Naturwissenschaftler- und Juristenvereinigungen sind überzeugt, daß das von den USA geplante neue Raketenabwehrsystem National Missile Defense (NMD) das Wettrüsten neu anheizen wird. Die Installierung dieser Waffen und die Militarisierung des Weltraums bedrohten den Frieden und die internationale Sicherheit, heißt es in einem am Wochenende verabschiedeten »Göttinger Appell«. Die Teilnehmer eines Kongresses in der Unistadt forderten in dem Appell das Verbot der Entwicklung, Erprobung und Stationierung von Weltraumwaffen durch eine Weltraum- Konvention.
Die Konferenz wurde von der Naturwissenschaftler- Initiative »Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit«, den Juristinnen und Juristen gegen atomare, biologische und chemische Waffen sowie den Göttinger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für Frieden und Abrüstung ausgerichtet. Auch die PDS-Bundestagsabgeordnete Heidi Lippmann war bei der Tagung zugegen. Der Appell soll auch international verbreitet werden.
Nachdem die USA unter dem Kürzel »SDI« schon in den achtziger Jahren Milliarden in die Entwicklung und Erforschung von Systemen zur Abwehr ballistischer Raketen investierten, will Präsident Clinton noch in diesem Jahr endgültig den Startschuß für die Einführung einer Light- Version des Raketenabwehrsystems geben. Der republikanische Präsidentschaftskandidat George W. Bush hat die National Missile Defense (NMD) zu einem Schwerpunkt seiner Außenpolitik erklärt, der demokratische Kandidat Al Gore hält ebenfalls an dem Programm fest.
Auslöser der neuen Raketendebatte war der 1998 erschienene Bericht der nach ihrem Vorsitzenden benannten Rumsfeld-Kommission. Danach seien Länder wie der Iran oder Nordkorea innerhalb von fünf Jahren in der Lage, die USA mit Interkontinentalraketen anzugreifen. Der Bericht machte allerdings weder Angaben über die Wahrscheinlichkeit dieser Entwicklung noch Vorschläge für politische Reaktionen. Der Rüstungslobby, den Geheimdiensten und den Konfrontationsstrategen in der Politik reichte das Szenario allerdings aus, um eine erfolgreiche Kampagne zugunsten von NMD zu lancieren.
Während die Reagan-Administration beim SDI-Programm den Schwerpunkt auf weltraumgestützte Waffensysteme und science-fiction-mäßig anmutende Strahlenwaffen legte, soll sich NMD auf eine Abwehr vom Boden aus konzentrieren, verbunden mit einem Frühwarn- und Steuerungssystem im Weltraum. Schnellfliegende Abfangraketen sollen anfliegende Sprengköpfe in großer Höhe außerhalb der Atmosphäre durch Zusammenprall zerstören. Die Realisierung der NMD- Architektur ist in drei Phasen geplant. Ab 2003 sollen schrittweise zunächst in Alaska, dann in Nord-Dakota insgesamt 250 Raketen stationiert werden. Parallel dazu ist geplant, die Frühwarnsatelliten und -radars zu modernisieren. Allein die Investionskosten werden auf mehr als 100 Milliarden Dollar geschätzt.
Im Jahr 2011, hoffen die NMD-Planer, könnte das gesamte System installiert sein. Dagegen spricht allerdings die ernüchternde Testbilanz. Bislang gelang es nämlich selbst unter künstlichen Versuchsbedingungen nicht, eine einzelne anfliegende Interkontinentalrakete, deren Anflug und Kurs bekannt war, mit Abfangraketen halbwegs verläßlich zu treffen. Für die nächsten sechs Jahre sind deshalb 20 weitere Abfangtests geplant.
Eine Stationierung der NMD bedeutet nach Ansicht der kritischen Wissenschaftler mit ziemlicher Sicherheit das Ende des ABM-Raketenabwehrvertrages zwischen den USA und Rußland. In dem Abkommen hatten die Partner, damals noch die UdSSR, ausdrücklich auf die Entwicklung und Stationierung einer landesweiten Raketenabwehr verzichtet. NMD komme deshalb einem »Vertragsbruch« gleich. Zur Vermeidung eines Atomkrieges müsse dieses Abkommen unbedingt erhalten und auf alle Staaten ausgeweitet werden, heißt es im »Göttinger Appell«.
Die ohnehin in einer Krise steckende atomare Abrüstung könnte vollends zum Stillstand kommen, Rußland und China die Modernisierung ihrer nuklearen Arsenale forcieren. Da NMD auch Weltraumkomponenten enthält, werde einer weiteren Militarisierung des Weltalls Vorschub geleistet.
Reimar Paul
Aus: junge welt, 7. Oktober 2000