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50 Jahr Bundeswehr:

Deutschlands Re-Militarisierung: Durch Integration zur Emanzipation

Von Werner Ruf*

Die Angst vor dem deutschen Militarismus, der zwei Weltkriege vom Zaune gebrochen hatte, saß der Welt am Vorabend der westdeutschen Staatsgründung noch im Nacken. Deshalb schlossen die westeuropäischen Kriegsgegener des Deutschen Reiches schon vor Gründung der Bundesrepublik ein gegen das wieder entstehende Deutschland gerichtetes Verteidigungsbündnis: den Brüsseler Pakt – ein Bündnis, das weltweite Zuständigkeit vorsah. Doch da kam, wie ein Geschenk des Himmels, der sich verschärfende Ost-West-Konflikt. Dennoch scheiterten 1952 die deutschen Wiederbewaffnungspläne im Rahmen der EVG am französischen Parlament. Erst die bundesdeutsche NATO-Mitgliedschaft brachte im Jahre 1954 die Möglichkeit, wieder eine (west-)deutsche Armee aufzustellen. Zwar war der deutsche „Verteidigungsbeitrag“ gewünscht, aber zugleich war das Misstrauen noch immer wach: Die deutschen Truppen waren die einzigen, die voll dem NATO-Oberkommando unterstellt wurden – ganz nach der saloppen Formel, die der erste NATO-Generalsekretär, Lord Dismay als Aufgabe der NATO formulierte: „Keep the Russians out, the Americans in, the Germans down.“ Und jener Brüsseler Pakt, dessen Mitglieder ja seit 1949 auch NATO-Mitglieder waren, wurde umbenannt in West-Europäische Union, die antideutschen Passagen wurden gestrichen, die BRD wurde Mitglied, die Organisation trat ihre militärischen Kompetenzen an die NATO ab und war hinfort für die Kontrolle der Deutschland auferlegten Rüstungsbeschränkungen zuständig.

Aber es war jene WEU, die von der BRD zum Instrument ihrer weiteren Emanzipation gewählt wurde, war sie doch in diesem Bündnis eine stärkere Macht als in der NATO. Anlässlich des dreißigsten Jahrestages, sechs Jahre vor Ende des Kalten Krieges, erklärte der Konferenzvorsitzende, der damalige bundesdeutsche Außenminister Genscher: „Die WEU wird sich künftig mit allen wichtigen sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen befassen, in denen sich eine gemeinsame europäische Haltung empfiehlt.“ Und an die Adresse der NATO und der USA richtete er die Forderung: „Wir wollen aber auch gehört werden.“ Folgerichtig schrieb der Vertrag von Maastricht erstmals eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU fest, die „sämtliche Fragen (umfasst), welche die Sicherheit der Union betreffen“. Und bald darauf, am 19. Juni 1992, wurden der WEU die so genannten Petersberg-Aufgaben zugewiesen, die auch „Kampfeinsätze“ – natürlich zur Herstellung des Friedens – umfassen. Diese WEU ist inzwischen in der EU aufgegangen und deren militärischer Arm geworden. Der bisherige Höhepunkt der Emanzipation der EU von NATO und USA war die „Operation Artemis“, als im September 2003 eine EU-Truppe unter Führung Frankreichs und mit logistischer Unterstützung der Bundeswehr, gestützt auf ein Mandat der Vereinten Nationen, zum ersten Mal unter einem gemeinsamen und von der NATO unabhängigen Oberkommando im Kongo militärisch intervenierte. Das US-Außenministerium spuckte Gift und Galle, ebenso der US-Botschafter bei der NATO. So unbedeutend die Operation militärisch auch war: Der Präzedenzfall war geschaffen, die EU ist endlich militärisch handlungsfähig, unabhängig von NATO und den USA – und zwar (wie schon im Brüsseler Vertrag vorgesehen): weltweit!

Aber Deutschland ist ja weiterhin bündnispolitisch eingebunden, nun sogar doppelt: nicht nur in der NATO, sondern auch in der EU. Und die beiden deutschen Staaten haben im 2 + 4 –Vertrag, der Voraussetzung für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten war, auf die Verfügung über Massenvernichtungsmittel verzichtet. Wo also soll das Problem sein? Deutschland ist Friedensmacht, wie dies der Verteidigungsminister und sein zu olivgrün mutierter Kollege Joseph Fischer immer wieder betonen. Und dieses Deutschland hat in den vergangenen sieben Jahren einer mit Friedensparolen angetretenen Koalition seine Friedenswilligkeit doch wahrlich unter Beweis gestellt: Kein Jahr verging bis zur aktiven Beteiligung am völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien. Deutsche Truppen stehen heute in aller Welt: Mehr als zehntausend Soldaten sind im Einsatz in Kosovo, Bosnien, Mazedonien, am Horn von Afrika, in Afghanistan, wo sie – so der sozialdemokratische Verteidigungsminister - unsere Heimat am Hindukusch verteidigen.

Die Militarisierung der EU, ihre zunehmende Abkoppelung von der NATO geben Deutschland ein anderes Gewicht und eine andere Rolle: Zu Ende ist die Zeit, als es noch möglich war, „die Deutschen unten“ zu halten! Darum geht es: Deutschland als zentrale Wirtschaftsmacht Kerneuropas beginnt – 50 Jahre nach Gründung der Bundeswehr – wieder eine Führungsrolle in einer militarisierten EU zu spielen, in der es nicht mehr abhängig ist von der Aufsicht eines großen Bruders. Deutschland ist inzwischen führend in allen großen Rüstungsvorhaben, die – unter wechselnden Beteiligungen – von EU-Staaten vorangetrieben werden: Beim „militärischen Airbus A 400M. bei den spätestens 2009 einsatzbereiten Marschflugkörpern MAW Taurus und anderen Modellen, bei den Meteor und Iris-T Luft-Luft Kurz- und Mittelstreckenraketen (2008), bei den neuen Klasse von Fregatten, die schon im nächsten Jahr einsatzfähig sein sollen, ebenso wie eine neue Klasse von (atomwaffenfähigen) U-Booten. Und im nächsten Jahr sollen die gemeinsam mit Frankreich entwickelten Helios II Aufklärungssatelliten bereit stehen. Herzstück des Rüstungsprogramms aber ist das Galileo - Satellitennavigationssystem, das für eine moderne, punktgenaue Kriegführung aus großer Distanz unverzichtbar ist. Galileo macht die EU (oder diejenigen, die in ihr Krieg führen wollen) endlich unabhängig vom Wohlwollen der USA und deren GPS: Ja, wir sind wieder wer – aber sind uns immer noch die Hände gebunden durch die Mitgliedschaft in der EU? Vor dem Hintergrund der deutschen Rolle und Dominanz in Europa werden die Bestimmungen des Art. I – 41 des EU-Verfassungsvertrags deutlich, die da zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sagen:
  • (3) „Die (!) Mitgliedstaaten, die zusammen multinationale Streitkräfte aufstellen, können diese auch (!) für die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik zur Verfügung stellen.“
  • (5) „Der Rat kann … eine Gruppe von Mitgliedstaaten mit der Durchführung einer Mission im Rahmen der Union beauftragen.
  • (6) „Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander weiter gehende Verpflichtungen eingegangen sind, begründen eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit.“
Ja, wer wohl erfüllt diese Anforderungen, wer wohl besitzt diese Fähigkeiten, wenn nicht die deutsch-französische Achse, die bei der Abfassung der Artikel über die GASP federführend war? Dies zeigt bereits die Aufstellung der bis zum nächsten Jahr gleichfalls einsatzfähigen Battle Groups, Einheiten von je 1.500 Soldaten, die binnen 15 Tagen einsatzfähig sein sollen. Aber, es stimmt: Selbst im Verbund mit Frankreich ist Deutschland noch immer nicht allein und souverän handlungsfähig, verfügt es doch weiterhin nicht über die zur Großmacht qualifizierenden Massenvernichtungsmittel wie z. B. Atomwaffen. Genau hier aber liegt der Kern der unheiligen deutsch-französischen Allianz! Frankreich ist derzeit dabei, seine Nuklearstreitkräfte zu modernisieren: Bis 2008 wird es neue atomare Langstreckenraketen mit einer Reichweite von 6 bis 8000 km besitzen, Schon 2007 soll eine neue Generation von Mittelstreckenraketen bereit stehen. Und es ist daher kein Zufall, wenn schon Frankreichs Präsident Mitterrand von der Möglichkeit der „Integration der französischen force de frappe in eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungsallianz“ gesprochen hat. Wen wundert da noch, dass das deutsche Verteidigungsministerium schon 1994 in seinen Konzeptionellen Leitlinien zur Weiterentwicklung der Bundeswehr“ die „nukleare Teilhabe“ eingefordert hat???

Das Konzept „Emanzipation durch Integration“ entpuppt sich nach einem halben Jahrhundert als der erfolgreiche Weg jener, die noch immer glauben, mit militärischen Mitteln zur Großmacht aufsteigen zu können. Sieht man von den britischen Truppen im Irak ab, so stellt Deutschland schon heute das größte Kontingent der weltweit agierenden Truppen unter den EU-Mitgliedstaaten. Und die Terminierung der zentralen Rüstungsprogramme zeigt, dass die angestrebte Führungsrolle Deutschlands in Europa spätestens in drei bis vier Jahren abgeschlossen sein soll. Was dann aus diesem einstmals als Friedensmacht gedachten Europa werden soll, zeigt die Europäische Sicherheitsstrategie, die das Recht auf präventive Kriegführung beansprucht, sieht doch die „Verteidigungsplanung“ vor, dass ab 2008 50% der europäischen Streitkräfte außerhalb der EU einsatzfähig sein sollen.

Das aber ist nicht jenes Europa, das wir gestalten wollen! Das ist nicht der Kern jener deutsch-französischen Freundschaft, die fast zweihundert Jahre Erbfeindschaft beseitigt hat! Das kann und darf nicht jenes Deutschland sein, das angetreten ist mit dem programmatischen Bekenntnis „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ Und nach dem Scheitern des Ratifizierungsprozesses jener EU-Verfassung gibt es einen Schimmer der Hoffnung, diesen Militarisierungsprozess zu stoppen, und Europa zu einem internationalen Akteur zu machen, der nicht das schießwütige Konzept der Pax Americana imitiert sondern die Probleme dieser Welt mit zivilen Mitteln löst. Deshalb ist Friedenskampf heute nicht mehr zu beschränken auf den Kampf gegen Militarisierung – er muss auch die Konfliktursachen wie Armut, Elend, Seuchen und Umweltzerstörung bekämpfen. Der Kampf für eine friedlichere Welt ist daher zugleich ein Kampf gegen den Neoliberalismus und die von diesem verursachte Anarchie in Politik und Wirtschaft. Gerhard Schröder sollten wir danken, dass er uns diese vorgezogenen Wahlen beschert hat. Und wir sollten dabei dafür sorgen, dass eine starke Opposition die Militarisierungspolitik der letzten Jahre in Berlin wie in Brüssel zu stoppen vermag. Das – und nichts Anderes - ist verantwortliche deutsche Politik.

* Dr. Werner Ruf, Prof. für Internationale Beziehungen, AG Friedensforschung an der Uni Kassel;
Bei dem Manuskript handelt es sich um eine Rede, die Werner Ruf auf einer Veranstaltung zum Antikriegstag 2005, am 1. September, in München hielt.



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