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"Die Errichtung einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel"

Lehren aus Krieg und Faschismus für die Zukunft Europas ziehen

Rede auf einer Veranstaltung zum Antikriegstag am 1. September 2005 in Duisburg.


von Dr. Ulrich Schneider, Kassel

Morgen begehen wir den 60.Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges – ja Sie haben richtig gehört.

Nicht der 8.Mai 1945, den wir zurecht als Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg begangen haben, sondern der 2.September ist das tatsächliche historische Datum des Kriegsendes. An diesem Tag unterzeichnete die japanische Militärführung auf dem amerikanischen Schlachtschiff „Missouri“ vor US-General MacArthur die Kapitulationsurkunde.

Damit endete das letzte blutige Kapitel der Geschichte des Zweiten Weltkrieges, der am 1.September 1939 durch den Überfall der deutschen faschistischen Truppen auf Polen ausgelöst wurde. Dabei dürfte auch hier bekannt sein, dass dieser Überfall die letzte Stufe auf dem militärischen Weg in den Krieg war, dessen Stationen u.a. der Anschluss Österreichs im März 1938, die völkerrechtswidrige Annektion des Sudentengebietes im Herbst 1938 und die militärische Besetzung der Tschechei im Frühjahr 1939 waren. All diese Fakten sind bekannt, sie sollten aber gerade an einem Tag wie diesem nicht vergessen werden, war doch der Weg in den Krieg keine politische „Einbahnstraße“, sondern geprägt durch das Handeln oder richtiger das Nicht-Handeln der internationalen Staatengemeinschaft. Appeasement -Politik wurde dies später genannt.

Die Bilanz dieses Krieges – und damit dieser Politik – ist verheerend. Über 55 Millionen Tote des Krieges – Soldaten und Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder – unendliche Zerstörungen im Vernichtungskrieg, wobei die Sowjetunion und Polen die Hauptlast der Vernichtung zu tragen hatten.
Die angeblich zivilisierte Welt entwickelte barbarische Formen der Kriegsführung. Der deutsche Faschismus praktizierte einen rassistisch begründeten Vernichtungskrieg. Auch der japanische Militarismus verband seine Expansionspolitik mit rassistischen Verfolgungen gegenüber Chinesen und Koreanern. Die Technik des Krieges erlebte Massenvernichtungswaffen, Flächenbombardements – beginnend mit der Zerstörung von Guernica, Rotterdam und Coventry, später erreichten diese Bombardements auch die deutsche Zivilbevölkerung. Am Ende des Krieges setzten amerikanische Militärs bei dem Abwurf auf Hiroshima am 6.August 1945 und Nagasaki am 9.August zum ersten Mal Atombomben ein, eine Vernichtungswaffen, die auch 60 Jahre nach ihrem Einsatz noch tötet, indem sie Menschen mit schweren genetischen Schäden, die auch Generationen später noch ihre Wirkungen zeigen, zurückließ. Das war die Bilanz, die schon im Jahr 1945 gezogen werden konnte.

Doch das Jahr 1945 war auch geprägt durch eine andere Tendenz, nämlich dem Versuch politische Konsequenzen zu ziehen, die eine Wiederholung dieser Menschheitskatastrophe ausschließen sollten.
Im Frühsommer 1945 wurden die Vereinten Nationen begründet. Anders als der frühere Völkerbund sollte hier ein Instrumentarium entstehen, dass eine internationale Kraft darstellte und in der Lage sein sollte, gegen militärische Drohungen nicht-militärische Konfliktlösungen durchzusetzen. Dass dieses Instrument später auch zur Durchsetzung militärischer Interessen missbraucht wurde, ist bekannt. Dies widerspricht aber nicht der ursprünglichen politischen Zielstellung. Als grundlegendes Dokument der Neuorientierung ist besonders das Potsdamer Abkommen vom Juli/ August 1945 anzusehen. Hierbei handelt es sich beileibe nicht allein um eine Vereinbarung der „Großen Drei“ Churchill – später Attlee – Stalin und Truman, wie man manchmal lesen kann. Es war vielmehr die schriftliche Fixierung der politischen Zielvorgaben für eine friedliche Nachkriegsentwicklung in Deutschland und Europa.

Grundlegend wurden die territorialen Verhältnisse geordnet, indem die Grenzverläufe der vom deutschen Faschismus okkupierten und aufgelösten Staaten Polen und der Tschechoslowakei neu fixiert wurden. Dass dies zu Lasten des deutschen Reiches und der ehemaligen deutschen Bevölkerung ging, konnte nach den verheerenden Zerstörungen und der Kriegspolitik niemanden überraschen. Dabei ließen sich die Siegermächte von den Forderungen nach Stabilität der politischen Verhältnisse und der Klarheit der Grenzen leiten, was auch durch Umsiedlungen erreicht werden sollte.

Aber nicht allein territoriale Klarstellungen standen auf der Tagesordnung. Es ging auch um politische Neuorientierungen für einen antifaschistisch-demokratischen Neuanfang im Jahr 1945. Dabei waren die nachfolgenden politischen Prinzipien nicht allein Orientierungen für Deutschland, sondern sollten als gesellschaftspolitische Perspektiven auch in anderen Ländern gelten.

Es waren dies die bekannten „Großen D’s“:
  • Denazifizierung – es ging um die Ausschaltung des Faschismus aus allen gesellschaftlichen Bereichen, nicht nur um die Auflösung der NSDAP und aller ihrer Nebenorganisationen oder vergleichbarer faschistischer Organisationen in anderen Ländern. Es ging um die Wiederherstellung des Völkerrechts durch die juristische Ahndung der Massenverbrechen.
  • Demilitarisierung – natürlich sollte der faschistische Militärapparat zerschlagen werden. Dazu gehörte aber auch die Zurückdrängung des Militarismus im ideologischen und politischen Sektor. Demilitarisierung war aber auch eine Hoffnung für alle befreiten Staaten, die damit Ressourcen frei hatten für den Wiederaufbau ihres Landes und der eigenen Volkswirtschaften.
  • Demokratisierung – dieser Begriff erklärt sich sofort. War doch der erste Schritt bei der Errichtung der faschistischen Herrschaft – nicht allein in Deutschland – die Vernichtung aller demokratischen Rechte und Freiheiten, die Einschränkung der Presse- und Redefreiheit, der Rechte des Parlaments etc. Wirkliche Demokratie ist ein wirksamer Schutz vor faschistischer Barbarei.
  • Dezentralisierung – dieser Begriff ist eng mit Demokratie verbunden, war doch das Deutsche Reich ein Musterbeispiel für bürokratische und preußische Obrigkeitstraditionen, die jenes Hierarchieverständnis förderte, das später im „Befehl und Gehorsam-Prinzip“ die Grundlage für die Beteiligung großer Teile der Bevölkerung an der Vernichtungspolitik des deutschen Faschismus darstellte.
  • Die fünfte Leitlinie war die Demonopolisierung – eine Forderung, die sich aus der politischen Erkenntnis ergab, dass die großen Konzerne und Banken mit ihrem politischen Einfluss den deutschen Faschismus überhaupt erst an die Macht gebracht und dieses terroristische Regime für ihre Interessen aktiv genutzt haben – eine Erkenntnis, die auch noch in den Landesverfassungen von Hessen und Nordrhein-Westfalen ihren Niederschlag fand.
Diese Prinzipien sollten – wie gesagt – nicht nur für die politische Umgestaltung Deutschlands gelten, sondern ebenfalls Orientierungsrahmen für einen antifaschistischen Neuanfang in allen europäischen Ländern sein. Es waren dies Forderungen, die nicht an ein spezifisches Gesellschaftsmodell gebunden waren, die damit die Möglichkeit der Einbindung breiter gesellschaftlicher Kräfte eröffneten.

Dabei entstammten diese Vorstellungen nicht erst dem Jahre 1945. Es ist vielmehr so, dass dies die Zielvorstellungen der Frauen und Männer waren, die sich in Deutschland und in anderen europäischen Ländern gegen die faschistische Bedrohung zur Wehr gesetzt haben. Entstanden sind diese Forderungen in den Debatten der Antifaschisten unterschiedlicher politischer Orientierung in der Illegalität, in den Haftstätten und Konzentrationslagern.

Der ehemalige Duisburger Gewerkschafter Willy Schmidt, manche von Ihnen werden sich noch gut an ihn erinnern, gehörte beispielsweise zu den politischen Häftlingen des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald, die am 19. April 1945, gut eine Woche nach der durch die Häftlinge vollbrachten Selbstbefreiung des Lagers, jenen legendären „Schwur von Buchenwald“ formulierten. Im Namen von über 20.000 geretteten Häftlingen, unter ihnen über 900 Kindern und Jugendlichen, formulierten Überlebende aus 32 Nationen: „Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor dem Gericht der Völker steht. Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung, die Errichtung einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel!“. Im Programm des Volksfrontkomitees des KZ Buchenwald wurden diese Zielvorstellung konkretisiert und auf politische Handlungsfelder heruntergebrochen.

Auch in anderen Lagern, z.B. im KZ Mauthausen, in Sachsenhausen und Dachau gab es ähnliche Vorschläge für politische Zukunftsentwürfe.

So entstanden Visionen für jene „neue Welt des Friedens und der Freiheit“, einer neuen europäischen Ordnung, die meines Erachtens ungebrochene Aktualität besitzt. Sie könnten die Grundlagen für ein demokratisches und soziales Europa bis heute bilden. Wenn wir uns den Europäischen Einigungsprozess jedoch betrachten, müssen wir festhalten, dass sich diese Traditionslinie in keiner Weise hierin niederschlägt, auch nicht im Prozess der Formulierung eines Entwurfes einer europäischen Verfassung. Dabei ist es nicht nur eine „Nebenbemerkung“, dass es doch gerade dem Handeln der Antifaschisten, dem Handeln der Anti-Hitler-Koalition zu verdanken ist, dass überhaupt die Chance einer demokratischen Entwicklung in Europa eröffnet wurde.

Zu dieser Anti-Hitler-Koalition gehörten die Angehörigen der Streitkräfte der Alliierten, die die faschistische Bedrohung militärisch zerschlugen. Von besonderer Bedeutung waren – und diese Aussage gebietet die historische Wahrhaftigkeit – die Angehörigen der sowjetischen Armee, die die Hauptlast des Krieges trugen.
Zu ihnen gehörten die Partisanen in allen vom deutschen Faschismus okkupierten Ländern. Es waren Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter, es waren aber auch bürgerliche Demokraten, Konservative, selbst Monarchisten, die ihr Leben einsetzten für die Freiheit ihrer Heimat.

Teil dieser Anti-Hitler-Koalition waren auch deutsche Antifaschisten, die illegal in Deutschland, in den Reihen der Partisanen oder gemeinsam mit den alliierten Streitkräften für die Befreiung ihres eigenen Landes kämpften.
Sie alle gemeinsam haben die Grundlagen der Befreiung gelegt. Sie haben das Fundament des neuen Europas geschaffen. Doch davon findet sich im Entwurf der europäischen Verfassung kein Wort.
Die FIR und ihre Mitgliedsorganisationen haben in verschiedenen Initiativen in den vergangenen Jahren immer wieder darauf gedrängt, dass Antifaschismus in die Präambel und im Kerngehalt des Verfassungsentwurfs aufgenommen werden. Leider ohne Erfolg. Der Konvent hat sich als „beratungsresistent“ erwiesen. Vielmehr wurden Zielvorstellungen formuliert, die mit der Erfahrung der Völker aus dem antifaschistischen Kampf in keiner Weise harmonierten. Den Antifaschisten ging es um Demilitarisierung und soziale Gerechtigkeit.

Doch die Vorstellungen des Konvents waren auch nicht deckungsgleich mit den Forderungen der Menschen, die in Volksabstimmungen zur europäischen Verfassung befragt wurden. In Frankreich und den Niederlanden stimmten deutliche Mehrheiten – oftmals auch mit klar antifaschistischer Begründung – gegen diesen Entwurf. Dies eröffnet die Möglichkeit einer Wiederaufnahme der politischen Diskussion, in der auch die Stimme ehemaliger Widerstandskämpferinnen und -kämpfer Gehör finden sollte. Wir werden – trotz konservativer Dominanz im europäischen Parlament – auch weiter darauf hinweisen, dass ein demokratisches Europa eigentlich das Resultat des antifaschistischen Handelns der Völker ist.

In diesem Zusammenhang ist es besonders zu begrüßen, wenn im 60.Jahr der Befreiung von Faschismus und Krieg auch derjenigen gedacht wird, die durch ihr Handeln in den Reihen des europäischen Widerstandskampfes zur militärischen Niederlage des deutschen Faschismus und damit zur Befreiung der Völker und auch des eigenen Landes beigetragen haben. Sie sind Beispiele für Mut und Zivilcourage – Charaktereigenschaften, die an solchen Gedenktagen zurecht immer wieder eingefordert werden. Sie können damit Vorbild für heutige Generationen sein.

Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen Gedanken zu den gegenwärtigen friedenspolitischen Aufgaben formulieren. Dabei soll es nicht um die einzelnen militärischen Konfliktfelder im Irak, Nahen Osten oder auf dem Balkan gehen.

Zum 65. Jahrestag des Kriegsbeginns im letzten Jahr formulierte die FIR in einem Aufruf:

Wir erleben, dass Konflikte in der Welt in erster Linie militärisch gelöst werden. Verletzungen von Menschenrechten, selbst Massenmorde werden vor dem Hintergrund von Rohstoffinteressen bewertet. Es geht nicht mehr um „eine neue Welt des Friedens und der Freiheit“, wie sie die Überlebenden, die Widerstandskämpfer, Deportierten und Internierten 1945 wollten. Es geht allein um Rohstoffreserven und die Durchsetzung von Machtinteressen. Das Selbstbestimmungsrecht von Völkern wird dabei missachtet.
Als „Botschafter des Friedens“ rufen wir die UNO, die internationalen Organisationen und gesellschaftlichen Kräfte auf, Initiativen für eine neue internationale Friedenspolitik zu entwickeln. Dazu gehören die Anerkennung des Existenzrechtes aller Staaten sowie die Durchsetzung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung.
Auch die Staaten der Europäischen Union können ihren Beitrag dazu leisten, wenn sie einer Militarisierung der Außenpolitik, wie sie in der neuen Verfassung zu finden ist, eine Absage erteilen.


Dies sind Perspektiven, die dem friedenpolitischen Wollen der Mehrheit der Menschen entsprechen. Dies sind Perspektiven, auf die wir uns gemeinsam verständigen können – in der Tradition des antifaschistischen Kampfes für die Schaffung einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit.


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