"Die Rüstungsfirmen nehmen die Aufträge gerne mit"
Der amerikanische Physiker Ted Postol über das US-Raketenabwehrsystem
Die Frankfurter Rundschau brachte am 22. Februar 2001 ein Interview mit dem bekannten Physiker Ted Postol vom renommierten MIT-Massachusetts Institute of Technology in Boston. Postol macht aus seiner Ablehnung des US-Raketenabwehrsystems keinen Hehl und hat dafür eine Menge Gründe. Schade, dass Außenminister Fischer den Rat nicht beherzigt hat, den Postol an die Partner Amerikas richtete: Sie sollten der US-Regierung Bescheid sagen, wenn sie im Begriff ist einen Fehler zu begehen. Aus dem Interview, das für die FR Rolf Paasch führte, dokumentieren wir einige ausgewählte Argumente, die für die politische Diskussion hier zu Lande von allgemeinem Interesse sind.
Zur "Bedrohungssituation", in der sich die USA angeblich befinden:
"Die Bedrohung scheint mir deutlich übertrieben. Wenn sich theoretisch ein Szenario entwerfen lässt, dass ein Land unter bestimmten Bedingungen Interkontinentalraketen (ICBMs) entwickeln könnte, dann braucht dieses Land dazu in Wirklichkeit eine industrielle Basis, um die Raketen zu bauen. Ohne kräftige Hilfe von außen wäre das praktisch unmöglich. Vor diesem Hintergrund bleibt die Eigenproduktion einer ICBM durch ein Land wie Nordkorea auf absehbare Zeit sehr, sehr unwahrscheinlich."
Und was so genannte "Schurkenstaten" wie Libyen, Irak, Iran oder Syrien angeht, meint Postol:
"Die können Europa heute schon mit einer Autobombe erreichen. Nicht die Raketen, sondern die Verfügung über Massenvernichtungswaffen wären das Problem. Die in den USA begonnene Debatte über NMD hat eine existierende, aber äußerst eng definierte Bedrohung ungeheuer aufgeblasen, während andere Gefahrenszenarien weitaus wahrscheinlicher sind."
"Wenn die Verbreitung von Atomwaffen unsere Hauptsorge ist - was sie sein sollte -, dann müssen wir uns auf diplomatische und wenn nötig militärische Mittel besinnen, sie einzuschränken. Dies erfordert die Zusammenarbeit mit verschiedenen Regierungen und die Kooperation mit den USA, die hoffentlich weitergeht, auch wenn die Rhetorik der Bush-Regierung den Europäern hier berechtigte Sorgen macht."
Schutz durch 'boost phase defense', die so funktionieren soll, dass die feindlichen Raketen noch während ihrer angetriebenen Flugphase abgeschossen werden sollen?
"Diese Systeme versprechen mehr Erfolg, weil sich dagegen nicht so leicht Gegenmaßnahmen oder Täuschungskörper entwickeln lassen. Das von uns am MIT untersuchte 'boost phase'-System könnte - auf Schiffen vor der nordkoreanischen Küste stationiert - eine in Richtung USA abgefeuerte ICBM abfangen. Diese Systeme werden in jedem Fall sehr kostspielig und nicht leicht zu implementieren sein - und das gegen eine zweifelhafte Bedrohung."
Die "boost phase"-Systeme zum "Schutz Europas" ".. wären im östlichen Mittelmeer auf Schiffen oder besser an Land im Osten der Türkei aufzubauen. Von hier aus hätte man vier bis fünf Minuten, um eine Rakete aus Irak zu erwischen. Das ist theoretisch genug, aber nicht viel Zeit."
NMD unterläuft internationales Rüstungskontrollregime
".. das wirkliche Problem ist, dass die USA mit dem Bau einer NMD das internationale Rüstungskontrollregime der letzten 40 Jahre unterminieren werden. Die Europäer sollten deswegen Washington danach fragen, wie es garantieren will, dass das internationale Sicherheitsumfeld nach der Entwicklung von NMD besser sein wird als derzeit. Der gegenwärtige Zustand mag mit vielen Problemen behaftet sein. Aber die jetzt diskutierten NMD-Pläne werden China und Russland zu Maßnahmen zwingen, die Europas und Amerikas Sicherheit in Zukunft gefährden. Ich kann den Europäern nicht sagen, was sie zu tun haben. Aber der beste Freund ist derjenige, der dir Bescheid sagt, wenn du im Begriff bist, einen Fehler zu machen."
"NMD wird scheitern, aber es wird auch nicht verschwinden. Auch wenn noch nicht klar ist, was der Rhetorik der Bush-Regierung folgt und was vom US-Kongress zugelassen wird: Ohne die einschränkende Wirkung des ABM-Vertrages dürfte die Entwicklung von NMD zu einer Expansion der chinesischen Nuklearstreitmacht führen, was wiederum Indien und Pakistan zu Aufrüstungschritten zwingen wird. So könnte es durch die Aufstellung eines Systems, das gar nicht funktioniert, aber in einer unbestimmten Zukunft mit seinen Fähigkeiten droht, zu einer Zunahme der Atomwaffen kommen."
Zu einem möglichen "Deal" mit Russland und China:
"Es ist keineswegs sicher, dass es zu einer solchen Einigung mit Moskau kommt. Aber mit China wird es keinen Deal geben können. Denn Peking wird mit seinen wenigen ICBMS selbst dann betroffen sein, wenn NMD nur zum Teil funktioniert. Dabei sind die Chinesen viel mehr an der Entwicklung ihrer Volkswirtschaft als am Bau weiterer Interkontinentalraketen interessiert. Sie haben zwar in den vergangenen Jahren ihr Raketenarsenal modernisiert, aber dies in einer konzentrierten und nicht expansiven Weise. China hat kein Interesse an einem neuen Wettrüsten, aber es wird zulegen, wenn es glaubt, die USA nicht stoppen zu können."
"Die Sicherheitsdebatte in den USA ist fast ausschließlich durch innenpolitische Motivationen bestimmt. Es begann mit dem Missile Defense Act von 1998 im US-Kongress, den die Republikaner gegen den durch die Lewinsky-Affäre geschwächten Präsidenten Bill Clinton durchbrachten. NMD stellt eine allein aus innenpolitischer Taktik entwickelte strategische Wahrnehmung dar, welche für die ungerechtfertigte technologische Euphorie verantwortlich ist, die wir gegenwärtig bei der neuen Regierung beobachten können."
"Die Rüstungsfirmen nehmen die Aufträge gerne mit und fördern die Dynamik. Natürlich lässt sich mit NMD Geld verdienen. Aber die Hauptantriebskräfte der Raketenabwehr sind Ideologie und politischer Opportunismus."
"Die Regierung Bush lebt in einer Illusion, die sich aus einem fast religiösen Glauben an die Technologie, nicht aber aus dem Verständnis ihrer Grenzen nährt. Dabei ist die genaue Kenntnis der technologischen Machbarkeit Voraussetzung für den Erfolg jeder Verteidigungsstrategie. Diese Leute wollen eine Raketenabwehr bauen, die auf einem grundsätzlichen Missverständnis dessen beruht, was Technologie überhaupt leisten kann."
"... Wenn Leute an verrückten Dingen arbeiten, die einfach nicht funktionieren können, dann untergräbt das eher die Qualität der Beschäftigten in der Rüstungsindustrie."
Zu den angeblichen "Spinn-off-Effekten" durch Rüstungsforschung:
"Ich halte nichts von dem 'dual use'-Argument. Es gibt eine Reihe sehr nützlicher dualer Anwendungen, wie in der Radar-Technologie, die in den USA ein beeindruckendes Niveau erreicht hat. Aber das sind nur wenige hochspezialisierte Bereiche. Der zivile High-Tech-Sektor ist in den USA so vielseitig und innovativ, dass hier aus dem Rüstungssektor kaum noch zusätzliche Anstöße zu erwarten sind."
Alle Zitate aus dem Interview mit Ted Postol, Frankfurter Rundschau, 22. Februar 2001
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