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Über Gewalt in unserer Zeit

Von Yaacov Ben-Chanan*

* Rede auf der Kundgebung zum Antikriegstag am 1. September 2000 auf dem Opernplatz in Kassel

Liebe Freundinnen und Freunde,
wenn ich zu allem, was uns heute hier zusammenführt, in der gebotenen Kürze etwas sagen wollte- Antikriegstag, Rechtsradikalismus, zunehmende Gewalt- könnte ich nur sagen, was wir alle schon wissen, und worin wir uns ohnehin einig sind; sonst stünden wir ja jetzt nicht hier. Darum will ich mich ganz auf die zunehmende Gewalttätigkeit konzentrieren. Als jüdisches Kind habe ich selbst körperliche und seelische Gewalt erlitten. Heute muß ich mich wieder zu jenen zählen, die sich bedroht fühlen. Gewalt hat mein ganzes Leben gezeichnet und ist auch wissenschaftlich eins meiner Forschungsthemen geworden. Mich quält die Frage: Warum tun Menschen einander so etwas an? Wir alle wollen ja etwas gegen diese Gewalt tun. Bevor wir jedoch etwas zu tun versuchen, müssen wir verstehen, woher sie kommt. Sonst verfallen wir leicht in blinden und zugleich ratlosen Aktionismus. Auf die aktuelle Politik komme ich noch. Aber das Wesentliche geschieht in der Gesellschaft immer tief unter der Oberfläche. Dort, an der Wurzel, müssen wir ansetzen, wenn wir verstehen wollen, was geschieht.

Fragen wir also: Wie entsteht ein Gewalttäter?

Gewalttäter werden ja nicht als solche geboren, Gewalttäter werden gemacht. Sie sind ein Produkt der Gesellschaft, zu der sie gehören. Die kleinste gesellschaftlichen Einheit in unserer Kultur ist die Familie. Wie Vater und Mutter miteinander und mit uns als Kindern umgegangen sind, das bestimmt unser Verhalten im ganzen späteren Leben. Vater und Mutter versorgen ihr Kind, denn es kann sich noch nicht selbst versorgen. Vater und Mutter informieren ihr Kind, denn es weiß noch nicht, wie man mit den Menschen und mit den Dingen umgehen muß. Wenn mich niemand versorgt und informiert, kann später aus mir nichts werden. Doch das Entscheidende an der Beziehung zwischen Eltern und Kind ist etwas anderes. Man kann es "Zuwendung und Wahrnehmung" nennen. Mit Zuwendung und Wahrnehmung signalisiere ich meinem Kind: Du bist mir wichtig, Du hast Ge-wicht. Zuwendung und Wahrnehmung sind die beiden Ur- Elemente jeder menschlichen Beziehung, die über bloße Nützlichkeit hinausgeht. Aus Tausenden und Abertausenden solcher ganz alltäglicher, oft winziger Vorgänge von Zuwendung und Wahrnehmung zwischen Vater und Kind, Mutter und Kind, setzt ein heranwachsender Mensch, schon in den ersten Lebensjahren, unbewußt das Mosaikbild seines Ich zusammen. Man kann auch sagen: ein kleiner Mensch bildet, indem seine Eltern ihm zeigen, daß es für sie wichtig ist, sein Wissen von sich, sein Selbst- Bewußtsein. Wir bringen unser Selbstbewußtsein nicht mit, wenn wir geboren werden. Wir lernen es in den ersten Lebensjahren, aus der Fülle der Zuwendungen, die unsere Eltern uns als ihrem Kind schenken, und aus der Aufmerksamkeit, mit der sie uns wahrnehmen mit unserem ganz besonderen Wesen und Bedürfnis. Ohne ein positives Bild vom eigenen Ich kann niemand erwachsen werden.

Wenn nun Eltern ihr Kind zwar versorgen und informieren, ihm aber nur wenig Zuwendung und Wahrnehmung geben können, kann dieser kleine Mensch kein ausreichendes und auch belastbares Wissen von sich selbst entwickeln, also nur wenig Selbstbewußtsein. Er weiß über sich selbst zu wenig, was ihm den Eindruck vermitteln könnte, wichtig und wertvoll zu sein. Mitten im Zentrum der Persönlichkeit bleibt dann ein leerer Raum, ein Loch, ein Defizit. An einem solchen Defizit an Selbstbewußtsein wird dieser Mensch ein Leben lang kranken. Er wird selbst- unsicher bleiben, seiner selbst und seines Wertes zu wenig oder gar nicht bewußt. Weil dieser Mensch als Kind nicht ausreichend wahr- genommen wurde, kann er sich selbst im späteren Leben nicht wahr- nehmen; er hat es nicht gelernt, zu sich selbst zu sagen: "Ich bin ich, und das ist gut." Denn Vater und Mutter haben ihn in der wichtigsten Lernphase seines Lebens, indem sie ihm nicht genug Zuwendung schenkten, von sich den Eindruck, das Bild eingeprägt: ich bin nicht wichtig, ich bin unzulänglich, ich bin eine Null.

Mit einem solchen Loch in der Mitte seiner Persönlichkeit kann niemand leben. Es ist unerträglich, nicht weniger gefährlich als der Mangel an Nahrung, Schlaf oder sexuellem und kreativem Glück. Ein so beschädigter Mensch muß versuchen, sich selbst wichtig zu machen, schon für sich selbst, und dann auch vor Anderen. Weil ich in meinen eigenen Augen eine Null bin, muß ich um jeden Preis versuchen, eine Eins vor die Null zu setzen. Ich muß mich wichtig machen, weil ich nicht glaube, daß ich wichtig bin. Da gibt es viele Ersatzversuche; ich kann sie hier nicht beschreibe.

Wenn aber jemand als Kind zu Hause kaum Zuwendung bekam, seelisch sehr vernachlässigt wurde, kann er nicht einmal die Kraft für solche Ersatzstrategien aufbringen. Der Raum, den beim seelisch gesunden Menschen das Selbstbewußtsein einnimmt, wird bei ihm ganz von dem Gefühl ausgefüllt, ein Versager zu sein. Das ist ein vernichtendes Gefühl; wir anderen können die Tiefe des Leidens daran kaum erahnen. Ein solcher Mensch kann nur hassen. Er haßt sich selbst, weil er sich nicht liebenswert finden kann, und er haßt alles, was rings um ihn intakt ist, denn es spiegelt ihm seine eigene innere Leere. Das ist das Phänomen, das man, wenn es sich gegen Sachen richtet, gegen Telonzellen und S-Bahn- Fensterscheiben und Hauswände, "Vandalismus" nennt.

Doch die Zerstörung von Sachen steht nur stellvertretend für den Wunsch, Menschen zu zerstören. In Mecklenburg- Vorpommern wurde vor kurzem ein junger Gewalttäter verhaftet, der hatte in vier Finger seiner Hand die Buchstaben H-A-S-S eintätowiert: nicht Haß gegen jemand Bestimmten- einfach Haß. Ein solcher Mensch muß, früher oder später, damit beginnen, sich selbst zu zerstören, etwa durch Alkohol oder Drogen, das heißt: er wird zum Gewalttäter gegen sich selbst. Und er muß, zwangsläufig, auch Andere zerstören, die in seinen Umkreis treten, als Schulkameraden, Nachbarn, als Geliebte, als eigene Kinder, er muß sie treten, er muß sie so erniedrigen, daß er- für die Zeit, in der ihm dies gelingt- sich widerlegt fühlen kann: nein, ich bin kein Versager, ich bin ein Sieger! Ob jemand dann ein Asylantenheim anzündet oder einen Dönerstand oder eine Synagoge, ob er sein Kind quält, eine Frau vergewaltigt, der er sich nie werbend zu nähern wagen würde, einen Behinderten in seinem Rollstuhl schlägt oder einen schlafenden Obdachlosen auf einer Parkbank oder einen Punk oder kleinere Mitschüler auf dem Pausenhof oder Menschen, die eine andere Hautfarbe haben als er, ob er nachts auf dem Campingplatz eine Touristengruppe überfällt, die Lehrerin im Unterricht verhöhnt oder die Polizei mit der Schändung eines jüdischen Friedhofs in ihrer Ohnmacht vorführt- in solchen Momenten erlebt er sich befreit von der unerträglichen Demütigung, ein Versager zu sein. Er ist dann, was er nie sein durfte eine ganze Kindheit lang: stark, wichtig, interessant.

Daß die Gewalttäter, die wir sehen oder von denen wir lesen, sich nur an Menschen vergreifen, die sie für schwächer halten als sie selbst, daß sie es oft erst unter Alkohol tun, der ihnen die letzten Hemmungen nimmt, daß sie stets im Dunkeln oder nur zusammen mit zwei, drei anderen, ebenso Beschädigten losschlagen- das alles sind Symptome, die die Diagnose stützen und uns darauf hinweisen, wo der Kern des Gewaltproblems verborgen ist. Die Ursache aber liegt bei jedem einzelnen Gewalttäter in einer frühen Beziehungsstörung. Da fängt es an.

Hier müssen darum alle Überlegungen ansetzen, wie man dem begegnen kann. Hier müssen wir auch politisch einsetzen, an der Ursache, nicht an den Symptomen. Jugendliche Gewalt bricht immer dann in einer Gesellschaft auf, wenn in ihr massenhaft Verlierer entstehen. Nicht die Umstände als solche machen junge Menschen gewaltbereit. Lange anhaltende Arbeitslosigkeit, zum Beispiel, ist eine schwer erträgliche Situation, ich sehe das an meinem jüngsten Sohn, der schon viele Jahre ohne Arbeit ist; aber bei weitem nicht alle Arbeitslosen werden zu Gewalttätern. Auch das Anschauen von Horror- und Gewaltfilmen im Fernsehen macht aus Kindern niemals automatisch Gewalttäter; die seelisch Gesunden unter ihnen bleiben gegen so etwas völlig immun. Natürlich können Filme Jugendliche zu Gewalttaten anregen, ebenso Arbeitslosigkeit; aber immer nur solche, die innerlich bereits gewaltbereit sind Diese Jugendlichen brauchen ein Ventil für ihre angestaute Wut, sie brauchen das Erlebnis, daß sie nicht die Allerletzten sind, daß da noch jemand "unter" ihnen ist, den sie treten können. Und andersfarbige Ausländer oder Juden oder Obdachlose oder Behinderte oder Punks sind in den Augen dieser jungen Menschen die Schwächsten in der weithin in der Gesellschaft gültigen Werteskala. Man kann sie also relativ gefahrlos schlagen- sogar mit heimlicher Zustimmung eines Teils der Gesellschaft- um sich zu beweisen, daß man selbst "ganz unten" denn doch noch nicht steht.

Solche jungen Gewalttäter nennt man heute allzu pauschal "Rechtsradikale". Diese angewendete Bezeichnung, kritiklos angewendet, ist zu oberflächlich und führt leicht in die Irre. Denn der Ausdruck "rechtsradikal", wörtlich genommen, unterstellt bei diesen jungen Menschen eine "rechte" politische Überzeugung, wenn auch eine, die man bekämpfen muß. Solche "Rechtsradikale" gibt es natürlich, zu Tausenden, in jedem europäischen Land und auch in den USA. Asuf die komme ich auch noch. Die Masse der heute gewaltbereiten jungen Menschen, die ich beobachte, hat jedoch überhaupt keine politische Überzeugung, keinen Glauben und keine Hoffnung, weder eine rechte noch eine linke. Fragt sie einmal, fragt sie die einfachsten Fragen, fragt sie nur, was sie denn meinen, wenn sie "deutsch sein" sagen, oder inwiefern denn die "Ausländer" ihnen den Arbeitsplatz wegnehmen- sie werden nichts zu antworten wissen. Da sind keine politischen Konzepte, keine wenn auch noch so verworrene Zielangaben zu erkennen, wie jeder leicht feststellen kann, der sich mit ihnen nur auf fünf Minuten in ein Gespräch einläßt. Das ist auch der Grund, warum wohlgemeinte Aufklärungsaktionen nichts bringen. Es hat überhaupt keinen Sinn, mit ihnen zu argumentieren, sie mit Worten widerlegen zu wollen. Über den Kopf, über "Aufklärung", läuft bei denen nichts. Denn ihre Gewalt kommt nicht ja aus dem Kopf, aus einer durchdachten, wenn auch dummen und bösartigen Ideologie, es kommt aus dem Bauch. Diese jungen Menschen, ich wiederhole es, haben nichts als eine ungeheure Wut im Bauch, weil sie sich als Verlierer sehen; und sie müssen sich Objekte suchen, an denen sie diese Wut auslassen können, ohne ein allzu großes Risiko einzugehen. Nicht ihren Haß auf Ausländer müssen diese jungen Leute darum als erstes abbauen lernen, sondern den darunter wütenden Haß auf sich selbst.

Die wirklichen "Rechtsradikalen", ihre Parteien und Organisationen, die Wehrsportgruppen, die neonazistische Kampfpresse, geben diesen dumpfen Aggressionen nur den Rahmen, unterstützen ihr Bedürfnis, wichtig zu sein, durch ihre Fahnen, Trommeln und Parolen, geben ihnen das Gefühl der Geborgenheit und Zugehörigkeit durch den Gleichschritt ihrer Kolonnen- Ersatz für alles, was ihnen als Kindern vorenthalten blieb. Sie geben ihnen das Gefühl, das sie brauchen: mit ihren Demonstrationen die geltende politische Meinung herauszufordern, die Gesellschaft, die sie hassen, zu provozieren, also ein Held zu sein. Diese Parteien und Gruppen müßten Regierung, Polizei und Gerichte bekämpfen, unerbittlich und mit allen rechtsstaatlichen Mitteln. Diese Nazis bilden im Grunde keine Partei, sie sind eine kriminelle Vereinigung, mit menschenfeindlichen Ideen, die den Geist des Grundgesetzes, schon den Kernsatz: "Die Würde des Menschen ist unantastbar" verhöhnen, und mit großen Waffenarsenalen. Sie sind eine Gefahr für uns alle. Ich kann es nicht fassen, daß eine Ideologie, die in der jüngsten Vergangenheit- viele von uns haben es noch selbst miterlebt und sind ihre Opfer geworden!- so grauenhafte Verbrechen ausgelöst hat, die 55 Millionen Tote über die Welt gebracht hat, allein 20 Millionen im eigenen Volk, ungestört und im Schutz von Polizei und Gerichten auf Deutschlands Straßen und in deutschen Zeitungen wieder verherrlicht werden darf!

Man könnte alles Nötige gegen sie tun, die geltenden Gesetze reichen dazu aus. Aber die Inhaber des staatlichen Gewaltmonopols tun es bisher kaum, und wenn doch, dann zögernd und unzulänglich. Eine Minderheit unter den Polizisten und Richtern sympathisiert sogar erkennbar mit ihnen, sie schauen weg, kommen zu spät, strafen milde. Aber auch maßgebende Politiker habe ich im Verdacht, sie wollen diese echten Rechtsradikalen gar nicht wirklich bekämpfen. Denn beide, die rechtsradikalen Parteien und die konservativ Gesinnten in den demokratischen, haben ja die gleiche schweigende Mehrheit der Deutschen im Auge, die sie für sich gewinnen oder bei sich behalten wollen. In dieser Mehrheit aber gibt es viel Sympathie, nicht so sehr für rechtsradikale Gewalt, aber doch für viele rechtsradikale Ansichten- eine Sympathie, die sich ebenso an den rechten Rändern demokratischer Parteien findet. Wenn nach einer Gewalttat gegen einen Ausländer oder einen anderen wehrlosen Menschen in einer Großstadt am nächsten Tag von Hunderttausenden von Einwohnern kaum tausend einen Protestmarsch machen, wenn in einer S-Bahn ein Farbiger geschlagen wird und zwanzig Leute, die mitfahren, schauen weg, dann ist das doch ein nicht weniger beängstigendes Zeichen für den Zustand der deutschen Gesellschaft als die Gewalttäter selbst es sind. Da ist nicht nur Feigheit im Spiel, oder Hilflosigkeit oder der berechtigte Wunsch, sich selbst zu schützen. Ich sehe darin auch ein Symptom dafür, wieviel unreflektierter und unverarbeiteter, doch höchst giftiger Gefühlsmüll aus der Vergangenheit noch immer in vielen deutschen Seelen gelagert ist. Darum, so vermute ich, geschieht bisher kaum etwas Wirksames zur Beseitigung dieses politischen Nährbodens von Gewalt bei uns.

Ich habe Angst in Deutschland! Und ich habe Angst um Deutschland!

Darin, daß die Gewalt ununterbrochen zunimmt und auch darin, daß die Täter immer jünger werden, zeigt sich ganz allgemein, wie krank unsere ganze Gesellschaft ist. Man spricht, die einen stolz, die anderen kritisch, von der "Leistungsgesellschaft". Das besagt: Menschen werden in ihr vor allem danach beurteilt, was sie leisten und was sie sich leisten können- in der Fabrik, im Büro, in der Politik, aber auch in der Freizeit und im Bett. Nicht nur andere beurteilen uns so; viele lernen sogar, sich selbst so zu beurteilen. Nicht ich als ganzer Mensch werde bewertet, mit der vollen Summe meiner Fähigkeiten und Erfahrungen, Stärken und Schwächen, sondern nur jener abgespaltene Teil von mir, der gerade gebraucht wird. Daß ich jung und dynamisch bin, attraktiv bin, mich anpassen und mich gut verkaufen kann- darauf allein kommt es an, das macht meinen "Marktwert" aus. Umgekehrt: wer nicht genug leistet, wessen Kräfte nachlassen, wer nicht mehr faltenlos schön sein kann, wird ent- wertet, er wird rasch ersetzbar durch einen anderen, noch unverbrauchten. Der Mensch neben mir, sogar der Freund, der nette Kollege, wird, zumindest potentiell, zum Konkurrenten, und ich muß argwöhnisch fragen: Ist er besser? Sticht er mich aus? Nimmt er mir den Platz? Nimmt sie mir den Mann?

Das alles fördert wiederum die Entstehung von Gewalt. Denn es wirkt sich zerstörerisch auf das Zusammenleben von Eltern und Kindern aus. Eltern sind heute, viel mehr als in früheren Zeiten, von Zukunftsängsten erfüllt, und die Ängste reichen tiefer als früher. In solcher Atmosphäre der ständigen Konkurrenz und des nie aufhörenden Leistungsdrucks wird es für sie immer schwerer, sich ihren Kindern noch mit jener gesammelten Aufmerksamkeit zuzuwenden, die diese brauchen, wenn sie sich ihrer selbst bewußt werden, also erwachsen werden sollen. Immer mehr Eltern können gar nicht anders, als ihre eigenen Ängste auf ihre Kinder abzuladen, in Form von Ungeduld, schlechter Laune, Schweigen und Rückzug aus der Beziehung, üben immer stärkeren Leistungsdruck auf sie aus oder vertrösten ihr Bedürfnis nach Zuwendung und Wahrnehmung mit Ersatzbefriedigungen. Die Kinder von heute wiederum sind selbst viel größeren Ängsten ausgesetzt als wir Älteren es früher waren. Wehrlos sehen sie sich den Zerstörungen ausgesetzt, nicht nur in den Beziehungen zwischen Vater und Mutter, also bei denen, die eigentlich ihren Schutzraum bilden sollten, sondern auch ihrer Umwelt, in der sie einmal leben sollen, und alles in einem Alter, in dem sie noch unfähig sind, sich damit auseinanderzusetzen, geschweige denn, sich dagegen zu schützen. Statt des Gefühls, etwas wert zu sein und sich auf ein lebenswertes Dasein freuen zu können, macht sich bei immer mehr Kindern das andere Gefühl breit, daß man schon den eigenen Eltern im Grunde nichts bedeutet, und daß es keine wirkliche Chance für die Zukunft gibt- ein Gefühl, das auch von immer mehr Eltern vermittelt wird, die sich selbst als arbeitslose Väter entwertet sehen oder als alleinerziehende Mütter, die wegen einer Jüngeren verlassen wurden. Ohne weiteres leuchtet dann ein, daß immer mehr selbstunsichere und zu Gewalt bereite junge Leute heranwachsen müssen.

Liebe Freundinnen und Freunde,
ich möchte nicht mißverstanden werden. Was ich gesagt habe, soll Gewalttäter nicht entschuldigen. Ich sehe sie auch nicht als psychisch Kranke; sie sind im strafrechtlichen Sinne für ihre Taten voll verantwortlich. Erst recht will ich uns nicht vom Kampf gegen rechts ablenken. Und schon gar nicht will ich die Gefahr verharmlosen, die von ihnen ausgeht, wie der Herr "Brutalstaufklärer" Koch das in Hessen tut, ohne daß ich je ein Wort der Anteilnahme für ihre Opfer von ihm und seinesgleichen gehört hätte. Nein, diese Menschen sind höchst gefährlich, und wehe dem, den sie als Haßobjekt ausgemacht haben! Uns, die zu den am meisten Gefährdeten gehören, ist es einerlei, aus welchen Motiven einer uns bedroht. Wer Gewalt gegen Menschen anwendet, begeht in jedem Fall ein Verbrechen, und die übrigen Menschen, vor allem die Wehrlosen, müssen vor ihm geschützt werden.. Auch Mitleid für Gewalttäter möchte ich nicht wecken- damit wäre niemand geholfen, auch ihnen nicht. Wecken möchte ich Verständnis. Ohne Verständnis und ohne Differenzierung kann man der zunehmenden Gewalt nicht beikommen und die jeweils angebrachten Gegenmittel nicht schaffen. Mit schärferen Gesetzen und deren konsequenterer Anwendung durch die Richter und durch mehr Polizei kann man die von Gewalt Bedrohten besser schützen, man muß es nur wollen. Doch den braunen Sumpf kann man nur austrocknen, wenn man dafür sorgt, daß er keine Zuflüsse mehr bekommt, und das kann man mit repressiven Maßnahmen nicht erreichen. Die gehen nicht an die Wurzeln heran. Die angestaute Gewalt in den Seelen kann man nicht verbieten. Wenn die Politik aber nicht an die Wurzel des Übels herangeht, wird die Zahl der Gewalttäter schneller anwachsen als die Zahl der Polizisten und Gefängniszellen.

Was müßte man dagegen tun?

Den Kernschaden, der in der Kindheit zu Hause entstand, kann man später kaum noch heilen- wenn man unter "heilen" versteht, daß woedeer ganz wird, was kaputt gegangen war. Man kann nur versuchen, das Leiden daran soweit zu mildern, daß dennoch auch diese Jugendlichen ein sinnvolles Leben erreichen und damit aus der Masse der Gewalttäter wieder herausfinden. Erreichbar wird das nur, wenn diese jungen Menschen sich nicht selbst überlassen bleiben, jener Langeweile, aus der heraus jene drei in Dessau einen Deutschafrikaner totschlugen. Die Schulen könnten zur Milderung des Gewaltpotentials junger Menschen viel beitragen. Dazu müßten aber mehr Lehrer in kleinen Klassen arbeiten, damit sie den einzelnen Schüler in seiner je eigenen Bedürftigkeit wahrnehmen und sich ihm zuwenden können. Der Konkurrenzkampf um die Zeugnisse mit all der damit verbundenen Angst müßte abgeschafft werden. Die Stundenpläne müßten radikal verändert und Fächer, in denen es nicht so sehr auf Leistung ankommt, sondern auf die Entfaltung seelischer Kräfte und die Entlastung von seelischem Druck, also Kunst, Musik, Sport und Spiel, müßten verstärkt angeboten werden, statt sie immer mehr einzuschränken.

Vor allem müßten genug Jugendfreizeitheime da sein, in denen sie diese Zuwendung und Wahrnehmung erleben, in denen sie spielend lernen können, ein besseres Selbstbild zu gewinnen, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen; und die ihnen vermitteln, was sie zu Hause nicht mehr genügend bekommen, aber vor allem brauchen: nämlich die Erfahrung, dennoch ein "Jemand" zu sein. Vertrauen erleben, sich angenommen fühlen, Verantwortung für sich und andere übernehmen, mit Wut umgehen lernen, mit Aggressionen, mit Grenzen- das wären die wichtigsten Aufgaben solcher pädagogisch geleiteter Freizeiteinrichtungen, die eine Regelschule kaum übernehmen kann. Indem sie, unter fachkundiger Leitung, Aufgaben zu lösen lernen, handwerkliche, sportliche, künstlerische, können sie dort an sich selbst erfahren: ich bin kein Versager. Ich kann etwas tun, was zählt. Und das, was ich hier tue, ist "mein Ding", und ich kann stolz darauf sein. Ich muß mich nicht mehr hassen. Und dann muß ich auch andere nicht mehr schlagen.

Und schließlich: die bereits gewalttätig gewordenen jungen Menschen, die nach geltendem Recht verurteilt werden müssen, dürften nicht in normale Gefängnisse kommen, sondern müßten in besonderen, pädagogisch- therapeutischen Einrichtungen für einen Beruf ausgebildet werden, vor allem aber, soweit das noch möglich ist, sich selbst annehmen lernen können. Die Fachleute, die dazu gebraucht würden, sind da. Sozialarbeiter, Kulturpädagogen und Lehrer sitzen zu Tausenden arbeitslos herum. Jugendheime werden überall geschlossen, weil das Geld anderswohin fließt. Lehrpläne von Schulen, zunehmend auch von Universitäten, werden allein nach der wirtschaftlichen Kosten- Nutzen- Rechnung gestaltet, und der Leistungsdruck dort wächst ständig. In den Gefängnissen fehlen pädagogisch und psychologisch geschulte Mitarbeiter, und die wenigen, die sich abmühen, sind überfordert.

Das alles kostet viel Geld, wenn auch längst nicht so viel wie Scharpings Eurofighter oder eine kleine "friedenschaffende" Kriegsexpedition. Das ist die tagespolitische Seite des Problems: die Regierenden sagen, sie schafften Frieden irgendwo weit weg; aber sie sparen, wenn es gilt, den Frieden zu schaffen im eigenen Land. Soviel Geld, wie man heute für die vielen gefährdeten oder schon kaputten Jugendlichen brauchte, kann nur durch eine Neuordnung der Prioritäten bei der Haushaltsplanung gewonnen werden- und ebenso mit einer energischen Bekämpfung der unglaublichen Verschwendung von Geld, wie sie der Bundesrechnungshof jedes Jahr wieder anprangert, leider meist folgenlos, auch mit einer schärferen Kontrolle vermutlicher Steuerhinterzieher. Jeder wird verstehen, daß man mit den knapp gewordenen Mitteln sparsam umgehen muß. Daß Politiker aber an dem Kostbarsten sparen, das ein Volk hat, an der eigenen Jugend, wird sich bitter an ihnen selbst rächen. Das Land wird, geht die Entwicklung so weiter, immer unregierbarer werden. Die Politik, die gegenwärtig in Deutschland gemacht wird, besonders was die Menschen in den ostdeutschen Ländern angeht- ich wiederhole es- ist nicht die Ursache für die zunehmende Gewalt, aber sie bereitet den Nährboden für immer neue Gewalt- einen viel fruchtbareren als die Propaganda der Rechtsradikalen. Denn sie bewirkt, ob sie dies will oder nicht, eine zunehmende soziale und menschliche Verelendung, in der immer mehr Menschen gewaltbereit werden. Wie die ungebremste Wohlstandsgesellschaft Müllberge erzeugt, mit denen sie kaum noch fertig wird, erzeugt die konsequent durchgeformte Leistungsgesellschaft immer mehr junge Menschen, die für ein normales Leben nicht mehr tauglich sind.

Was können wir selbst tun?

Ich sehe drei Dinge, die wir tun können:

Erstens darüber nachdenken, was wir in unseren eigene Familien, als Eltern, Großeltern, Geschwister oder FreundInnen, verändern können, um einander besser wahrzunehmen und uns einander liebevoller zuzuwenden;
zweitens, wenn schon die öffentliche Hand sich versagt, die persönlichen Initiativen von Einzelnen und solche von, Bürgerinitiativen, Kirchgemeinden und Vereinen stärken, indem wir ihre Arbeit mit Spenden unterstützen oder ehrenamtlich mitarbeiten. Keine Stadt, kein Dorf in Deutschland dürfte ohne solche aktiven Bürgerinitiativen bleiben. Jeder gutwillige Mensch muß begreifen lernen, daß nicht nur wir Ausländer oder Juden bedroht sind, sondern auch sie selbst und ihre Kinder. Besonders die Kirchgemeinden hätten hier eine wichtige Aufgabe;
und schließlich drittens den Politikern noch mehr Druck machen, damit sie sorgfältiger nachdenken und konsequenter handeln, nicht nur für Unterdrückung von Gewalt mehr Geld ausgeben, sondern vor allem für Vorbeugung. Der "Druck der Straße", wie Politiker das oft arrogant nennen, muß noch viel stärker werden- gewaltfrei, aber unüberhörbar. Er ist die einzige Sprache, die sie verstehen.

Dies alles können wir tun. Dann wollen wir es auch tun! Es ist höchste Zeit! Sonst könnte es uns eines Tages ergehen wie der Generation, der Brecht in seinem "Leben des Galilei" zugerufen hat:
"Daß es nicht, ein Feuerfall,
Einst verzehre noch uns all.
Ja, uns all."


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