. Eines der zentralen diesjährigen Ergebnisse ist die »Vererblichkeit« von Hunger: Frauen, die selbst als Kinder an Unterernährung litten, haben aufgrund einer zu geringen Körpergröße ein hohes Risiko, wiederum untergewichtige Kinder zur Welt zu bringen. Schon jetzt gelten ein Drittel aller fünfjährigen Kinder in den Entwicklungsländern als zu klein für ihr Alter, fast ein Viertel als untergewichtig. Ein Zehntel leide sogar an starkem Untergewicht.

Die größten Fortschritte bei der Hungerbekämpfung machten laut Index Malaysia, Kuwait, die Türkei und Mexiko. Der einzige afrikanische Staat südlich der Sahara unter den besten Zehn sei Ghana.

* Aus: Neues Deutschland, 12. Oktober 2010

Welthunger-Index 2010: Mangelernährung bei Kleinkindern prägt den weltweiten Hunger

Mangelernährung bei Kindern unter zwei Jahren stellt eine der größten Herausforderungen im Kampf gegen den Hunger dar. Sie hat lebenslange Auswirkungen auf Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Betroffenen. Darauf hat Bärbel Dieckmann, Präsidentin der Welthungerhilfe, bei der Vorstellung des Welthunger-Index 2010 (WHI) hingewiesen. Der Welthunger-Index konzentriert sich in diesem Jahr zum ersten Mal auf die Mangelernährung von Kleinkindern. Wichtigste Aussage: Die Zeitspanne zwischen Empfängnis und dem zweiten Lebensjahr ist für die Entwicklung entscheidend. Wenn in diesen 1.000 Tagen zu wenig oder die falsche Nahrung zur Verfügung steht, sind die negativen Folgen der Unterernährung irreversibel. "Mütter, die als Kind schlecht ernährt waren, bringen häufig untergewichtige Kinder zur Welt. Diesen Teufelskreis der Unterernährung müssen wir durch konsequente Beratung und Förderung der ländlichen Entwicklung durchbrechen", sagt Dieckmann.

In Entwicklungsländern sind rund ein Drittel aller Kinder unter fünf Jahren zu klein für ihr Alter und damit unterentwickelt. Über 90 Prozent der Kinder, die Anzeichen für chronische Unterernährung aufweisen, leben in Afrika und Asien. Der Welthunger-Index zeigt: Wo umfassende Gesundheitsdienste zur Vorsorge und Ernährungsmaßnahmen für Kinder unter zwei Jahren sowie für deren Mütter während der Schwangerschaft zur Verfügung stehen, kann die Unterernährung der Kinder um 25 bis 36 Prozent gesenkt werden.

Dieckmann appelliert an die Bundesregierung, die Themen ländliche Entwicklung und Ernährungssicherheit in den Mittelpunkt der Entwicklungszusammenarbeit zu stellen. "Kurzfristige außenwirtschaftliche Interessen unseres Landes sollten dahinter zurückstehen", fordert Dieckmann. "Deutschland hat eine globale Verantwortung."

Der Welthunger-Index wird zum fünften Mal zusammen mit dem International Food Policy Research Institute (IFPRI) in Washington und dem irischen Alliance2015-Partner Concern Worldwide herausgegeben und heute zeitgleich in den USA, Indien und Italien veröffentlicht. Die wichtigsten Ergebnisse zur Hungersituation: In 29 Ländern ist die Hungersituation ernst oder sogar gravierend. Die Länder mit den schlechtesten Werten liegen überwiegend in Afrika: Die Demokratische Republik Kongo führt das untere Ende der Rangliste an, gefolgt von Burundi, Eritrea und dem Tschad.

In Südasien und Afrika südlich der Sahara sind die WHI-Werte am schlechtesten. "In Südasien liegt das in erster Linie an dem niedrigen Status der Frauen im Bereich Ernährung als auch Bildung. In Afrika sind Konflikte, schlechte Regierungsführung und die hohen Aidsraten für die dramatischen Ergebnisse verantwortlich", erklärt Klaus von Grebmer, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit von IFPRI die wichtigsten Ergebnisse.

Quelle: Website der Welthungerhilfe, 11. Oktober 2010; www.welthungerhilfe.de

Hier geht es zum ganzen Bericht: EXTERNER LINK]



Hunger mit System

Von Martin Ling **

Jeder siebte Mensch hungert - 925 Millionen laut dem neuesten Welthunger-Index. Die globale Hungerbekämpfung kommt allen Appellen und Welternährungsgipfeln zum Trotz nicht voran. Das hat systemische Gründe: die von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds in den 80er und 90er Jahre verordneten Strukturanpassungsprogramme, mit denen die Unterstützung von Kleinbauern im Süden nahezu auf Null gefahren wurde. Die Abwendung in der Entwicklungszusammenarbeit von der ländlichen Entwicklung: 1992 flossen noch 20 Prozent der globalen Entwicklungshilfe in die Förderung der Landwirtschaft, 2007 nur noch 4,6 Prozent. Auch viele Regierungen im Süden haben den Agrarsektor über Jahrzehnte sträflich vernachlässigt. Dabei leben 75 bis 80 Prozent aller Hungernden in ländlichen Räumen. Und nicht zuletzt zeigen die Rekordernten 2008 und 2009, dass der Fehler im System liegt, denn sie gingen mit einem Anstieg der Zahl der Hungernden einher.

Wer den Hunger wirklich bekämpfen will, kommt um eine globale Agrarreform nicht herum. Der Weltagrarrat der UNO hat die Fundamente dafür 2008 benannt: lokale und ökologische Lösungen mit den Kleinbauern als zentralem Träger statt Monokulturen und Gentech. Doch dafür müsste die Macht der Agrokonzerne gebrochen und der Weltagrarhandel viel stärker reguliert werden. Der politische Wille dazu fehlt.

** Aus: Neues Deutschland, 12. Oktober 2010 (Kommentar)

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