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Armut rückt in die Mitte

Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands warnt vor US-amerikanischen Verhältnissen

Von Johanna Treblin *

Jeder Siebte gilt in Deutschland als arm oder armutsgefährdet, heißt es in einem neuen Armutsbericht. Das ist ein neuer Negativrekord.

Vor einer Amerikanisierung des Arbeitsmarktes warnte der Paritätische Wohlfahrtsverband am Donnerstag in Berlin bei der Vorstellung seines dritten Berichtes zur regionalen Armutsentwicklung. Neben dem Fokus auf Regionen hat der Verband darin auch generelle Trends zur Armutsentwicklung in Deutschland ausgewertet. Spätestens seit 2006 wächst demnach die Armut stetig. Während vor sieben Jahren noch 14 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet waren, lag die Quote im Jahr 2012 bei 15,2 Prozent. Damit hat jeder siebte Einwohner Deutschlands höchstens 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung. Bei einem Singlehaushalt bedeutet das ein Nettoeinkommen von 869 Euro, bei einer Vierpersonenfamilie 1826 Euro.

Den Trend hält Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen, auch deshalb für besorgniserregend, weil parallel die Arbeitslosenquoten und die Zahl der Hartz-IV-Bezieher gesunken sind – wenn auch nur leicht. Das deute auf eine Amerikanisierung der Beschäftigungsverhältnisse hin, nämlich, dass immer mehr Menschen im Niedriglohnsektor beschäftigt seien und sozialversicherungspflichtige Vollzeitjobs abnähmen, so Schneider in Berlin. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse dagegen gebe es immer mehr. Aus den Zahlen lässt sich Schneider zufolge nicht eindeutig ablesen, ob auch die Zahl armutsgefährdeter Haushalte trotz Voll- oder Teilzeitbeschäftigung zunehme. Aber: »Armut rückt immer mehr in die Mitte der Gesellschaft«, so Schneider.

Noch drastischer stellte der Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, Joachim Speicher, die Situation dar: »Deutschland ist zerrissen zwischen Arm und Reich.« Wer einmal in der Armutsfalle sitze, komme kaum mehr heraus. Arme hätten niedrigere Bildungschancen und größere Gesundheitsprobleme. Dass einige Behörden nun mitteilen, dass sie auch dieses Jahr wieder den »Weihnachtsfrieden« einhalten wollen, also zwischen dem 23. Dezember und Neujahr keine Verwaltungsakte erlassen, die die Empfänger belasten, beispielsweise keine Steuerschulden eintreiben, wirkt bei den Ergebnissen nur wie eine müdes Zugeständnis.

Am höchsten ist die Armutsquote im dritten Jahr in Folge in Bremen. Dort sind mindestens 23 Prozent und damit fast ein Viertel der Bevölkerung armutsgefährdet. Problemregion Nummer eins ist das Ruhrgebiet. Die Armutsrate ist dort in den vergangenen sechs Jahren um rund ein Fünftel auf 19,2 Prozent gestiegen. In Dortmund und Duisburg nahm die Armut in diesem Zeitraum sogar um mehr als 40 Prozent zu.

Schneider begrüßte die Vorhaben der Großen Koalition zur Einführung eines Mindestlohnes und zur Reduzierung von Leiharbeit und prekären Beschäftigungsverhältnissen. Dies seien »nicht zu unterschätzende armutspolitische Instrumente«. Doch seien weit mehr soziale Programme notwendig, darunter eine Ausweitung der Ganztagsbetreuung in Schulen und eine Verbesserung des Bildungsförderungsprogrammes BAFöG. »Der Koalitionsvertrag kann nicht das letzte Wort der Bundesregierung zur Armutsbekämpfung gewesen sein«, so Schneider. Speicher ergänzte, Studien hätten gezeigt, dass ein Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde nicht ausreiche, um nach 42 Berufsjahren eine Rente über Hartz-IV-Niveau zu erzielen.

Schneider erklärte darüber hinaus, dass der Bericht seines Verbandes die Aussagen des 4. Armutsberichtes der Bundesregierung vom März widerlege. Darin hieß es, die Armutsquote in Deutschland sei seit 2007 relativ konstant geblieben und die Einkommensschere schließe sich langsam. Die gegensätzlichen Ergebnisse aber überraschen nicht: Schließlich waren im Armutsbericht der Bundesregierung prägnante Passagen auf Wunsch der FDP gestrichen worden. So tauchte die Aussage »Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt«, in der Endfassung nicht mehr auf, was die Situation in Deutschland positiver darstellte als die ursprüngliche Version der Studie erwarten ließ.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 20. Dezember 2013


In der Armutsspirale

Alarmierender Report: Ganze Regionen veröden, rasant wachsende Kluft zwischen Elend und Wohlstand, soziale Zerrissenheit hat dramatisch zugenommen

Von Michael Merz **


Noch im März verkündete die Bundesregierung, die Schere zwischen Arm und Reich schließe sich im Land. Doch dies war Schönfärberei, begründet mit veraltetem Datenmaterial. Statt dessen hat die Armut ein neues Rekordhoch erreicht. »Sämtliche positiven Trends aus den letzten Jahren sind zum Stillstand gekommen oder haben sich gedreht«, sagte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, anläßlich der Vorstellung des Armutsberichts 2013 am Donnerstag in Berlin.

Jeder siebte Mensch lebt an oder unter der Armutsgrenze. Seit 2006 der erste Bericht dieser Art vorgelegt wurde, hat die Not kontinuierlich zugenommen. Die Quote liegt nun durchschnittlich bei 15,2 Prozent. Und die Kluft zwischen Wohlstand und Elend wächst stetig. Während im Bayerischen Oberland nur 8,1 Prozent der Menschen als arm gelten, sind es in Vorpommern ganze 25,5 Prozent. Der Abstand zwischen dem Bundesland mit der geringsten Armutsquote, Baden-Württemberg (11,1 Prozent), und dem mit der höchsten, Bremen (23,1 Prozent), hat sich weiter vergrößert. »Deutschland war noch nie so gespalten wie heute, ganze Regionen befinden sich in einer Armutsspirale«, so Schneider.

Das Ruhrgebiet mit fünf Millionen Einwohnern ist dabei Deutschlands Armutsregion Nummer eins mit einer überproportionalen Zunahme. Wie rasant sich das Elend Bahn bricht, wird am Beispiel Dortmunds deutlich. Lag die Armutsquote in der Stadt im Jahr 2005 noch bei 17,4 Prozent, ist sie 2012 auf 22,8 Prozent gestiegen. »Wir brauchen dringend eine gezielte finanzielle Unterstützung von Kommunen in Form eines Solidarfonds«, so Schneider. Es sei ein Teufelskreis, gerade Regionen mit einem Schuldenberg seien betroffen. Hauptursache für die wachsende Armut sei die Amerikanisierung des Arbeitsmarktes – geringe Hartz-IV-Sätze, fehlende Mindestlöhne, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Teilzeitarbeit. Was die zunehmende Ausbeutung auf dem Arbeitsmarkt offensichtlich macht: Die ständig steigende Armutsquote geht einher mit sinkenden Erwerbslosenzahlen. »Nicht mehr nur Familien in prekären Verhältnissen sind betroffen, die Armut rückt in die Mitte der Gesellschaft vor«, sagt Joachim Speicher von der Nationalen Armutskonferenz, der zusammen mit Schneider den Bericht präsentierte.

Das fünftreichste Land der Welt mit einem Privatvermögen von fünf Billionen Euro müsse es schaffen, solidarisch zu sein. »Um Steuererhöhungen für sehr hohe Einkommen und sehr hohe Vermögen kommen wir nicht herum«, so Schneider. Diese zum Tabu zu erklären sei ein Geburtsfehler der neuen Regierungskoalition.

Im Gespräch mit junge Welt plädierte Joachim Speicher dafür, den öffentlich geförderten Beschäftigungssektor mit sozialversicherungspflichtigen Tätigkeiten flächendeckend auszubauen. »Da liegt Arbeit, die muß man nicht erfinden«, sagte er. Speicher möchte mehr am Gemeinwohl orientierte Beschäftigung schaffen, wie etwa Mobilitätsdienste, Pflege und Kinderbetreuung. In Berlin zum Beispiel habe das Modellprojekt gut funktioniert, dies müsse endlich bundespolitisch umgesetzt werden. »Doch das erfordert natürlich den Umbau einer großen Verwaltung und stößt dementsprechend auf große Widerstände«, so Speicher gegenüber jW.

Die Datenquelle zur Ermittlung der Armutsquote ist der Mikrozensus, der auf einer Befragung von 800000 Menschen basiert. Wer weniger als 60 Prozent des Nettodurchschnittseinkommens zur Verfügung hat (869 Euro bei Singles, 1826 Euro bei einem Paar mit zwei Kindern), ist arm.

** Aus: junge Welt, Freitag, 20. Dezember 2013

Wachsende Kluft

Sabine Zimmermann, stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, kommentiert den am Mittwoch vom Paritätischen Wohlfahrtsverband und der Nationalen Armutskonferenz vorgestellten »Bericht zur regionalen Armutsentwicklung 2013«:

Der Bericht dokumentiere, »daß die deutsche Gesellschaft in gefährlicher Weise wirtschaftlich und sozial auseinandertreibt. Um die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich nachhaltig zu bekämpfen, ist ein radikaler Kurswechsel in der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik notwendig. Im Koalitionsvertrag von Union und SPD finden sich jedoch nicht einmal Ansätze einer Kurskorrektur.« Zimmermann weiter: »Hartz IV gehört auf den Prüfstand, und der Sozialstaat muß wieder ausgebaut werden. Darüber hinaus brauchen wir wirkungsvolle Maßnahmen gegen Langzeitarbeitslosigkeit und für mehr Jobs, von denen man leben kann. Das Grundgesetz formuliert in Artikel 72 den Auftrag, gleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet herzustellen. Diesem Auftrag muß die Bundesregierung gerecht werden. Das erfordert eine Regional- und Strukturpolitik, die arbeitsmarktschwachen Regionen dauerhaft hilft. Es ist nicht hinnehmbar, daß die Armutsquote in Teilen des Ruhrgebiets, des Nordens und des Ostens mehr als doppelt so hoch ist wie im Südwesten, und daß die Republik sozial noch weiter auseinanderdriftet. Im Interesse einer regional ausgeglichenen Wirtschaftsentwicklung ist ein stärkeres Eingreifen des Staates notwendig. Das freie Spiel der Kräfte des Marktes wird es nicht richten.«




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