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Zurück in den Kalten Krieg?

Russland bereitet Antworten gegen US-Raketenabwehr vor

Von Viktor Litowkin, Moskau *

Am 18. April finden bei einem Treffen des Russland-Nato-Rats in Oslo Konsultationen über das geplante US-Raketenabwehrsystem statt.

Je näher der Termin heranrückt, bei dem die Notwendigkeit einer Stationierung von Segmenten des US-Raketenabwehrsystems in Osteuropa behandelt wird, desto schärfer gestaltet sich die Diskussion in europäischen und US-Medien wie auch in Wortgefechten zwischen Offiziellen aus Russland, den USA und anderen Staaten.

Die britische „Financial Times“ veröffentlichte dieser Tage bereits den zweiten Artikel des russischen Außenministers Sergej Lawrow innerhalb von zwei Wochen. In seinem Beitrag mit dem Titel „Europas Raketenabwehr: Ein kollektives Projekt?“ versucht der Minister zu überzeugen, dass eine Umsetzung der einseitigen Raketenabwehr-Pläne die geostrategische Landschaft Europas wesentlich verändern und die Interessen des Alten Kontinents in der Sicherheitssphäre beträchtlich schaden wird. Er ist der Auffassung, dass die Argumente Washingtons, laut denen iranische Raketen Europa und die USA bedrohen, haltlos sind. Teheran habe keine Möglichkeit, die europäischen Staaten und die USA mit seinen Raketen zu bedrohen und wird diese Möglichkeit in absehbarer Zeit auch nicht haben.

Einen ähnlichen Standpunkt äußerte auch der russische UN-Botschafter Vitali Tschurkin. „Eine Stationierung strategischer Bestandteile der amerikanischen Militärinfrastruktur in den Ländern, die in der Nähe russischer Grenzen liegen, muss Beunruhigung hervorrufen und verlangt von uns Gegenmaßnahmen“, stellte er in einer Sitzung der UN-Abrüstungskommission fest. „Sie würde das strategische Gleichgewicht in der Welt stören und zur Schaffung eines Potentials für den entwaffnenden Erstschlag beitragen.“

Einen ähnlichen Gedanken äußerte auch Dmitri Peskow, stellvertretender Pressesekretär des russischen Präsidenten Wladimir Putin. „Wir fühlen uns betrogen“, sagte er. „Wir wurden über diese Pläne nicht im Voraus informiert. Potentiell werden wir Alternativen dazu schaffen müssen, allerdings mit einem geringeren Aufwand und einer höheren Qualität“, sagte er.

Die US-Pläne, „das eigene Territorium mit einem europäischen Schild zu schützen“, wurden in der westlichen Presse von Konstantin Kossatschow, Vorsitzender des auswärtigen Staatsduma-Ausschusses, vom namhaften russischen Raketenabwehrexperten Generalmajor a. D. Wladimir Belous und anderen Militäranalysten kritisiert.

Zugleich veröffentlichte „The Guardian“ dieser Tage einen Artikel, laut dem „Russland auf das Raketenabwehrsystem mit einem neuen Kalten Krieg antworten will“. Die US-amerikanische Zeitung „The Christian Science Monitor“ behauptete, Russland will die europäischen Länder in Bezug auf die Stationierung der US-Raketenabwehrbasen in Polen und Tschechien „entzweien“. Den Anhängern der US-Pläne schloss sich auch NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer an. Wie er erklärte, stellen ein knappes Dutzend US-Gegenraketen keine Bedrohung für Russland dar, das über Hunderte von strategischen Raketen und Tausende von Nukleargefechtsköpfen verfügt.

Wie wir sehen, hat die Perspektive einer Stationierung der US-Raketenabwehr in Europa bereits einen psychologischen und Informationskrieg mit Angriffen, Gegenangriffen, Täuschungsmanövern und Sonstigem ausgelöst, was realen Kampfhandlungen ähnlich kommt. Noch vor der Tagung des Russland-Nato-Rates droht dieser Krieg, den Kontinent zu spalten. Dabei wird nicht nur ein tiefer Graben zwischen Russland und der EU gezogen - zwischen einzelnen politischen Kräften in Europa wird ebenfalls Zwist gesät. Bei weitem nicht alle europäischen Länder unterstützen den Entschluss Washingtons. In einigen Ländern gibt es sogar Meinungsverschiedenheiten zwischen Mitgliedern derselben Regierungen hinsichtlich der Folgen einer solchen Stationierung.

Auffallend sind auch die Verdrehungsversuche und die Anwendung doppelter Standards bei den Bemühungen, den US-amerikanischen Verbündeten zu unterstützen und Russland zu ärgern. So widerspiegelt die Überschrift in „The Guardian“ - „Russland droht mit einem neuen Kalten Krieg“ - nicht die Position des Kremls. Dies ist keine Drohung: Moskau muss an die Folgen denken, die eine Stationierung des US-Raketenabwehrsystems in Europa nach sich ziehen würde, sowie daran, dass die Verantwortung für die damit verbundene radikale Verschlechterung der Beziehungen zwischen Moskau und Brüssel nicht den Kreml, sondern die EU und die NATO treffen würde.

Die von den russischen Diplomaten und Militärexperten dargelegten Argumente zerschlagen völlig die Behauptungen von Vertretern der US-Administration und der NATO, laut denen „die US-Raketenabwehrbasen in Polen und Tschechien harmlos sind und ausschließlich dem Schutz vor Schurkenstaaten dienen werden“. Moskau ist davon überzeugt, dass dies nicht stimmt. Bei der Tagung des Russland-Nato-Rates in Oslo wird die russische Seite erneut ihre Argumente anführen.

Zugleich ist man sich in Moskau dessen völlig bewusst, dass keine überzeugenden und denkbar offen dargelegten Argumente die Maschinerie der US-Militärindustrie stoppen würde, da eine Stationierung der Raketenabwehr-Segmente in Europa sowie auf anderen Kontinenten und im Weltraum überaus große Dividenden bringen würde. Die europäischen Metropolen müssen aber klar sehen, wer die Verantwortung für die Untergrabung von Stabilität und Ruhe in ihren Staaten trägt.

Entgegen den Erwartungen und sogar Hoffnungen Washingtons und Brüssels wird sich Russland nicht zu einem Rüstungswettlauf provozieren lassen. Es hat genug Mittel, um die Herausforderung des US-Raketenabwehrsystems adäquat und asymmetrisch zu erwidern.

Es ist den Europäern überlassen, ob sie ins Visier der russischen Atomraketen geraten wollen. Moskau droht nicht, es mahnt nur vor seinem Gegenangriff. Eine andere Alternative wird ihm einfach nicht gelassen.

* Viktor Litowkin ist Kommentator der Zeitung „Unabhängige Militärrevue“ (Nesawissimoje wojennoje obosrenije).
Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 17. April 2007:
http://de.rian.ru



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