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Armut ohne Ursachen. Reichtum mit Intimschutz

Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung verhüllt die tatsächliche Tiefe der sozialen Gräben in Deutschland

Von Dieter Klein *

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat seinen Entwurf für den 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vorgelegt.

Armut ohne Ursachen?

Der Bericht enthält auf 363 Seiten eine Fülle von Details über Lebenslagen unterschiedlicher sozialer Gruppen und über bedrückende Lebensumstände erheblicher Teile der Bevölkerung. Rund 100 Berichtsseiten verweisen zugleich auf eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen der Bundesregierung zur Minderung der Armut. Die herausgehobene Botschaft lautet: »Der Sozialstaat wirkt.« Doch sie kann über eine Grundtatsache nicht hinwegtäuschen: In der reichen Bundesrepublik breitet sich immer mehr die Armut aus. Trotz aller Einzelinformationen bietet der Bericht eines nicht: Aussagen über die tatsächliche Tiefe der sozialen Gräben in Deutschland zwischen reich und arm und Analysen des Zusammenhangs zwischen beiden Polen.

Die präsentierten Daten über Armut in Deutschland sind gleichwohl so schwerwiegend, dass das vollständige Ausblenden ihres ursächlichen Zusammenhangs mit dem Reichtum der Superreichen als umso verantwortungsloser erscheint.

Die realen Bruttolöhne und -gehälter sind zwischen 2002 und 2005 um 4,8 Prozent gesunken. Der Anteil der unteren Hälfte der Einkommensbezieher am Gesamteinkommen in Deutschland hat sich zwischen 2002 und 2005 von 30,4 auf 28,7 Prozent verringert. Das oberste Zehntel der Einkommensbezieher habe, so der Bericht, seinen Anteil um 1,6 Prozentpunkte erhöht.

Das Risiko der Einkommensarmut ist von 1998 bis 2005 kontinuierlich angestiegen. Als armutsgefährdet gelten Personen, deren Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens liegt, in Deutschland unter 781 Euro im Monat. Die Armutsrisikoquote wird im Bericht mit 13 Prozent der Bevölkerung angegeben. Jeder Achte ist danach armutsgefährdet, 42 Prozent der Langzeitarbeitslosen, 24 Prozent der Alleinstehenden, 19 Prozent der Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung, 28,2 Prozent der Bevölkerung mit Migrationshintergrund und 32,6 Prozent ihrer Kinder. Andere Quellen rechnen jedoch für 2007 mit einer Quote Armutsgefährdeter von 17,1 statt 13 Prozent (Die Zeit, 9.8.2007).

Ohne Sozialtransfers, so wird im Bericht hervorgehoben, würden sogar 26 Prozent der Bevölkerung statt 13 Prozent mit dem Risiko der Armut leben. 7,228 Millionen Leistungsempfänger lebten im Jahr 2007 vom Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld. Mehr als ein Drittel der unselbständig Beschäftigten arbeitet unterhalb der Niedriglohnschwelle von zwei Dritteln des mittleren Bruttoeinkommens.

Mit der Einkommens- und Vermögensarmut korrespondieren mehr als in jedem anderen Industrieland die Bildungsarmut der sozial Schwächeren und ihr Gesundheitszustand. Der Anteil der Personen an der Bevölkerung mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen beträgt in der Einkommensgruppe unter 80 Prozent des mittleren Einkommens 20,8 Prozent, in der Einkommensgruppe mit mehr als 150 Prozent des mittleren Einkommens 3,3 Prozent! Die Verkürzung des Lebensalters bei Langzeitarbeitslosen um 7 bis 10 Jahre wird im Bericht nicht erwähnt.

Über Ursachen für die zunehmende Armut in Deutschland ist im Bericht der Bundesregierung kein Wort zu finden. Ist wirklich böswillig, wer sie als Folge der Profitdominanz in Wirtschaft und Gesellschaft, als Resultat antisozialer Politik und als Kehrseite des anwachsenden Reichtums betrachtet?

Intimschutz für den Reichtum

Die spärlichen Passagen über Reichtum in Deutschland im Bericht der Bundesregierung halten sich strikt an die Einsicht des Reichtumsforschers Jürgen Espenhorst: »Ähnlich wie das Sexualleben der öffentlichen Kontrolle entzogen ist, beansprucht auch der Reichtum einen Intimschutz.« Mit äußerster Zurückhaltung formuliert, läuft die Reichtumsberichterstattung im jüngsten Bericht über Armut und Reichtum in Deutschland auf eine überaus dreiste Verschleierung der tatsächlichen Eigentums-, Vermögens-, Verfügungs- und Herrschaftsverhältnisse in der Bundesrepublik hinaus. Quod est demonstrandum – was zu beweisen ist:

Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2005 enthielt immerhin noch eine Berechnung des Anteils der verschiedenen Zehntel aller Haushalte am Nettogesamtvermögen. Im Reichtumsbericht 2008 wurde der Intimschutz des Reichtums weiterentwickelt – eine vergleichbare Übersicht zur Vermögensungleichheit (zu unterscheiden von Einkommensungleichheit) fehlt darin. Doch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat sie vorgelegt (siehe Tabelle oben rechts).

Die dürftige Hauptaussage im jüngsten Armuts- und Reichtumsbericht über die Reichen ist, dass in Deutschland rund 6,8 Millionen Reiche mit einem Nettomonatseinkommen von 3.418 Euro oder mehr leben. Das sind 8,8 Prozent der Bevölkerung. Als Indikator für Reichtum gilt in dieser Berechnung ein Einkommen, das mindestens das Doppelte vom mittleren Einkommen beträgt. Die wirklich Reichen würden für diesen Maßstab nur ein Lächeln haben. Eine solche Reichtumsdefinition blendet nahezu vollständig aus, dass der Begriff Reichtum in engster Relation zu ökonomischer und gesellschaftlicher Macht zu verstehen ist.

Aussagefähiger über Reichtum in Deutschland ist schon, dass in der Bundesrepublik nach Angaben der Investmentgesellschaft Merrill Lynch/Capgemini 798.000 Finanzmillionäre mit einem reinen Finanzvermögen von mehr als 1 Million Dollar leben. Das ist Rang 2 nach den USA mit 2,92 Millionen Finanzmillionären. Mehr noch, 4.400 Deutsche waren bereits im Jahr 2004 Eigentümer eines reinen Finanzvermögens von mehr als 30 Millionen Dollar. Sie zählen zu der kleinen globalen Geldmachtelite des Finanzmarkt-Kapitalismus, für die Merrill Lynch im Jahr 2009 ein reines Finanzvermögen von 42,2 Billionen Dollar, im Jahr 2011 von 51,2 Billionen erwartet.

Für 2004 wies der »World Wealth Report 2004« 55 deutsche Nettovermögensmilliardäre aus. Allein die 24 Reichsten unter diesen Superreichen verfügen nach Angaben des »Manager Magazin« vom Oktober 2007 über ein Nettovermögen von 180,3 Milliarden Euro.

Reichtum ist Basis für Entwicklung, ist »an sich« Zivilisationspotenzial, aber unter kapitalistischen Bedingungen in erster Linie Kapitalreichtum. Dieser ist die ökonomische Grundlage für die Herrschaft der Reichen und insbesondere der superreichen Machtelite. Für sie bedeutet Kapitalreichtum weit überdurchschnittliche Verfügung über alle anderen Ressourcen der Gesellschaft, bestimmenden Einfluss auf die Medien und auf die Politik bis zur Geo- und Militärpolitik. Die Kehrseite des Kapitalreichtums ist der Ausschluss der Bevölkerungsmehrheit von wichtigen Lebensbedingungen und Wirtschaftsressourcen als Voraussetzung individueller Freiheit.

Reichtum einfach als das Doppelte oder mehr als das Doppelte der mittleren Einkommen zu bestimmen, verstellt ein solches Verständnis des Reichtums. Nicht nur die extreme Konzentration von Geldkapitalvermögen wird im Bericht ausgeblendet. Verschwiegen wird, dass nach dem Market Research Report 2006 über das Reichtumsmanagement in Deutschland rund 30 Prozent der liquiden Kapitalvermögen in offshore-Plätzen der Versteuerung in Deutschland und damit der potenziellen Verminderung der Armut entzogen werden. Selbst die Reichtumskonzentration von Produktivvermögen bleibt einfach unerwähnt. Dabei sind von der Industrieproduktion der 25 Mitgliedstaaten der EU in deutschen – meist transnationalen – Unternehmen 28,4 Prozent der chemischen Industrie, 37,4 Prozent des Maschinenbaus, 47,1 Prozent der Automobilindustrie, 27,7 Prozent der Metallindustrie und 19,6 Prozent der Luft- und Raumfahrt konzentriert.

Aus welcher Sicht auch immer betrachtet, die Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung kommt einer skandalösen Irreführung der Öffentlichkeit über den Reichtum, über seine Exponenten und seine Rolle in der Machtstruktur Deutschlands gleich. Quod erat demonstrandum – was zu beweisen war. Zusammenhang von Reichtum und Armut

Es sind die Superreichen, deren Geldkapital rund um die Erde auf der Jagd nach profitablen Anlagemöglichkeiten ist. Auf der Flucht vor den selbst verursachten Krisen auf den Finanzmärkten wird beispielsweise mit spekulativen Zielen in Rohstoffe und Nahrungsgüter investiert. Das hat nach Expertenschätzungen im Frühjahr 2008 20 bis 40 Prozent der Preisexplosion von Hauptnahrungsmitteln wie Reis, Weizen und Mais hervorgerufen – mit katastrophalen Folgen für Millionen Arme.

Es ist das hochmobile Geldvermögen der Superreichen, das angelegt von Banken, Investmentfonds und Versicherungskonzernen innerhalb kurzer Zeit in Boomregionen und -branchen hineinfließt, aber genauso schnell wieder abgezogen werden kann. Mit dieser Drohung wird Druck auf Regierungen und Unternehmen ausgeübt, Löhne und soziale Standards zu senken, Umweltstandards niedrig anzusetzen sowie öffentliche Güter und öffentliches Eigentum zu privatisieren. Die Folge ist, dass Bürgerinnen und Bürger bisher garantierte Rechte auf öffentliche Daseinsvorsorge – z.B. im Gesundheits- und Bildungsbereich – verlieren und in Kundinnen und Kunden verwandelt werden, deren Teilhabe an notwendigen Lebensbedingungen immer mehr von ihren höchst unterschiedlichen oder gar nicht gefüllten Geldbeuteln abhängt. Das Ergebnis ist wachsende Armut vieler ohnehin Einkommensschwacher als Kehrseite anschwellenden Reichtums.

Die hohen Renditemargen für die Gewinner auf den Finanzmärkten und die Steigerung der Aktienwerte werden zum Maßstab der Durchrationalisierung auch von Produktion und Dienstleistungen. Lohndruck, Entlassungen, Schließung wenig profitabler Unternehmensteile oder sogar eine Verlagerung von Firmen ins Ausland sind das Resultat – wiederum mit der Folge wachsender sozialer Klüfte.

Der Anteil der Lohnabhängigen am Volkseinkommen in Deutschland ist von 71 Prozent im Jahr 1991 auf weniger als 65 Prozent 2007 zurückgegangen. Der Anteil der Gewinne und Vermögenseinkommen ist entsprechend von 29 auf über 35 Prozent gestiegen – Angaben, die im Bericht allerdings nicht zu finden sind. Die Steuerpolitik in Deutschland vertieft diese soziale Polarisierung. Der Bericht der Regierung erweckt dagegen den Eindruck, die Reichen würden die Hauptsteuerlast im Lande tragen. Wir erfahren, dass die obersten 10 Prozent der Einkommenssteuerpflichtigen 52 Prozent des gesamten Einkommenssteueraufkommens aufbringen, die unteren 50 Prozent nur knapp über 6 Prozent. Gerechtigkeit scheint auf gutem Wege zu sein. Doch der Bericht verschweigt, dass die Gesamtsteuerbelastung der privaten Unternehmens- und Vermögenseinkommen zwischen 1980 und 2007 von 20,3 auf 10,5 Prozent gesunken, die Lohnsteuerbelastung aber von 15,7 auf 18,4 Prozent angestiegen ist . Humanreichtum contra Kapitalreichtum

Der innere Zusammenhang der Gesamtheit dieser Daten resultiert daraus, dass in der kapitalistischen Gesellschaft als Reichtum vor allem der Kapitalreichtum gilt. Deshalb geht das Anschwellen des Reichtums am größten Teil der Bevölkerung vorbei. Eher fließt er auf spekulative Finanzmärkte als in Lohnerhöhungen, Bildung, Gesundheit und Rentenkassen, eher in Militäreinsätze als in die Bewahrung der Umwelt und in solidarische Entwicklungshilfe und nicht selten sogar in Geschäfte, die nach Interpol-Angaben allein in Westeuropa jährliche Verluste von rund 500 Milliarden Dollar durch Wirtschaftskriminalität zur Folge haben.

Ein Armuts- und Reichtumsbericht, der solche Zusammenhänge nicht benennt, taugt vielleicht für ein Flickwerk von Einzelreparaturen. Aber er führt am Kern der Armutsüberwindung vorbei, weil notwendige Einzelschritte nicht als Teil eines Transformationsprozesses zu einer gerechten Gesellschaft konzipiert werden. Mindestanforderungen für eine Armutsüberwindung sind die Einführung von Mindestlöhnen, eine bedarfsorientierte repressionsfreie Grundsicherung und vor Armut schützende Mindestrenten sowie die Auflage eines Zukunftsinvestitionsprogramms für Bildung, öffentliche Daseinsvorsorge und sozialökologischen Umbau.

Die Gesellschaft bedarf eines anderen Maßstabs als der Steigerung des Kapitalreichtums. Marx galt der Humanreichtum, der Mensch und die Entfaltung seiner Persönlichkeit als der »wirkliche Reichtum«. Eine Umverteilung von oben nach unten wäre die Konsequenz aus einer alternativen Perspektive, die den wirklichen Reichtum betrachtet.

Die Verteilung des Nettovermögens in Deutschland 2002

Bevölkerungsanteil: Reichtumsanteil in Prozent

Die reichsten 10 Prozent: 58,7
Die ärmsten 10 Prozent: - 1,6 **
Die oberen 50 Prozent: 99,9
Die unteren 50 Prozent: 0,1

** das heißt: mehr Schulden als Vermögen

Quelle: DIW-Wochenbericht 45/2007



* Professor Dieter Klein, geboren 1931, war bis 1989 Prorektor für Gesellschaftswissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin. Er ist Mitglied des Vorstands und Vorsitzender der Zukunftskommission der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Aus: Neues Deutschland, 31. Mai 2008



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